Authentische Aversionen von rechts PDF Drucken E-Mail

Unter dem Titel „Systemkrise: Perfide Politisierung der Sexualität“ hat ein mir nicht weiter bekannter Larsen Kempf am 22. Juni 2010 im Weblog „www.dasgespraech.de“ einen Text veröffentlicht, den ich hier analysieren möchte, weil ich ihn gerade wegen und nicht trotz seiner gedanklich-sprachlichen Misslungenheit für lesenswert halte, wenn es darum geht, herauszubekommen, was die Rechten eigentlich gegen die Schwulen und Lesben haben (die es im Übrigen ja leider auch unter ihnen gibt). Man mag es für wohlfeil halten, einem so schlichten Textchen Satz für Satz seine Irrtümer, Missverständnisse, Vorurteile und Ressentiments vorzuhalten, aber erstens macht es Spaß und zweitens ist es doch auch lehrreich

Celebration politischer Emanzipation in der Politik
Der Anlass für Kempfs Auslassungen ist der Berliner CSD 2010, der damals gerade „celebriert“ [sic] worden sei und zwar „wie jedes Jahr in zahlreichen Städten“ von „hundert Tausende[n] für die politische Emanzipation der Homosexuellen in Gesellschaft und Politik“. Ob die Städte mit einschlägigem Umzug nun wirklich so zahlreich sind, wie Kempf meint, und ob es nun wirklich hundert Tausende waren (oder Hunderttausende?; mit der Rechtschreibung hapert’s bei diesem rechten Schreiber ein wenig), die dort „für“ etwas „celebrierten“, kann man dahingestellt sein lassen; im Prinzip gibt Kempf das Anliegen der Christopher-Street-Day-Paraden nicht falsch wieder: Emanzipation der Homosexuellen. Ob aber nun politisch in Gesellschaft und Politik oder gesellschaftlich in Politik und Gesellschaft — wer will da rechten?
Kempf, von dem man nicht erfährt, ob er eigentlich unter den hundert Tausenden von Paradierenden oder unter den tausenden Hunderten von Zuschauern zu verorten ist (oder, was wahrscheinlicher ist, die Veranstaltungen nur vom Hörensagen kennt), gibt dem Veranstaltungsmotto „Normal ist anders“ Recht, wirft einen „Blick auf die Skurrilitäten der vertretenden Zerrbilder homosexuell Emanzipierter“ und durchschaut unversehens: „Weder geht es dabei um die heutige Selbstverständlichkeit, homosexuell zu leben, noch um eine bloße ‘große und wilde Party’, wie sie der langjährigen Love-Parade unterstellt werden konnte. Stattdessen ist jeder CSD ein zutiefst politischer Akt.“
Das öffentliche Eintreten für politische Emanzipation in der Politik ist also, und noch dazu „zutiefst“, ein politischer Akt und nicht bloß ein Spaß-Event — wer hätte das gedacht! Wie anders da die Liebesparade, der man anscheinend eine Party unterstellen konnte, ohne dass sich irgendeine Parteilichkeit hätte einstellen müssen. (Von einer langjährigen love parade habe ich freilich zuvor noch nie etwas gehört, meines Wissens dauerte derlei höchstens einen Tag.)
Nach der Einsicht in den politischen Charakter einer politischen Demonstration folgt nun in Kempfs Ausführungen nach der etwas vorgestrig klingenden Zwischenüberschrift „Überlebenswille einer Gesellschaft“ („Nation“ traut er sich anscheinend nicht zu sagen) etwas unvermittelt der Satz: „Aus konservativer Perspektive wäre zu fragen, ob die Veranstaltungen der CSDs ein Signum des zerfallenden Abendlandes darstellen.“ Heb dir mal keinen Bruch, Jungchen, würde man da spontan ausrufen wollen, wenn sich mit jemandem wie Kempf nicht alle Vertraulichkeiten von selbst verböten. Signum? Abendland? Geht’s noch?


Bezeichnenderweise geht Kempf mit keinem Wort darauf ein, warum da was aus bewahrerischem Blickwinkel zu fragen wäre, er wechselt viel mehr im nächsten Satz den Ansatz und dekretiert: „Doch viel mehr müsste bereits aus überlebenstaktischer Perspektive die praktizierte Homosexualität — auch als Eros besonderer Männlichkeit — ethisch hinterfragt werden, da kein homosexuell Lebender einen unmittelbaren Beitrag für die Fortpflanzung der Gesellschaf [sic] leistet. Diese Einsicht veranlasste schon Platon zu seiner Heiratsforderung, die sich gerade nicht auf irgendwelche Homo-’Ehen’ bezog.“
Da verklumpt sich nun so einiges zu etwas, was einem Gedanken nicht einmal mehr ähnlich sieht, und sollte wohl doch der Reihe nach untersucht werden. Ein bisschen ist das zwar, wie in Scheiße herumzustochern (so mancher macht ja zuweilen den Eindruck, man habe ihm ins Hirn gekackt). Aber du meine Güte, wenn’s der Wahrheitsfindung dient!
