Die Liebe zum Großen Bruder PDF Drucken E-Mail

George Orwells „1984” und die Frage nach der Macht

Seit anderthalb Jahrzehnten* ist es eigentümlich still geworden um George Orwells berühmten Roman „Nineteen Eighty-Four“(1). Es ist, als hätte das Verstreichen des Jahres 1984, ohne dass es zur weltweiten Machtergreifung totalitärer Parteien und zur endgültigen Aufteilung der Welt unter drei Superstaaten gekommen wäre, den vermeintlichen Prophezeiungen Orwells jeden Reiz und jede Relevanz genommen. Ein halbes Jahrzehnt später tat dann der Untergang des osteuropäischen Realsozialismus ein Übriges, um jede Warnung vor der Bedrohung von Freiheit und Menschenwürde durch „oligarchischen Kollektivismus” als obsolet erscheinen zu lassen.
Allerdings bekommt es dem Orwellschen Text durchaus, wenn er nicht mehr als die Schreckensvision einer unvermeidlich eintretenden Zukunft gelesen wird, als die er nie gedacht war, sondern als zeitbedingte Auseinandersetzung mit bestimmten Entwicklungen einerseits und als grundsätzliche Analyse dessen, was es heißt, ein Mensch unter den Bedingungen einer Totalisierung des Politisch zu sein, andererseits. Wenn es sich bei „1984“(2), wie sein Autor(3) meinte, um „eine Utopie in Romanform“(4) handelt, dann gewiss nicht im Sinne einer präzisen Prognose oder eines futurologischen Schauermärchens. Vielmehr ging es George Orwell, dessen Anspruch es stets war, „in künstlerischer Form politisch zu schreiben“(5), bei der Niederschrift von „Nineneteen Eighty-Four” nach eigenem Bekunden darum, „die geistigen Implikationen des Totalitarismus mit den Mitteln der Parodie aufzuzeigen“ (nach Crick, S. 738).
Bevor ich mich nun näher mit dem, was Orwell die „geistigen Implikationen” nennt, befasse, scheint es mir ratsam, auf das Reizwort „Totalitarismus“ näher einzugehen, um zu verhindern, dass manche Leser oder Leserinnen dieser marxistischen Zeitschrift* spätestens an dieser Stelle die Lektüre meines Textes abbrechen.

Exkurs: Orwells Antikommunismus
In gewissen linken Kreisen hatte „1984“ nie einen guten Ruf. Gleich bei seiner Veröffentlichung 1949 traf es der offizielle Bannfluch der kommunistischen Weltbewegung. Zu deutlich erkannte man im schnurrbärtigen Gesicht des Großen Bruders den Genossen Stalin wieder und im Ministerium für die Liebe die Staatssicherheitsbehörden der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.
Zugegeben, George Orwell war Antikommunist. Aber dabei handelte es sich nicht um eine Art Schrulle oder einen Persönlichkeitsdefekt (wie bei seinem nachdrücklichen Patriotismus, seinen Anflügen von Rassismus und sogar Antisemitismus, seiner massiven Schwulenfeindlichkeit). Orwells Gegnerschaft zum Kommunismus war vielmehr durch und durch politisch motiviert und beruhte auf persönlicher Erfahrung. Gerade als überzeugter Sozialist kritisierte Orwell die autoritären Praktiken anderer Sozialisten. „Sein Zorn über die Kommunisten richtete sich nicht nur gegen ihre Despotie, ihren verschwenderischen Umgang mit Menschenleben sowie ihre Verachtung der Freiheit, sondern auch gegen ihre Diskreditierung des demokratischen Sozialismus.“ (Crick, S.16) Orwell hatte als unabhängiger Linker auf republikanischer Seite am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen; die unmittelbare Anschauung, die er dabei vom Verleumdungs-, Verdrängungs- und Vernichtungskampf der spanischen und sowjetischen Kommunisten gegen die Anhänger anderer linker Richtungen erhielt, überzeugte ihn davon, „dass die Zerstörung des sowjetischen Mythos wesentlich ist, wenn wir die sozialistische Bewegung wiederaufleben lassen wollen“ (Orwell, zitiert nach Crick, S. 603).
Erst aufgrund seiner desillusionierenden, geradezu am eigenen Leib erlebten Erfahrungen gelangte Orwell wie viele andere Linke zu der Erkenntnis, „dass, wie schrecklich und paradox dies auch sein mochte, Stalinismus und Faschismus sowohl in Stil als auch Methode Gemeinsamkeiten aufwiesen“ (Crick, S. 456). Um diese Gemeinsamkeiten gegenüber den selbstverständlich bestehenden Unterschieden hervorzuheben, bediente sich Orwell (wie zahlreiche andere Autoren seiner Zeit auch; Crick verweist auf Borkenau, Koestler, Malraux und Silone) des zugegebenermaßen fragwürdigen Ausdrucks „Totalitarismus.
„Orwell hatte seinen Totalitarismusbegriff erstmals nach seinem Entkommen aus Spanien formuliert. Er stellte die These auf, sowohl im Stalinismus als auch im Nationalsozialismus seien Entwicklungen im Gange, die der Erhaltung und Ausdehnung der Macht durch die innere Partei-Elite dienten. Dies führe dazu, dass der Staat die gesamte Gesellschaft mobilisiere, als gelte es einen endlosen totalen Krieg zu führen, und diese Gemeinsamkeit der Entwicklung sei bedeutsamer als die verkümmernden und nur dem Namen nach antagonistischen Ideologien.” (Crick, S. 27)
Mag „Totalitarismus“ in späterer Zeit zum Schlagwort im sogenannten Kalten Krieg geworden sein — der Ausdruck geht übrigens wohl auf die Selbstilisierung von Mussolinis Italien als „stato totalitario“ zurück —, zunächst sollte er dazu dienen, konkrete Erfahrungen zu reflektieren und im Namen des Sozialismus vor dessen Entstellung und Pervertierung durch den real existierenden Stalinismus zu warnen.
George Orwells bekannteste, in diesem Sinne antikommunistische Bücher waren „Animal Farm“ („Farm der Tiere“) und eben „Nineteen Eighty-Four“ — beide in den vierziger Jahren geschrieben, demnach zu einer Zeit, in der Großbritannien und die USA noch mit der Sowjetunion verbündet waren, vom Kalten Krieg also noch keine Rede sein konnte. Der antisozialistische Gebrauch, der von seinen Texten dann sehr bald vor allem in den USA gemacht wurde, überraschte und empörte Orwell. Man kann ihm in dieser Hinsicht Naivetät und ein gewisses Maß an Unbedachtheit vorwerfen. Für ihn selbst hingegen war es freilich ganz entschieden so: „Mein letzter Roman [„1984“] ist NICHT als Angriff auf den Sozialismus (…) gemeint (…)“ (nach Crick, S. 764).

