Nachruf auf Derrida PDF Drucken E-Mail

Jacques Derrida musste im Lauf der Jahre viele Nachrufe lesen oder selbst verfassen, denn er überlebte sie alle: Roland Barthes, Michel Foucault, Louis Althusser, Gilles Deleuze, Emmanuel Levinas, Jean-Francois Lyotard, Maurice Blanchot. Trotzig hatte er im Nachruf auf seinen deutschen Kollegen Hans-Georg Gadamer erklärt: „Ich glaube nicht an seinen Tod. Es gelingt mir nicht, daran zu glauben. Ich hatte mich schon an den Gedanken gewöhnt, dass er niemals stürbe. Dass er kein Mensch war, der sterben konnte. Irgend etwas in mir glaubt das noch immer.“ Jetzt jedoch werden auf den letzten großen französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts selbst Nachrufe verfasst: In der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober 2004 erlag Jacques Derrida im Alter von 74 Jahren einem Krebsleiden.
Geboren wurde Derrida am 15. Juli 1930 in El Biar, einem Vorort von Algier. Sein Geburtsland war seit langem geprägt von arabischer, berberischer, türkischer und französischer, von islamischer, jüdischer und christlicher Kultur. Als Kind und Jugendlicher erlebt er freilich auch den Kolonialismus ebenso am eigenen Leib wie den Antisemitismus.


Ende der 40er Jahre übersiedelt Derrida nach Frankreich, macht seinen Schulabschluss und beginnt das Studium der Philosophie in Paris. Zu seinen Lehrern zählen Jean Hyppolite und Michel Foucault. Es folgen Jahre mit Assistenz- und Lehrtätigkeit und einigen Auslandsaufenthalten. Ende der 60er Jahren beginnt Derrida zu publizieren, seine Bibliographie wird schließlich sieben Dutzend Bücher, unzählige Aufsätze, Vorträge und Interviews umfassen.
Während Derridas akademische Karriere in Frankreich eher zögerlich verläuft, findet er im Ausland, besonders in den USA, zunehmend Anerkennung. Derrida erhält zahlreiche Ehrendoktortitel und andere Auszeichnungen, darunter 2001 auch den Theodor-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt am Main. Sein damaliger Laudator, der Philosoph Bernhard Waldenfels, stellt Derrida mit diesen Worten vor: „Er setzt darauf, dass jeder ‘Verblendungszusammenhang’ Risse zeigt. Er versucht es mit einem doppelten Spiel, das sich innerhalb wie außerhalb der Spielregeln bewegt. Es mag zutreffen, dass er dazu neigt, die Anomalien gegenüber dem Normalen, das Beiläufige gegenüber der Hauptsache, die Ränder gegenüber der viel begehrten Mitte zu bevorzugen. Doch im Hintergrund steht die hartnäckige Weigerung, der Normalität das letzte Wort zu lassen, unabhängig davon, ob es sich um das Übliche, das bessere Argument oder einfach um korrekte Prozeduren handelt. In diesem Sinne ist Derrida ein Dissident aus Überzeugung.”

Dekonstruktion ohne Ende
In den Nachrufen auf Derrida wollen sich derzeit manche mit Schlagworten wie „Begründer des Dekonstruktivismus” oder gar „Vater der Dekonstruktion” behelfen. Doch es ist ein Vorzug des Derridaschen Denkens, dass es sich nicht auf den Punkt bringen lässt. Sein Philosophieren ist keiner Schule, keiner Ideologie, keinem Ismus verpflichtet, es lässt sich nicht zu einem System vereinheitlichen, weder Doktrinen noch Direktiven können daraus abgeleitet werden. Auch die berühmte und berüchtigte Dekonstruktion, die zu Recht als Stichwort neben Derridas Namen erscheint, ist keine spezifische Methode, sondern einfach eine Praxis der Lektüre von Texten und Diskursen, die deren Selbstverständlichkeiten in Frage stellt („destruiert”), indem sie sie vorführt („konstruiert”).
„Einen Diskurs zu dekonstruieren heißt aufzeigen, wie er selbst die Philosophie, die er vertritt, bzw. die hierarchischen Gegensätze, auf denen er beruht, unterminiert, indem man die rhetorischen Verfahren nachweist, die die angenommene Basis der Beweisführung, den Schlüsselbegriff oder die Voraussetzung erst schaffen.“ (Jonathan Culler)
„Die Dekonstruktion”, so Derrida, „hat notwendigerweise von innen her zu operieren, sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen.“ Einen Text zu dekonstruieren heißt also nichts anderes, als ihn noch einmal zu schreiben, nur diesmal gründlicher und ohne seine Widersprüche, Kontexte, Abhängigkeiten und Absichten zu verbergen. „Die Philosophie zu ‘dekonstruieren’ hieße demnach, die strukturierte Genealogie ihrer Begriffe auf die getreueste und immanenteste Weise zu denken, aber zugleich von der Position eines gewissen Außen her, das sie selbst weder bestimmen noch benennen kann, festzustellen, was diese Geschichte verdecken oder verbieten konnte, indem sie sich gerade durch diese Unterdrückung, an der sie selbst interessiert war, als Geschichte konstituierte.“
Die Dekonstruktion ist weder vorausetzungs-, inhalts- oder ergebnislos, aber da sie Praxis und nicht Theorie ist, lässt sie sich nicht definieren, sondern nur vollziehen und nachvollziehen — was übrigens ähnlich auch für andere Derridawörter wie Differänz, Dissemination, Spur oder Chora gilt. Auch gibt es am Ende kein abschließende Ergebnis, da die Dekonstruktion nicht abgeschlossen werden kann, was nun allerdings keineswegs bedeutet, dass sie keine Wirkungen hätte. Doch Derridas Absicht und Leistung besteht ja gerade nicht darin, jemanden zu überzeugen und etwas zu normieren, sondern darin, Überzeugungen und Normen zu destabilisieren.