Zunächst erstaunt, dass sich Kempf gar nicht so sehr mit der „konservativen Perspektive“, der die CSD-Veranstaltungen einen Abendlandszerfall signalisieren, identifiziert, sondern auf eine dem anscheinend noch vorgelagerte „überlebenstaktische Perspektive“ hinauswill. Was immer das sein mag. Man kennt aus Popularisierungen der Biologie den Ausdruck „Überlebensstrategie“, die zumindest im übertragenen Sinne den im struggle for life befindlichen Pflanzen und Tieren unterstellt wird. Was aber eine „Überlebenstaktik“ anderes sein soll, als eine kurzfristiges Vorgangsweise, um nicht zu Tode zu kommen, erschließt sich mir unmittelbar und schon gar nicht, inwiefern derlei Taktieren ein ethisches „Hinterfragen“ erlauben bzw. sogar zwingend vorgeben soll.

Wer oder was soll wen oder was überleben?
Man muss hier also zwecks Analyse wohl oder übel interpolieren. Überlebenstaktik scheint sich auf praktizierte Heterosexualität zu beziehen, also das Ficken von Mann und Frau zum Zwecke der Nachwuchserzeugung. Dem steht dann praktizierte Homosexualität gegenüber, bei der es bekanntlich, weder „unmittelbar“ noch mittelbar, nicht zur Kinderzeugung kommt. Das scheint Kempf nun also für ein ethisches Problem zu halten. Aber warum? (Was er mit der schwülstigen Formel „Eros besonderer Männlichkeit“ meint, weiß der Teufel. Vielleicht die Schizophrenie schwule Neonazis?)
An dieser Stelle kommen ein charakteristischer Denkfehler, mindestes einer, und eine beispielhafte Kenntnislosigkeit zusammen. Kempf versucht das mit dem Etikett „Einsicht“ (die er dann auch noch Platon unterschiebt) zu überspielen. In Wirklichkeit weiß er nicht, wovon er redet; und wenn er es wüsste, vermöchte er es offensichtlich nicht zu beurteilen.
Denn selbst wenn man voraussetzte, was ja keineswegs unbestreitbar ist, dass nämlich das Überleben irgendeiner Gesellschaft ein ethisches Erfordernis ist — das umstandslos anzunehmen, ist der Denkfehler oder zumindest die Gedankenlosigkeit —, so ist es doch eine nachweisbare Tatsache, dass es sehr wohl Menschen gibt, die sowohl (zu irgendeiner Zeit ihres Lebens) Homosexualität praktiziert als auch (zu irgendeiner Zeit ihres Lebens) Kinder in die Welt gesetzt haben. Von schwulen Vätern oder lesbischen Müttern scheint Kempf noch nie etwas gehört zu haben.
Zudem wird ja Homosexualität, auch wenn Kempf das vielleicht gerne hätte, nicht nur von „homosexuell Lebenden“ praktiziert; das zu unterstellen ist nun wirklich ebenso sehr ein Denkfehler wie eine Realtitätsverweigerung. Zwar neigt das politische Bewusstsein bei den CSD-Veranstaltungen, sofern von einem solchen überhaupt die Rede sein kann, nur zu oft zu einem gewissen Tribalismus, der sich eher mit den Rechten der Homosexualität statt mit dem Recht auf Homosexualität befasst, aber im Prinzip sollte allen Beteiligten klar sein, dass eine Emanzipation der Homosexualität nicht mit einer Beschränkung derselben auf emanzipierte Homosexuelle gleichzusetzen ist.
Aber das nur am Rande. Entscheidend ist, dass es nicht nur die exklusiv Heterosexuellen sind, die zu Kinder kommen. Mir ist nicht bekannt, wie viel Nachwuchs Herr Kempf bereits hat, und schon gar nicht, welche Kinderzahl er am Ende seines Lebens als Überlebensbeitrag vorzuweisen haben wird. Welche Quote schiene ihm wohl angemessen? Versündigt sich jeder, der bloß ein, zwei Kinder hat schon an Volk und Vaterland? Haben ein Schwuler, der wenigstens ein Kind gezeugt hat, oder eine Lesbe, die wenigstens einmal ein Kind ausgetragen hat, die ethische Hinterfragung ihrer sexuellen Praxis zu Kempfs Zufriedenheit überstanden? Wie viel unmittelbaren Fortpflanzungsbeitrag müsste man erbringen, um sich als aus überlebenstaktischer Perspektive gerechtfertigt ansehen zu dürfen? Genügen ein paar Gänge zur Samenbank? (Die Rede von der Unmittelbarkeit des Beitrages scheint mir übrigens verdächtig. Verweist Kempf hier etwa implizit auf Theoreme à la Michael Kühnen, in denen männliche Homosexualität — also der „Eros besonderer Männlichkeit“? — vom Verbrechen gegen das gesunde Volkstum zur geradezu urnazistisch Errungenschaft umgedeutet wird.)