„1984“ lesen
Wer sich also heute noch einer Lektüre von „1984” mit dem Argument verweigert, dabei handle es sich doch bloß um die antikommunistische Polemik eines Kalten Kriegers, muss entweder Orwells sozialistisches Selbstverständnis der Unaufrichtigkeit zeihen — oder nach wie vor den sowjetischen Kommunismus der dreißiger und vierziger Jahre verteidigen. Nach 1989 aber sollte wohl endgültig der Weg frei geworden sein für eine unvoreingenommene Lektüre, die an „1984” das zu entdecken bemüht ist, was heute noch erhellend und brauchbar ist.
Einiges davon möchte ich im Folgenden herausarbeiten. Meine Überlegungen stellen allerdings keine literarwissenschaftliche Studie dar. Auch ist es im Rahmen eines Zeitschriftenbeitrages unmöglich, die Fülle der in „1984“ angesprochenen oder unausgesprochen enthaltenen politischen und philosophischen Probleme zu erörtern. Ich werde mich daher im Folgenden darauf beschränken, den Text unter einer einzigen, ihm selbst entnommenen Fragestellung zu lesen: Was ist Macht? Wie wird sie ausgeübt — und vor allem warum? Diese Frage wird zum Problem möglichen und unmöglichen Widerstands führen, die Themen des gesunden Menschenverstands und der Sexualität streifen und sich zuletzt als offene Frage nach der Liebe zum Großen Bruder erweisen.
Zunächst aber ist es wohl sinnvoll, zur Erinnerung (oder ersten Begegnung) eine Skizze dessen zu geben, was im Roman geschieht. Im Jahre 1984 lebt der neununddreißigjährige Winston Smith im ziemlich heruntergekommen London. Drei totalitäre Superstaaten (Ozeanien, Eurasien, Ostasien) haben die Welt unter sich aufgeteilt. Der Alltag ist von Kriegszustand und Entbehrung geprägt. Über allem herrscht die allmächtige Partei, die durch Propaganda und Terror das Leben jedes einzelnen fest im Griff hat. Ihr Führer oder genauer ihre Verkörperung ist der Große Bruder. Die Gesellschaft ist streng hierarchisch in drei Klassen aufgeteilt: es gibt die Mitglieder der Inneren und der Äußeren Partei und die Proles. Winston Smith, Mitglied der Äußeren Partei, arbeitet in einer der vier einzigen Behörden Ozeaniens, im sogenannten Wahrheitsministerium, das unter anderem mit dem ständigen, der jeweiligen Gegenwart angepassten Umfälschung aller Zeugnisse der Vergangenheit befasst ist, um so die Unfehlbarkeit der Partei zu sichern. Winston beginnt immer stärker, an den offiziellen Glaubenssätzen zu zweifeln, er glaubt entgegen der Parteipropaganda an objektive Wahrheit und sehnt sich nach der vorrevolutionären Vergangenheit, an die er freilich nur noch eine schwache Erinnerung besitzt. Schließlich beginnt er eine selbstverständlich verbotene Liebesbeziehung mit der um dreizehn Jahre jüngeren Julia. Die beiden entscheiden sich dafür, Widerstand zu leisten, und werden auch tatsächlich auf ihren Wunsch hin vom hohen Parteifunktionär O’Brien in die geheimnisumwitterte „Bruderschaft“ der Parteigegner aufgenommen. Noch bevor sie freilich mehr tun können, als „das Buch”, also die grundlegende parteifeindliche Abhandlung „Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus” zu lesen, werden sie von der Gedankenpolizei verhaftet. Winston erfährt Erniedrigung und Folter. O’Brien entpuppt sich als fanatischer Anhänger der Partei und der Macht. Durch Folter und Gespräche will er Winston, den er bereits seit sieben Jahren überwacht, „heilen“, denn die Partei verlangt die vollständige Bekehrung der Gedankenverbrecher, bevor sie sie unweigerlich vernichtet. Am Ende hat Winston alles verraten, was er zuvor geliebt und woran er geglaubt hatte, Julia und den gesunden Menschenverstand inbegriffen. Er überlebt als gebrochener Mann, der tatsächlich daran glaubt, dass zwei und zwei fünf ist, wenn die Partei es so will. Folgerichtig lautet der Schlußsatz des Romans: „Er liebte den Großen Bruder.” (273)(6)