Unverständlich? Beliebig?
Kritiker haben Derrida immer wieder Unverständlichkeit und Beliebigkeit vorgeworfen. Doch wer im Detail erklären kann, was er nicht versteht, hat immerhin verstanden, dass es um die Bedingungen, Möglichkeiten des Verstehens und Verständlichmachens geht. Und wer fixe Kriterien und zwingende Argumente wünscht, müsste den offenkundig unmöglichen Beweis erbringen, dass diese Wünsche, Argumente und Kriterien nicht auch wiederum dekonstruierbar wären. Es ist darum müßig, für oder gegen Derrida sein zu wollen — entweder man arbeitet mit seinen Texten oder man lässt es bleiben.
Auch der oft erhobene Vorwurf, Derrida habe den Unterschied von Philosophie und Literatur eingeebnet, ist schlicht falsch. Etwas zu relativieren heißt ja gerade nicht, Differenzen zu leugnen, sondern Relationen herzustellen, deren Stabilität und Eindeutigkeit freilich dekonstruiert werden kann. Philosophie und Literatur sind nicht einfach dasselbe, aber sie haben auch nicht nichts miteinander zu tun.
Nichts wäre darum verfehlter, als Derridas Arbeiten, die sich weit von akademischen Üblichkeiten entfernt haben, zu entpolitisieren und zu verharmlosen, wie es etwa der US-Philosoph Richard Rorty getan hat, der in Derridas späten Texten nur noch „private Witze” ohne „Moral“ und „Gemeinnutz“ erkennen wollte. Ganz im Gegenteil ist Derrida, dem es mit seiner Verweigerung von Totalität und seiner Achtung vor der Andersheit des Anderen immer schon erkennbar um Ethisches gegangen ist, gerade in den 80er und 90er Jahre noch „politischer“ geworden.

Dekonstruktion und Gerechtigkeit
Schon früher hatte Derrida darauf bestanden: „Die Dekonstruktion ist nicht neutral. Sie interveniert.“ Jetzt wendet er sich vermehrt Themen wie der Gabe, der Freundschaft, der Verantwortung, dem Gesetz und der Demokratie zu. „Die Dekonstruktion wird nun geradezu mit Gerechtigkeit gleichgesetzt, doch nicht mit der üblichen Verteilungsgerechtigkeit, sondern mit einer Gerechtigkeit, die dem Anspruch des Anderen entspringt. Gerechtigkeit bedarf des positiven Rechts, doch stellt sie das geltende Recht permanent in Frage.” (Waldenfels)
Die Dekonstruktion gilt also der Politik nicht weniger als der Philosophie. So oder so fragt sie nach dem aus den Erklärungen Ausgeschlossenen, dem für unmöglich Erklärten. „Man muss das Unmögliche denken und tun. Wenn nur das geschähe, was möglich ist, geschähe gar nichts mehr. Wenn ich nur das täte, was ich tun kann, würde ich gar nichts tun.“ Was könnte politischer und philosophischer sein als diese Forderung? Was dekonstruktiver? Und was beschlösse besser diesen Nachruf auf Jacques Derrida?


Eine von mir radikal eingekürzte Fassung dieses Textes erschien unter dem Titel „Das Unmögliche denken und tun“ im Oktober 2004 in der Beilage „Extra“ der „Wiener Zeitung“.

 

 
Joomla template by a4joomla