Nachhaltiger Verfall und pathologische Moderne
Halten wir fest: Wenn homosexuelle Praxis Fortpflanzung nicht ausschließt (und sich exklusiv Homosexuelle sich übrigens wohl auch dann nicht fortpflanzen würden, wenn die „politische Emanzipation der Homosexuellen in Gesellschaft und Politik“ untersagt wäre), bricht Kempfs angebliche ethische Problemstellung zusammen. Das sieht Kempf naturgemäß nicht, eben weil er weder die Realitäten berücksichtigt, noch seine eigenen Voraussetzungen in Frage stellen kann. Stattdessen verrennt er sich ins Pathos:
„Wo aber der Überlebenswille einer Gesellschaft nicht mehr herrscht und dazu führt, die Homosexualität als Eros zu verteidigen oder gar für grundlegend unproblematisch zu halten, da wirkt der Verfall nachhaltig und wird zu einer Pathologie der Moderne.“ Holla, die Waldfee! Ein paradigmatisch verunglückter Satzbau. Was soll es heißen, dass der Überlebenswille nicht mehr herrsche und dazu führe, etwas zu verteidigen? Kempf meint ja wohl, dass die Verteidigung eine Folge der Herrschaftslosigkeit des Überlebenswillens sei, und nicht, dass aus dem Überlebenswillen die Verteidigung folgt.
Irgendeinen Nachweis, warum „Homosexualität als Eros“ angegriffen und für grundlegend problematisch gehalten werden müsste, führt Kempf nicht. Vielleicht meint er, das mit seiner unhaltbaren These von den sich nicht fortpflanzenden Homos schon getan zu haben, aber das ist ja vom Tisch. Auch erklärt Kempf mit keinem Wort, was denn da eigentlich so nachhaltig verfällt. Die Gesellschaft? Inwiefern? Die Menschheit wächst und wächst, an Fortpflanzung ist also nun wirklich kein Mangel. (Aber vielleicht sind Kempf zu wenig Deutsche unter den sieben Milliarden?) Ein Ausdruck wie „Pathologie der Moderne“ jedenfalls soll zwar wohl Eindruck schinden, entbehrt hier aber jedes bestimmbaren Begriffsinhalts.
Weil er mit keinem Wort Gründe für seine Diagnose angibt, könnte der nächste Satz überraschen, wäre man in dieser Prosa nicht schon so manche Argumentationslücke gewohnt: „Genau aus diesem Grunde werden Äußerungen christlicher Gruppen über Therapiemöglichkeiten als Ketzerei am Toleranzgedanken verurteilt, werden alltägliche Aversionen sogar rechtlich kriminalisiert.“
Aus welchem Grund wird da verurteilt? Wer genau verurteilt? Was heißt hier überhaupt „verurteilen“? Man tut einem Geschreibsel wie dem von Kempf wohl zu viel der Ehre an, wenn man erwartet, da ließe sich etwas präzisieren. Es stimmt, die angeblichen „Therapiemöglichkeiten“, die von praktizierte Homosexualität als Sünde hassenden Christen propagiert werden, werden von jedem nüchtern denkenden Menschen als Humbug zurückgewiesen. Sie setzen voraus, dass homosexuell zu sein eine Krankheit oder Störung ist, die geheilt oder behoben werden müsste oder könnte. Da aber, wer nicht krank ist, nicht geheilt werden kann, muss jede „Umpolung“ auf individuelle Unglück hinauslaufen. Nicht Mangel an Toleranz, sondern seelische Misshandlung ist den selbsternannten Therapierern darum vorzuwerfen. Zumal sie sich selbst widersprechen. Entweder ist Homosexualität eine Sünde, dann muss sie nicht geheilt, sondern bereut werden. Oder sie ist eine Krankheit, dann kann sie keine Sünde sein. Theologische und psychologische, moralische und medizinische Kategorien wahllos durcheinanderzuwürfeln — Hauptsache, Homosexualität ist was Schlechtes und kann bekämpft werden —, kann niemals seriös sein. Das dazu.