Totale Herrschaft der Partei
Zu den beeindruckendsten und erschreckendsten Passagen von „1984“ gehören die Darstellungen des Terrors, der gegen alle Bewohner Ozeaniens, besonders aber gegen die Mitglieder der Äußeren Partei, beständig ausgeübt wird. Es gibt keinerlei Möglichkeit selbstbestimmter Lebensführung. Die Partei vereinnahmt jeden Augenblick des Tages. Ihre ebenso primitive wie suggestive Propaganda ist allgegenwärtig. „Das Schreckliche (…) war nicht, dass man gezwungen wurde, mitzumachen, sondern im Gegenteil, dass es unmöglich war, sich der Wirkung zu entziehen.“ (16) Eine unausgesetzte Überwachung aller wird nicht nur durch anonyme und weitgehend im Verborgenen agierende Institutionen wie die Gedankenpolizei durchgeführt, sondern außerdem überwacht jeder jeden — auch sich selbst. Die Parteimitglieder sind darin geschult, alles zu glauben und für gut zu befinden, was die Partei vorgibt, auch wenn es dem Augenschein oder der Logik widerspricht. Schon der leiseste Zweifel an den Vorgaben der Partei wird als Gedankenverbrechen gebrandmarkt.
Diese totale, monolithische, lückenlose Herrschaft der Partei über alle Lebensbereiche ist ein Gedankenexperiment (oder, mit Orwells Worten, ein „Mittel der Parodie“), eine Fortschreibung dessen, was zu Orwells Zeit allenfalls in, wenn auch grauenhaften, Ansätzen realisiert wurde. Keines der damaligen als totalitär bezeichneten politischen Systeme, weder Hitlerdeutschland noch die UdSSR unter Stalin, vermochten tatsächlich eine so umfassende Kontrolle und widerspruchslose Ordnung zu verwirklichen. Im Gegenteil, gerade die mangelnde Geschlossenheit der Machtausübung verbürgte ihre dynamische Stabilität, denn in der verwirrenden Vielfalt der Zuständigkeiten, in der hemmungslosen Konkurrenz der Institutionen, in der unvorhersehbaren Willkür der Entscheidungen hatte der einzelne erst recht kaum eine Chance, sich zu wehren, zu entkommen oder anders als im Sinne des Regimes zu agieren.
„Im entschiedensten Gegensatz zur populären Auffassung, die den autoritären Systemen Entschlusskraft und Durchsetzungsvermögen nachrühmt, ist es denn auch die größere Nähe zum Chaos, die sie von anderen Formen der staatlichen Organisation unterscheidet, und alles Ordnungsgepränge nicht zuletzt ein Versuch, die herrschaftstechnisch motivierte Konfusion hinter grandiosen Fassaden zu verbergen. (…) [Hitler:] ‘Man muss die Menschen sich reiben lassen, denn durch Reibung entsteht Wärme, und Wärme ist Energie.’ Doch verschwieg Hitler, dass es verbrauchte Energie war, wovon er sprach, herrschaftstechnisch neutralisierte Kraft, die Keine Bedrohung darstellte. (…) Nicht zu Unrecht hat man diesen Führungsstil als ‘institutionellen Darwinismus’ gekennzeichnet und die verbreitete Auffassung seiner größeren Effizienz die ‘Lebenslüge’ aller autoritären Systeme genannt.“(7) Der „organisatorische Dschungel des NS-Regimes“(8) besaß ebenso wenig wie das Terrorsystem Stalins und seiner willigen Vollstrecker die auf ihre Weise wieder erschütternde Transparenz der Herrschaft des Großen Bruders.

Mangel und Macht
Zwar erfahren wir in „1984” nichts Genaueres über die Organisation des politischen System. Allenfalls der Umstand, dass auch hohe Parteifunktionäre nicht davor gefeit sind, in Ungnade zu fallen, zu „Unpersonen“ erklärt und „vaporisiert“ zu werden, gestattet die Annahme, dass interne Machtkämpfe die Dynamik des Regimes mitbestimmen. Aber auch in anderer Hinsicht ist George Orwells Modell totaler Herrschaft ist keineswegs so geschlossen, einheitlich und effizient, wie es angesichts des eindrucksvoll geschilderten Ineinandergreifens von Propaganda, Terror und Selbstkontrolle scheinen könnte: „Ein großer Teil des Lebens spielte sich, selbst für ein Parteimitglied, auf einer neutralen und unpolitischen Ebene ab und bestand darin, sich mit langweiliger Arbeit abzuplagen, sich einen Platz in der Untergrundbahn zu erobern, eine zerrissene Socke zu stopfen, eine Sacharintablette zu erbetteln, einen Zigarettenstummel aufzubewahren. Das von der Partei angestrebte Ideal war etwas Großes, Schreckliches, Gleißendes (…) Die Wirklichkeit aber waren zerfallende, heruntergekommene Städte, durch deren Straßen unterernährte Menschen in durchlöcherten Schuhen schlichen und in deren notdürftig ausgebesserten Häusern aus dem neunzehnten Jahrhundert wohnten, wo es immer nach Kohl und schadhaften Aborten roch.“ (70)
Gerade in der Allgenwart des Mangels, der Versagung und des erzwungenen Verzichts zeigt sich die Macht der Partei. In diesem Sinne ist der jämmerliche Alltag keineswegs „neutral“ und „unpolitisch“. Als durch Resultat der Politik der Partei lässt er zum einen jeden die eigene Endlichkeit verspüren. Zum anderen gibt er den größtmöglichen Widerspruch zu den Behauptungen der Partei ab, die offiziell die Produktion unaufhörlich steigert, die Lebensbedingungen unentwegt verbessert und überhaupt von Sieg zu Sieg voranschreitet — Behauptungen, die von denen, die es besser wissen, gerade deshalb geglaubt werden müssen, weil sie falsch sind.
Und sie werden auch tatsächlich geglaubt. Die Zustimmung der Parteimitglieder zur Herrschaft der Partei ist nicht geheuchelt, kein Lippenbekenntnis, sondern innerste Überzeugung. Das ist vielleicht das entsetzlichste Element in Orwells Modell: Dass die Beherrschten ihrer eigenen Ausbeutung, Erniedrigung und Verhöhnung zustimmen — und zwar wider besseren Wissens und doch mit ganzem Herzen.
Den Widerspruch von Propaganda und Realität, von offizieller Darstellung und eigener Anschauung gleichzeitig wahrzunehmen und zu leugnen, diese Kunst nennt Orwell Zwiedenken: „Zwiedenken bedeutet die Gabe, gleichzeitig zwei einander widersprechende Ansichten zu hegen und beide gelten zu lassen.“ (197) Die in „1984” geschilderten Anwendungen mögen extrem sein, der Sache nach jedoch war und ist Zwiedenken durchaus eine gern geübte Praxis, nicht nur in totalitären Systemen der Vergangenheit, sondern auch noch in heutigen politischen Organisationen …

Produktivität und Widerstand
In keinem Fall aber gibt sich die Partei „zufrieden mit negativem Gehorsam” (234). Sie verlangt eben nicht bloß Unterwerfung, sondern Einwilligung in die Unterwerfung. Die Macht der Partei ist nicht bloß repressiv, sondern auch produktiv(9). Oder, wie O’Brien, Winstons Folterer und Lehrmeister es formuliert: „Das Gebot des alten Despotismus lautete: ‘Du sollst nicht.’ Das Gebot der totalitären Systeme hieß: ‘Du sollst.’ Unser Gebot ist: ‘Sei.’“ (235) Die Parteimitglieder sind nicht lediglich passive Opfer eines grausamen, von außen auf sie einwirkenden Terrorregiments, sie sind zugleich immer auch mehr oder minder eifrige Agenten des von ihnen getragenen Systems und damit auch sich selbst als bereitwillige Subjekte konstruierende Akteure desselben.
George Orwells „1984” kehrt die zentrale These von Thomas Hobbes „Leviathan“ um: Der machtvolle Staat ist nicht der Garant dessen, dass die Menschen möglichst gewaltfrei miteinander leben können. Vielmehr hat die totale Herrschaft der Partei den Krieg aller gegen alle zum Dauerzustand erhoben, indem sie ihn in der Form der Bespitzelung und Denunziation, der wechselseitigen und der Selbstkontrolle institutionalisierte. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf: jedem Menschen, auch sich selbst. Indem Hass und Angst die Grundlagen des Zusammenlebens sind, ist die Herrschaft derjenigen gesichert, die über die Mittel verfügen, Hass und Angst zu kanalisieren, zu instrumentalisieren und beides überhaupt beständig zu erzeugen.
Die Funktion des oligarchischen Kollektivismus aber ist es, einer kleinen Clique, den Mitgliedern der Inneren Partei, zu ermöglichen, einem nicht enden wollenden „Rausch der Macht” (ebd.) zu frönen. „Die Macht ist kein Mittel. Sie ist ein Endzweck. Eine Diktatur wird nicht eingesetzt, um eine Revolution zu sichern: sondern man macht eine Revolution, um eine Diktatur einzusetzen. Der Zweck der Verfolgung ist die Verfolgung. Der Zweck der Folter ist die Folter. Der Zweck der Macht ist die Macht.” (242) Und Macht versichert sich ihrer selbst am nachdrücklichsten dadurch, andere leiden zu lassen: „Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft ausmalen wollen“, sagt O’Brien zu Winston, „dann stellen Sie sich einen Stiefel vor, der in ein Menschenantlitz tritt — immer und immer wieder.“ (246)
Diese apokalyptische Utopie ist die Antwort, die O’Brien Winston auf dessen Frage nach dem Warum der Macht gibt. Sie ist ebenso banal wie grandios: Es gibt nichts hinter der Macht. Die Macht ist die Macht. Im Grunde ist sie grundlos. „Gott ist Macht.” (243) Die Begeisterung, mit der O’Brien gegenüber Winston von der Macht spricht, deren „Priester“ (ebd.) er zu sein beansprucht, beruht freilich in gewisser Weise auf Selbsttäuschung. Denn genau genommen kennt die Macht weder einen Souverän, auch keinen kollektiven, noch gründet sie auf den sie ausübenden Subjekten. Die Mitglieder der Inneren Partei sind nicht weniger Gefangene des Systems als alle anderen, als Individuen sind sie austauschbar und vergänglich. Nur als Funktionsträger haben sie Teil am Spiel der Macht, ohne jedoch im Ganzen darüber zu verfügen.
Auf verblüffende Weise nimmt George Orwells Roman damit Gedanken vorweg, die in der zeitgenössischen Machttheorie (siehe Anm. 9) entfaltet wurden: Die Macht ist dezentralisiert, subjektlos, relational, produktiv, sie durchzieht die Körper und erzeugt Wissen. Und sie bewirkt Widerstand.