Was Kempf außer der angeblichen Verketzerung von homophobem Psychogemurkse noch behauptet, dass nämlich „alltägliche Aversionen sogar rechtlich kriminalisiert“ würden, ist mir völlig neu. Auf welchen Strafrechtsparagraphen bezieht sich Kempf da? Es stimmt, es gilt in Deutschland seit 2006 das „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“, das als sein Ziel angibt, „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“. Irgendwelche Strafbestimmungen enthält dieses Gesetz meines Wissens aber nicht. Es wird also nichts und niemand „kriminalisiert“. Nur in genau angegebenen zivilrechtlichen Verhältnissen soll Diskriminierung ausgeschlossen und, wo sie stattfindet, beseitigt werden. Jeder darf also seine „alltäglich Aversionen“, auch gegen Homosexuelle, behalten, nur darf er sie nicht zur Begründung bestimmter Benachteiligungen heranziehen. Hat Kempf etwas dagegen? Möchte er, dass Homosexuelle im Berufsleben, im Bildungswesen, bei Sozialleistungen oder beim Mieten von Wohnraum benachteiligt werden dürfen, weil irgendjemand „Aversionen“ verspürt? Man mache sich nichts vor: Genau das ist es, was manche Leute sich klammheimlich zurückwünschen. Juden, Neger, Kanaken, Fitschis usw. und eben auch Krüppel, Fotzen und Homos sollen nicht dieselben Rechte haben wie kerndeutsche Männer und ihre Frauen.

Alltägliche Aversionen
Kempf fährt dann fort (und zwar in fetten Lettern, wir kommen also zum hohlen Kern des Geschwafels): „Man täusche sich nicht: Es geht bei solcher Kritik nicht um homosexuelle Menschen, welche auch die Kirche gegen persönliche Anfeindungen in Schutz nimmt (Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 2358). Es geht um den ethischen Umgang der Gesellschaft mit ihrem verstörten Überlebenswillen, den der CSD qua Existenz verneint.“
Qua, qua, qua. Getretner Quark wird breit nicht stark, sagt man. Für diesmal will ich die Kirche, ihren KKK und die lehramtlichen Konzessionen an den Zeitgeist (Homosexualität ist Anlage, aber trotzdem Sünde; man „darf“ als schwul sein, aber keinen schwulen Sex haben) beiseite lassen und an dieser Stelle auch nicht darüber spekulieren, worum es Kempf denn sonst geht, wenn angeblich nicht um die Anfeindung homosexueller Personen, sondern mich auf den letzten Satz konzentrieren.
Immer noch entbehrt Kempfs wirre Gedankengang jeder Präzisierung, inwiefern der gesellschaftliche „Überlebenswille“ gestört ist. Er scheint wirklich zu glauben, dass jeder Mann, der nicht ausschließlich Frauen fickt (und entsprechend jede nicht exklusiv heterosexuelle Frau) den „Überlebenswillen“ — gemeint ist wohl schlicht die Reproduktionsrate — beeinträchtigt. Dass das nicht der Fall ist, liegt auf der Hand. Um es noch einmal zu sagen: Die Entkriminalisierung homosexueller Handlungen bedingt nicht deren Zunahme; und Homosexuelles zu praktizieren schließt heterosexuelle Praktiken nicht absolut aus. Bei den CSD-Veranstaltungen geht es, wie gesagt, um die die Würde, den Stolz und Rechte Homosexueller. Das kann man kritisieren. Ich selbst habe das oft genug getan, nicht weil ich hinter Erreichtes zurück will, sondern darüber hinaus. Aber das ist ein anderes Thema und führte hier zu weit. Den CSD aber zu unterstellen, sie würden, einfach weil sie stattfinden, den gesellschaftlichen Überlebenswillen verstören — weniger bombastisch: zu weniger Fortpflanzung führen —, ist eine so hanebüchene Annahme, dass man um die geistige Gesundheit dessen fürchten muss, der sie im Ernst äußert.