Widerstand, Proletariat und Wahrheit
„Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.” (Michel Foucault(10)) Innerhalb von Orwells Modell bedeutet das, dass es immer Gedankenverbrecher geben muss, weil das System der totalen Herrschaft der Partei sie hervorbringt, hervorbringen muss, um sie zu vernichten und so die eigene Macht zu verwirklichen. „Den Ketzer, den Feind der Gesellschaft, wird es immer geben, so dass er immer wieder besiegt und gedemütigt werden kann.“ (246)
Bevor aber O’Brien gegen Ende von „1984” dieses desillusionierende Konzept einer totalen Herrschaft, die noch den Widerstand gegen sich selbst den eigenen Zwecken dienstbar macht, formuliert, lässt George Orwell seinen Romanhelden Winston Smith sehr wohl noch einige, wenn auch geringe Hoffnungen auf einen ganz anderen, nämlich systemsprengenden oder doch immerhin punktuell subvertierenden Widerstand hegen. Diese Hoffnungen richten sich auf die Proles, auf den gesunden Menschenverstand und auf die Sexualität.
Dass ausgerechnet eine Auflehnung der untersten der drei Gesellschaftsklassen der Herrschaft der Partei ein Ende bereiten könnte, ist mehr ein Wunsch Winstons als eine realistische Möglichkeit. Zwar erscheinen ihm die sogenannten Proles als menschlicher, unverdorbener und freier; und tatsächlich werden sie von der Partei weniger scharf überwacht und eher mit billigen Vergnügungen ruhig gehalten als zu allzu großer Begeisterung angehalten: „Man darf ihnen getrost geistige Freiheit einräumen, denn sie haben keinen Geist.” (194); aber gerade deshalb ist von „den Proletariern (…) nichts zu befürchten“. Sie zu Hoffnungsträgern politischer Veränderung, gar eines Umsturzes zu machen, entspringt eher Winstons Sentimentalität und Nostalgie als einer Analyse der Wirklichkeit.
„Die größte aller Ketzereien war der gesunde Menschenverstand [common sense]. (76 [68]) Und diesen will Winston ihn sich bewahren: „Das Handgreifliche, das Einfache und das Wahre mussten verteidigt werden. Binsenwahrheiten sind wahr, daran wollte er festhalten! Die stoffliche Welt ist vorhanden, ihre Gesetze ändern sich nicht. Steine sind hart, Wasser ist nass, jeder Gegenstand, den man loslässt, fällt dem Erdmittelpunkt zu.“ (76 f.) Fast triumphierend notiert Winston darum in sein — selbstverständlich geheimes und verbotenes — Tagebuch: „Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei und zwei gleich vier ist. Sobald das gewährleistet ist, ergibt sich alles andere von selbst.“ (ebd.) An der Unbezweifelbarkeit der objektiven Wahrheit der Naturgesetze soll der Machtanspruch der Partei zu schanden werden. Auch wenn Winston in der Praxis davon nicht viel erwartete. „Er war ein einsamer Gast [ghost!] auf dieser Erde, der eine Wahrheit verkündete, die niemand je hören würde. Aber so lange er sie verkündete, war auf eine geheimnisvolle Weise der rote Faden nicht abgerissen. Nicht indem man sich Gehör verschaffte, sondern indem man sich unversehrt bewahrte [staying sane], gab man das Erbe der Menschheit [human heritage] weiter. (28 [26])
Am Ende wird er nach Folter und Indoktrination nicht nur einsehen, dass er keineswegs „sane“ geblieben, sondern wie O’Brien sagt, im Sinne der Partei, die allein über die Kriterien von Wahrheit und Wirklichkeit verfügt, „mentally deranged [geistestgestört]“ (197 [226]) ist. Nach seiner sogenannten Heilung sodann ist er nicht nur bereit zu sagen, dass zwei und zwei fünf ist (wenn die Partei es befiehlt), sondern er ist auch felsenfest davon überzeugt, er sieht es. „Die Naturgesetze machen wir“, sagt die Partei (243).

Sexualität als Rebellion
Was ein richtiger Roman ist, der enthält auch eine Liebesgeschichte. „1984” macht darin kein Ausnahme. Von den drei Teilen des Buches ist der mittlere ganz der Romanze von Winston und Julia gewidmet.
Zunächst konnte Winston der jungen Frau nichts abgewinnen. Zu entspricht sie seinem Bild der Frauen in der Partei, denen man seiner Meinung nach jede Erotik ausgetrieben hat. Julias scheinbar fanatische Parteitreue widert ihn an. Er fühlt sich von ihr verfolgt und glaubt sich von ihr bespitzelt. Eines Tages aber steckt sie ihm heimlich einen Zettel zu, der nur die schlichte Botschaft enthält: „I love you.“ (89) Das bewirkt Winstons vollständigen Sinneswandel: Nun liebt auch er sie. „Erst vor fünf Wochen wollte er ihr in Gedanken mit einem Pflasterstein den Schädel einschlagen, aber das hatte nichts zu bedeuten. Er dachte an ihren nackten, jugendlichen Körper (…)“ (102)
Aber es nicht bloß Geilheit, die Winston zu Julia treibt. Er versteht Sex als Rebellion. „Der Akt der geschlechtlichen Verschmelzung, wenn er glückhaft vollzogen wurde, war ein Akt der Auflehnung.” (65) Fast scheint es, als wolle George Orwell damit Wilhelm Reich parodieren: „Beim Liebesspiel [when you make love] verbraucht man Energie (…)“ (123 [109]) Zumal dann, wenn „make love“ zugleich ein „make war“ ist: „Ihre Umarmung war ein Kampf gewesen, der Höhepunkt ein Sieg. Es war ein gegen die Partei gerichteter Schlag. Ein politischer Akt.” (117)
Die Partei habe nämlich ein intensives, wenn auch negatives Interesse an der Sexualität: „Nicht so sehr die Liebe, als vielmehr die Erotik wurde als Feind betrachtet, sowohl in wie außerhalb der Ehe.” — „Es gab sogar Organisationen wie die Jugendliga gegen Sexualität, die für das vollkommene Zölibat beider Geschlechter eintraten.“ — „Ihre [der Partei] wirkliche, unausgesprochene Absicht ging dahin, den sexuellen Akt aller Freude zu entkleiden.“ — „Die Partei versuchte, das Sexualgefühl abzutöten, oder doch zu verbiegen und in den Schmutz zu ziehen.“ — „Der einzig anerkannte Zweck einer Heirat war, Kinder zum Dienst für die Partei zur Welt zu bringen.“ — „Der Geschlechtsakt selbst hatte als eine unbedeutende und leicht anrüchige Sache zu gelten, wie ein Klistier.” (Alle Zitate 62f.)
Und warum der ganze Aufwand? Die Doktrin der Partei zur Sexualität „wurde aufrechterhalten, nicht nur weil Sexualität eine Welt für sich zu schaffen vermag, die außerhalb der Kontrolle der Partei lag, so dass sie nach Möglichkeit unterdrückt werden musste, sondern vor allen Dingen, weil die sexuelle Enthalsamkeit zur Hysterie führte und damit ein erstrebenswertes Ziel erreicht wurde, denn diese Hysterie konnte in Kriegsbegeisterung und Führerverehrung umgewandelt werden.“ (123)
Keinen Augenblick kommt es Winston (oder Orwell?) in den Sinn, dass Sexualität nichts Naturwüchsiges, sondern selbst ein durch und durch soziales Phänomen ist, das demzufolge auch dann, wenn sie nicht unterdrückt wird, keineswegs außerhalb der Macht steht — und darum auch nicht gegen sie. Nun kann man Orwell (oder Winston) schwerlich vorwerfen, dass er Foucaults Arbeiten zur Sexualität nicht berücksichtigt hat, die ja erst drei Jahrzehnte später geschrieben wurden. Allerdings hätte Orwell den engen Zusammenhang von Macht und Sex selbst entdecken können: An einer Stelle erzählt er nämlich von den pornographischen Broschüren, die von einer Unterabteilung der Literaturabteilung des Wahrheitsministeriums (ganz zufällig Julias Arbeisstelle!) produziert werden, „die heimlich von Jugendlichen aus dem Proletariat gekauft wurden, armen Ahnungslosen, die damit etwas gesetzlich streng Verbotenes und im Geheimen Hergestelltes zu erstehen glaubten“ (121). Dass Winstons Glaube an Sex als Widerstand selbst von Ahnungslosigkeit zeugt, scheint Orwell hingegen nicht zu ahnen.