Nachdem er sein Anliegen so unklar und verfehlt wie möglich auf den Punkt gebracht hat, fährt Kempf in gewohnt wirrer Manier fort: „Verblüffend, wie die allgemeine Lebenspraxis von dieser öffentlichen Schaustellung der Sexualität abweicht, die doch zum intimsten Bereich des Menschseins zählt.“ Wessen Lebenspraxis und welche? (Nebenbei: Wäre der Relativsatz nicht besser an „Sexualität“ angeschlossen worden als an „abweicht“, damit sich nicht die absurde Lesart aufdrängt, die öffentlichen Schaustellung der Sexualität gehöre zum intimsten Bereich des Menschseins? Deitsches Sprach, schweres Sprach …) Versucht man, Kempf-Sprech in Standarddeutsch zu übersetzen, so kommt wohl heraus, dass er meint, die CSD-Umzüge stellten Homosexualität zur Schau, während sonst doch Sexualität, die als allgemeine Lebenspraxis selbstverständlich letztlich mit Heterosexualität identisch ist, sonst so schamhaft und züchtig verborgen wird. Wieder stellt sich die Frage, in welcher Welt Kempf eigentlich lebt. Offensichtlich in einer Phantasiewelt. In der Realität, wie ich sie kenne, wird Jahr für Jahr an 365 Tagen rund um die Uhr allerorten Heterosexualität (die freilich oft nur als „Sexualität“ firmiert) öffentlich zur Schau gestellt. Nicht unbedingt Sex (den sieht man bei CSD-Paraden ja auch nicht), aber doch heterosexuelle Lebensweisen und Beziehungsformen. Wenn da einmal im Jahr Schwule und Lesben als Schwule und Lesben auf der Straße zu sehen sind, weil sie sich ausdrücklich als solche zeigen, ist das die große Ausnahme. Ganz sicher aber ist es keine Verletzung von „Intimität“. Aber es ist typisch für die Denkweise vieler Heterosexueller (und zu denen zähle ich mangels Gegenbeweises Kempf mal dazu), das öffentliche Vorkommen von Homosexuellen, Bisexuellen und Transpersonen immer noch als Tabu-Bruch und als Verletzung einer Art Verschwiegenheitspflicht anzusehen, während sie nie im Leben auf die Idee kämen, sie zerrten Intimes ans Licht der Öffentlichkeit, wenn sie, wie allerorten allzeit üblich, implizit oder explizit ihre heterosexuelle Orientierung und Identität erkennen lassen.
Der Grundsatz Don’t ask, don’t tell hat, auch außerhalb der US-Streitkräfte, immer nur für die Homos gegolten. Das heterosexuelle Vorurteil meint, Homosexuelle wollten immer über Homosexualität reden. Als ob Heteros nicht auch dauernd über sich, ihre Vorlieben und Abneigungen, ihre Beziehungen und ihre Weltsicht plapperten. Sie glauben dann aber, über Sexualität zu reden, nicht über Heterosexualität im Besonderen. Das Unterscheidet sie tatsächlich von selbstbewussten Homosexuellen.

Authentische Aversionen
Kempf weiter: „Selbst derjenige nicht, der im homosexuellen Leben keine Sünde im theologischen Wortsinne mehr erkennt, würde solcher Lebensgestaltung gemeinhin Normalität zugestehen; in direkter Konfrontation von Hetero- und Homosexuellen äußert sich diese natürliche Abneigung affektiv.“ Das ist ausnahmsweise mal raffiniert formuliert, aber vielleicht aus Zufall. Ein unausgesprochener Unterschied von „Erkennen“ der Sündigkeit der Homosexualität und der Tatsache, dass Homosexualität eben so oder so Sünde ist, deutet sich an … Aber die wichtigere Aussage des Satzes ist selbstverständlich die, dass Heteros Homos einfach nicht leiden können. Kempf verunklart diese Aussage freilich durch seinen Satzbau. Statt einfach zusagen, dass auch der, der Homosexualität nicht für Sünde hält, dieser keine Normalität zugesteht (Kempf meint wohl: deswegen noch lange keine zugestehen muss), statt also „nicht zugestehen“ zu sagen, schreibt er „selbst derjenige nicht“ und macht durch diese Verschiebung der Negation bei raschem Überlesen das absurde Missverstehen möglich, aus dem gemeinhinnige Zugestehen von Normalität werde plötzlich als „diese Abneigung“.
Was Kempf meint, soweit man das seiner Schreibe zum Trotz erkennen kann, ist vermutlich, dass (bei vielen oder allen?) trotz gewisser Lippenbekenntnisse bezüglich Tolerierung „solcher Lebensgestaltung“ als normal sehr wohl weiterhin eine Abneigung gegen „solche Lebensgestaltung“ besteht. Erstaunlicherweise hat Kempf da meiner Meinung nach gar nicht einmal Unrecht. Keine Gründe zu wissen (zumindest keine religiösen oder moralischen), warum Homosexualität etwas Schlechtes sein soll, und darum dem Zeitgeist zu huldigen und sie zumindest theoretisch für eine tolerable Variante der der Normalität zu erklären, schließt tatsächlich keineswegs aus, dass man Homosexuelle in der Praxis sehr wohl diskriminiert.
Kempf fährt fort: „Das Wissen um diese authentischen Aversionen …“ Oh fein, das ist sehr apart! Authentische Aversionen, das gefällt mir, den Ausdruck werde ich adoptieren. Vermutlich habe ich zwar ein radikal anderes Verständnis von Authentizität als Kempf, denn mir ist bewusst, dass Authentizität konstruiert und inszeniert werden muss, um erfahren werden zu können, dass sie sich also nicht einfach von selbst einstellt, sondern auf kulturellen Prämissen und gesellschaftlichen Dynamiken beruht, aber von diesem Vorbehalt abgesehen, halte ich „authentische Aversion“ für eine gelungene Bezeichnung des Phänomens, dass die Ablehnung der nichtheterosexuellen Minderheit durch die heterosexuellen Mehrheit nicht geschauspielert, sondern, anders als all die schönen Bekenntnisse zu Toleranz, echt ist und sich spontan einstellt.