Winstons Julia
Dass Sexualität als Widerstandsnest dann doch nicht in Frage kommt, hat einerseits mit der merkwürdigen Stellung des Weiblichen (verkörpert durch Julia) in Winstons (wieder: und Orwells?) Weltbild zu tun, andererseits mit einem fundamental defizienten Begriff von Sexualität. Denn diese wird ganz problemlos mit Heterosexualität(11) gleichgesetzt, ein Verfahren, dass wegen des damit implizit gestellten Anspruchs auf Normalität, jede Hoffnung auf ein Entkommen zunichte macht: Die Norm ist dem Begehren immer schon eingeschrieben.
Das Verhältnis Winstons zu Julia, das George Orwell beschreibt, ist zudem eine Fundgrube patriarchaler Klischees. Der plötzliche Umschlag von tödlichem Hass in nicht weniger gewaltsames Begehren wurde bereits erwähnt. Hinzu kommt, dass das Begehren offensichtlich weniger der Person als vielmehr der Frau gilt, wobei Weiblichkeit selbstverständlich erst inszeniert werden muss: Als Julia sich einmal mit Lippenstift, Rouge und Puder ausstaffiert, die ansonsten von Parteifrauen nicht verwendet werden, stellt Winston fest: „ Julias Erscheinung hatte sich in verblüffender weise verschönt. Mit nur wenigen Farbstrichen an den richtigen Stellen war sie nicht nur sehr viel hübscher, sondern vor allem viel weiblicher geworden.“ (132)
Selbst das Urbild der Frau als Leiche(12) fehlt nicht: „Sie war tot!“ (119) ist Winston überzeugt, als er nach einem Bombenanriff über Julias scheinbar leblosen Körper beugt. „Erst als er sie an sich presste, entdeckte er, dass er ein lebenswarmes Gesicht küsste (…)” (ebd.)
Nach seiner Verhaftung wird Winston dann selbstverständlich von seiner großen Liebe getrennt. „An Julia dachte er kaum.“ (211) Kein Wunder inmitten der ständigen Erniedrigungen und Mißhandlungen. „Er liebte sie und würde sie nicht verraten; aber das war nur eine Tatsache, die ihm so vertraut war wie die Regeln der Arithmetik.” (ebd.) Und die genauso wenig haltbar sein würde wie diese. Denn schon im nächsten Satz heißt es: „Er empfand keine Liebe für sie und fragte sich sogar kaum, was wohl mit ihr geschah. (ebd.) Am Ende dann verrät er Julia nicht nur, sondern auf dem Höhepunkt seiner Folterungen, in der Konfrontation mit seinem allerpersönlichsten Grauen — einem vors Gesicht geschnallten Käfig voller hungriger Ratten — schreit er den inbrünstigen Wunsch heraus, nicht ihm, sondern ihr solle das angetan werden. (Da Winston das Ministerium für die Liebe, also die Folterkammern der Gedankenpolizei, lebend verlässt, kann man vermuten, dass dieser Wunsch bei ihm den mehrfach als unausweichlich angekündigten Genickschuß ersetzte.)
Nach seiner Entlassung schließlich sieht Winston Julia wieder. Auch sie hat selbstverständlich ihn verraten. Von ihrer beider Liebe ist nichts geblieben. Wenn es je eine Rebellion gabt, hat die Partei sie besiegt.

Eine Stimme im Traum
Weit dauerhafter als die Liebesbeziehung mit Julia ist Winstons Verhältnis zu O’Brien. Sieben Jahre (!) bevor die Romanhandlung einsetzt, hatte Winston einen Traum, in dem eine Stimme ihm verheißt: „Wir wollen uns wiedersehen, wo keine Dunkelheit herrscht.“ (26) Später identifiziert Winston die Stimme im Traum mit der Stimme O’Briens. Im dritten Teil des Romans wird sich dann der Ort, an dem „keine Dunkelheit herrscht“, als das Tag und Nacht künstlich beleuchtete Innere des Ministeriums für die Liebe herausstellen.
Sieben Jahre lang hatte O’Brien Winston beobachtet. Er kannte dessen Gedankenverbrechen schon, bevor sie begangen wurden. Und er ist es am Ende, der Winston von seiner als Geisteskrankheit betrachteten Abweichung heilt. Er ist Winstons schicksalshafter Gefährte.
„O’Brien war ein großer, grobschlächtiger Mann mit dickem Nacken und einem derben, humorvollen und brutalen Gesicht. Ungeachtet seines wuchtigen Äußeren lag ein gewisser Charm in seiner Art, sich zu bewegen. (…) [Winston] fühlte sich aufrichtig zu ihm hingezogen, und das nicht nur, weil ihn der Gegensatz zwischen O’Briens höflichen Manieren und seinem Preisboxertypus fesselte. Er beruhte vielmehr auf einem heimlich gehegten Glauben — oder vielleicht nur der Hoffnung —, dass O’Briens politische Strenggläubigkeit nicht vollkommen sei.“ (13) Winston möchte in dem gesellschaftlich weit über ihm Stehenden einen Gleichgesinnten, einen Widerständler gegen die Partei sehen.
Als er seinen Glaube, seine Hoffnung (oder genau genommen: seine Liebe) auf die Probe stellt, sich (mit Julia) in O’Briens Wohnung begibt, um diesen zu bitten, ihn (und Julia) in die parteifeindliche Verschwörung der „Bruderschaft“ aufzunehmen — deren Existenz er übrigens keineswegs gewiss ist —, kommt es zu einem dramatischen Moment: „Zu der Furcht, die bereits von Winston Besitz ergriffen hatte, kam noch so etwas wie ganz gewöhnliche Verlegenheit hinzu. Es schien ihm durchaus möglich, dass er ganz einfach einen dummen Irrtum begangen hatte. Denn welchen Beweis hatte er in Wirklichkeit, dass O’Brien ein politischer Verschörer war? Nur einen getauschten Blick und eine einzige, zweideutige Bemerkung: darüber hinaus lediglich seine eigenen, auf einen Traum gestützten Hoffnungen.“ (155)
Ein paar dutzend Seiten später erweisen diese Hoffnungen sich als trügerisch. O’Brien ist keineswegs ein Verschwörer, im Gegenteil, er ist als gläubiger Diener der Partei mit dem Aufspüren und Vernichten von Verschwörern befasst. Aber O’Brien sagt Winston auf den Kopf zu, dass er das immer schon gewusst habe. „Ja, erkannte er jetzt, er hatte es immer gewusst.“ (220)