Nun verwendet Kempf die Wendung von den „authentischen Aversionen“ aber selbstverständlich nicht, um damit die anerzogenen Ressentiments und das verkorkste Gefühlsleben der „Normalos“ zu kritisieren, sonder er wendet sie gegen die, die Gegenstand der besagten feindseligen oder zumindest geringschätzigen Affekte sind. Er schreibt: „Das Wissen um diese authentischen Aversionen macht das Bürgertum zur Hassfigur der Homosexuellenlobby, welche sie wiederum auf die Straße treibt — und das Unnormale glorifizieren lässt. Politisch soll mit Veranstaltungen wie dem CSD das natürliche Unwohlsein gelöst und das Andere zur Normalität deklariert werden; typisch links: nämlich an der Wirklichkeit der Biologie und des sittlichen Bewusstseins vorbei.“
Typisch rechts, möchte man kontern, denn da stimmt ja nun gar nichts. Ob die Umzüge zum Christopher Street Day wirklich „Unnormales glorifizieren“ oder nicht vielmehr vermeintlich Abweichendes normalisieren, kann als Frage offen bleiben. Völlig falsch ist es jedenfalls, dass die „Homosexuellenlobby“ das Bürgertum hasst. Erstens gehört sie ihm an, zweitens sieht sie darin ihr Ideal und drittens ist genau das und nicht das Gegenteil das Problem. Die Verspießbürgerlichung dessen, was einmal als Schwulenbewegung angetreten war (sowie als Frauenbewegung usw.), ist ein wichtiger Kritikpunkt an dieser und wird von typischen und nichttypischen Linken (wie mir) ja auch immer wieder geäußert. Statt eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu fordern, tritt man für die Integration in dieselben ein, man will mitmachen, nicht revolutionieren. Darauf zielt nicht zuletzt das fanatische Verlangen nach einer „Homo-Ehe“ ab. Dieses und anderes sind Symptome einer Entpolitisierung, die gerade am Berliner CSD 2010 zu studieren wäre — ach, wenn Kempf sich denn mal besser informieren wollte! —, bei dem zum Beispiel Judith Butler einen Preis für Zivilcourage ablehnte, weil ihr die Veranstaltung zu kommerziell und zu unkritisch gegenüber Rassismus und Krieg erschien. (Der alternative CSD, den Kempf vermutlich erst recht antibürgerlich gefunden hätte, fand freilich erst am 26. Juni statt, vier Tage nach dem Erscheinen seiner „Systemkrise“.)

Natürliches Unwohlsein
Von Hass aufs Bürgerliche kann also sowohl beim „normalen“ CSD wie unterm Jahr bei den meist selbsternannten Homosexuellenvertretern keine Rede sein. Dass die alljährlichen Veranstaltungen ein Unwohlsein lösen wollen, kann man vielleicht sagen — besser wäre: sie wollen demonstrieren, dass es keinen Grund zum Unwohlsein gibt —, dass das Unwohlsein „natürlich“ ist, müsste Kempf erst einmal nachweisen. Er glaubt anscheinend, sich schlechterdings auf „Biologie und Sittlichkeit“ berufen zu können. Das ist hohle Rhetorik. Erstens wäre nichts für die Moral gewonnen, wenn man feststellen könnte, dass ein bestimmtes Verhalten „in der Natur“ vorkommt oder nicht vorkommt; aus bloßer Deskription ergeben sich ja keine Normen. Zweitens gehört homosexuelles Verhalten offenkundig zu den „biologischen“ sowie „psychologischen“ Möglichkeiten des Menschen, sie kommt also vor — und nicht nur beim Menschen, sondern auch in der Tierwelt, wo ja wohl kein zivilisatorischer Niedergang oder Verfall des Abendlandes festgestellt werden kann; soll man munter herumfickenden Affenarten etwa unterstellen, sie ermangelten des Überlebenswillens? Wie auch immer, aus keiner biologischen Perspektive ergibt sich eine „Unnatürlichkeit“ der Homosexualität.
Kempf wäre ehrlicher, wenn er sich, statt auf Biologie, was in die Hose gehen muss, bloß auf Moral beriefe. Tatsächlich gibt es nicht wenige Konzepte von „Sittlichkeit“, die Homosexualität als unsittlich ablehnen. Das aber ist ebenfalls kritisierbar. Die bloße Vorhandenheit moralischer Normen besagt nichts über deren Berechtigung. Auch hier hätte Kempf also eigentlich Gründe anzugeben, warum bestimmte Moralen Homosexualität ablehnen, andere nicht, und warum er welche Moral bejaht. Sich mit expliziter Berufung auf Biologie als Moralapostel aufzuspielen und damit in Wahrheit implizit Biologisches zu moralisieren, diese ebenso absichtsvolle wie nicht zu Ende gedachte Verwechslung von Kategorien ist nun wirklich „typisch rechts“: Man hat ein Vorurteil, ahnt irgendwie, dass das falsch ist, und unterstellt darum anderen, die selbstverständliche Allgemeingültigkeit des Vorurteils zu übersehen.
Sein Ressentiment stilisiert Kempf zur nahezu unterdrückten Minderheitsmeinung, was in einem unaufgelösten und unauflösbaren Widerspruch dazu steht, das er es doch zugleich als allgemein verbreitet und von der Natur vorgegeben hinstellen will: „Wer dies Unwohlsein jedoch als instinktives Überlebensbewusstsein versteht, das politisch bereits erstorben scheint und bloß noch rudimentär in unaufgeklärten Kreisen, nahezu vegetativ gegen die große Pathologie des Abnormen steht, der wird es nicht verurteilen können.“ Von der Überlebenstaktik zum Überlebensbewusstsein — die „Begriffe“ (wenn man die gedankenleeren Versatzstücke denn so nennen will) bleiben unklar. Einfach aus dem Grund, weil das Denken, das dahintersteht, gar nicht wirklich ein solches ist, nämlich Vollzug rationaler Argumentation, sondern bloßer Reflex zu Grunde liegender Vorurteile. Bezeichnend, wie Kempf hier die Politik, in der angeblich das Überlebensbewusstsein erstirbt, gegen die Unaufgeklärtheit nicht näher bezeichneter Kreise auszuspielen versucht. Von wem ist da die Rede? Und warum soll eigentlich Instinktives, ja gar „Vegetatives“ besser sein als Durchdachtes und argumentativ Gerechtfertigtes? Mir scheint es bei diesem Autor an Mut zu fehlen, klassische Unbegriffe wie „gesundes Volksempfinden“ und „Stimme des Blutes“ zu setzen. Solche Feigheit führt dann zu Undeutlichkeit und dumpfem Herumgerede.

Salus populi suprema lex
Dabei ist Kempfs Tonfall doch durchaus mit der markigen Rhetorik einschlägiger Text der 30er Jahre vergleichbar: „Der allem Schwulen entgegengebrachte Ekel resultiert schließlich aus dem instinktiven Wissen, dass die Umkehrung des Normalen nicht mehr bloß Verfallserscheinung[,] sondern bereits Untergang bedeutet.“ Was in aller Welt ein „instinktives Wissen“ sein soll, weiß allenfalls Kempf selbst, vielleicht ist hier aber auch bloß der Trieb mit ihm durchgegangen. Auch bleibt es sein Geheimnis, was da eigentlich nicht nur verfällt, sondern untergeht, und was die „Umkehrung des Normalen“, als die er homosexuelles Verhalten hinstellt, damit zu tun haben soll. Kempf scheut, wie gesagt, klare Wort und versucht sein Nichtwissen und seine argumentatorische Unterversorgtheit mit Wortgeklingel und Wörterrauschen zu überdecken, was vielleicht die dumpfe Phantasie voreingenommener Leser, die eh schon zu wissen glauben, was er meint, anregt, aber bei jemandem, der es gern mit Begriffen und Argumenten zu tun hätte, ein schales Gefühl zurücklässt, das umso ärgerlicher wird, je länger Kempfs Tiraden dauern. Ein „Unwohlsein“ und ein Widerwille, die, nebenbei bemerkt, nicht instinktiv-vegetativ sind, sondern intellektuell.