Die Liebe zu O’Brien
„Er war der Peiniger, der Beschützer, der Inquisitor der Freund.” (225) Das Verhältnis O’Briens zu seinem Folteropfer, zum Gegenstand seiner Belehrungen und zum Ergebnis seiner Säuberung ist in seiner widersprüchlichen Mehrdeutigkeit doch am ehesten gewissermaßen väterlich oder — da Ozeanien eine gleichsam väterlose Gesellschaft ist — das Verhältnis eines älteren Bruders zum jüngeren. Winston bewundert O’Brien, er sieht zu ihm auf. Aber mehr noch. Er vertraut ihm, er liebt ihn — ungeachtet des Schmerzes und der Erniederigung, die der andere ihm absichtlich und mit Genuß zufügt. „Einen Augenblick klammerte er sich an O’Brien wie ein kleines Kind, seltsam getröstet durch den um seine Schultern gelegten schweren Arm. Er hatte das Gefühl, O’Brien sei sein Beschützer (…) Beim Anblick dieses ernsten, tiefgefurchten Gesichts, das so hässlich und so klug war, schien sich ihm das Herz umzudrehen. (…) Noch nie hatte er ihn so tief geliebt wie in diesem Augenblick (…) Das alte Gefühl, dass es im Grunde nichts ausmachte, ob O’Brien ein Freund war oder ein Feind, hatte sich wieder eingestellt. O’Brien war ein Mensch, mit dem man reden konnte. Vielleicht will man nicht so sehr geliebt als verstanden sein. O’Brien hatte ihn bis zu Wahnsinn gefoltert, und nach einer kleinen Weile würde er ihn mit Bestimmtheit dem Tod überliefern.“ (231 f.)
Der Große Bruder, diese übermenschliche Führergestalt, der die frenetische Hingabe aller rechtschaffenen Parteimitglieder und Proles gilt, ist die „Verkörperung der Partei” (238), der Inbegriff ihrer Macht und Herrlichkeit, aber — so darf man vermuten — keine Person aus Fleisch und Blut. Wenn es daher von Winston im letzten Satz des Textes heißt, dass er den Großen Bruder liebt — womit wohl seine endgültige Kapitulation und Selbstaufgabe und seine Neuerschaffung als gehorsames Subjekt im Sinne der Partei bezeichnet ist —, dann bleibt diese glaubwürdig behauptete Liebe merkwürdig abstrakt.
Von O’Brien ist auf den letzten Seiten des Romans nicht mehr die Rede. Aber von Anfang an war Winstons Verhältnis zu ihm (Glaube, Hoffnung, Liebe) das zugleich bestimmende und geheimnisvolle Moment der gesamten Erzählung. „1984” ist nicht nur das klar und deutlich geschilderte, schlüssig argumentierte Modell totaler Herrschaft, in dem die Macht über den Widerstand triumphiert, weil sie ihn in sich begreift. Das Buch enthält in der rätselhaften, in keiner Erklärung ganz aufgehenden Beziehung von Winston zu O’Brien, von O’Brien zu Winston auch ein sozusagen sphingisches Element: Wenn überhaupt, dann wäre die Antwort auf die Frage nach der Subvertierbarkeit der Macht wohl nur dort zu finden.

Anmerkungen
(1) George Orwell, Nineeteen Eighty-four. A Novel, London 1949 (zitiert nach der Penguin-Books-Ausgabe, London 1954).
(2) George Orwell, 1984. Roman. Aus dem Englischen von Kurt Wagenseil, Zürich 1950 (zitiert nach der Ullstein-Taschenbuch-Ausgabe, Frankfurt 1980).
(3) Der Romanautor und Essayist George Orwell, mit bürgerlichem Namen Eric Blair, lebte von 1903 bis 1949.
(4) Zitiert nach Bernhard Crick: George Orwell. Ein Leben, Frankfurt a. M. 1984 (engl. London 1980), S. 739.
(5) George Orwell: „Warum ich schreibe“, in: ders., Im Inneren des Wals. Erzählungen und Essays. Übersetzt von Felix Gasbarra, Zürich 1975, S. 14. („Why I Write” wurde 1946 geschrieben und ist auf englisch in The Collected Essays, Journalism und Letters of George Orwell 1920-1950, London 1968, zugänglich.)
(6) Bloße Zahlenangaben in Klammern verweisen auf die deutsche (Anm. 2) bzw. englische (Anm. 1) Ausgabe von „1984”.
(7) Joachim C. Fest: Hitler. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1973; Taschenbuchausgabe 1997, S. 573 f.
(8) Martin Broszat: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 1969, S. 439.

(9) Leider kann hier nicht näher auf die zeitgenössischen Machttheorien im Anschluss an die Arbeiten Michel Foucaults (siehe nächste Anmerkung) eingegangen werden. Immerhin aber sei auf verwiesen auf Wolfgang Detel: Macht, Moral, Wissen. Foucault und die klassische Antike, Frankfurt 1998. Insbesondere das erste Kapitel bietet eine interessante Analyse des Begriffs der Macht unter Verwendung der neueren Literatur.
(10) Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 1977 (frz. Paris 1976), S. 116.
(11) Homosexualität wird nur ein einziges Mal in „1984” erwähnt, als Teil der Schrecknisse der Zwangsarbeitslager: „Es gab dort Bestechung, Bevorzugung und organisiertes Verbrechertum aller Art, es gab Homosexualität und Prostitution, es gab sogar aus Kartogffeln heimlich gebrannten Schnaps.” (209).
(12) Vgl. Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1994 (engl. 1992).

* Dieser Text erschien 1999 in der Wiener Zeitschrift „Weg und Ziel“, Nr. 1/1999 (dort S. 2-7).

 
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