Larsen Kempf redet viel und sagt kaum etwas. Wie zackig und knapp brachten es im Unterschied dazu doch einst die Nazis auf den Punkt: „Nicht nötig ist es, dass du und ich leben, aber nötig ist es, daß das deutsche Volk lebt. Und leben kann es nur, wenn es kämpfen will, denn leben heißt kämpfen. Und kämpfen kann es nur, wenn es sich mannbar hält. Mannbar ist es aber nur, wenn es Zucht übt, vor allem in der Liebe. Unzüchtig ist: Freie Liebe und zügellos. Darum lehnen wir sie ab, wie wir alles ablehnen, was zum Schaden des Volkes ist. Wer gar an Mann-männliche oder Weib-weibliche Liebe denkt, ist unser Feind. Alles, was unser Volk entmannt, zum Spielball seiner Feinde macht, lehnen wir ab, denn wir wissen, daß Leben Kampf ist und Wahnsinn, zu denken, die Menschen lägen sich einst brüderlich in den Armen. Die Naturgeschichte lehrt uns anderes. Der Stärkere hat Recht. Und der Stärkere wird immer sich gegen den Schwächeren durchsetzen. Heute sind wir die Schwächeren. Sehen wir zu, daß wir wieder die Stärkeren werden! Das können wir nur, wenn wir Zucht üben. Wir verwerfen darum jede Unzucht, vor allem die Mann-männliche Liebe, weil sie uns der letzten Möglichkeit beraubt, jemals unser Volk von den Sklavenketten zu befreien, unter denen es jetzt front.“
Na bitte, es ging doch. (Bei der Beantwortung einer Umfrage von Befürwortern einer Strafrechtsreform zur Reichstagswahl 1928 durch die Reichsleitung der NSDAP; Verfasser war vielleicht Alfred Rosenberg.) Im Grunde dürfte das zitierte Nazigebell so ziemlich dasselbe sein, was Kempf sagen wollen würde, sich aber nicht so recht traut. Statt von Taktik oder Bewusstsein des Überlebens zu schwatzen, hätte er sich ein Beispiel an seinen Vorläufern nehmen und aus der mythisierten „Naturgeschichte“ einen kräftigen Sozialdarwinismus ableiten sollen, bei dessen Umsetzung die Homos irgendwie im Weg rumstehen. Freilich hatten die Nazis hatten genauso wenig erklärt, inwiefern Schwule oder Lesben eigentlich die Wehrkraft des deutschen Volkes zersetzen, wie Kempf, inwiefern Homosexuelle das Überleben taktisch oder bewusstseinsmäßig stören und irgendetwas Unbestimmtes (vielleicht den Volkskörper?) nicht nur als verfallend erscheinen lassen, sondern dem Untergang weihen. So unklar der Zusammenhang, so deutlich die Marschrichtung: Es geht gegen Zügellosigkeit und Unzucht.

In Begierde zueinander entbrannt
Und was das Thema Unzucht und Zügellosigkeit betrifft, hat Kempf nun ein besondere Kabinettstückchen zu bieten: „Es“ — gemeint ist wohl das „instinktive Wissen“, das aus dem „allem Schwulen entgegengebrachte[n] Ekel resultiert“, dieses vermeintliche Wissen also — „ist in dieser Interpretation ‘Zeichen’ des Verfalls, wie es schon Paulus in der Heiligen Schrift ausformuliert (Röm 1,18-32).“
Herrgottsakra und kruzitürken! Sich auf den KKK zu berufen (siehe oben), ist eine Sache, nun aber auch noch Paulus von Tarsus für die eigene unsaubere Sache in Anspruch zu nehmen, ist schon ein Wagnis besonderer Art. Für die, die ihre Bibel gerade nicht zur Hand haben seien die Verse, auf die Kempf verweist, hier in extenso zitiert:
„Der Zorn Gottes wird vom Himmel herab offenbart wider alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten. / Denn was man von Gott erkennen kann, ist ihnen offenbar; Gott hat es ihnen offenbart. / Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit. Daher sind sie unentschuldbar. / Denn sie haben Gott erkannt, ihn aber nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt. Sie verfielen in ihrem Denken der Nichtigkeit und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert. / Sie behaupteten, weise zu sein, und wurden zu Toren. / Sie vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit Bildern, die einen vergänglichen Menschen und fliegende, vierfüßige und kriechende Tiere darstellen. / Darum lieferte Gott sie durch die Begierden ihres Herzens der Unreinheit aus, sodass sie ihren Leib durch ihr eigenes Tun entehrten. / Sie vertauschten die Wahrheit Gottes mit der Lüge, sie beteten das Geschöpf an und verehrten es anstelle des Schöpfers — gepriesen ist er in Ewigkeit. Amen. / Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus: Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; / ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung. / Und da sie sich weigerten, Gott anzuerkennen, lieferte Gott sie einem verworfenen Denken aus, sodass sie tun, was sich nicht gehört: / Sie sind voll Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier und Bosheit, voll Neid, Mord, Streit, List und Tücke, sie verleumden / und treiben üble Nachrede, sie hassen Gott, sind überheblich, hochmütig und prahlerisch, erfinderisch im Bösen und ungehorsam gegen die Eltern, / sie sind unverständig und haltlos, ohne Liebe und Erbarmen. / Sie erkennen, dass Gottes Rechtsordnung bestimmt: Wer so handelt, verdient den Tod. Trotzdem tun sie es nicht nur selber, sondern stimmen bereitwillig auch denen zu, die so handeln.“
Über diese Bibelstelle ist schon viel Tinte vergossen worden. Das kann hier nicht alles berücksichtigt werden, die Exegese ist möglichst knapp zu halten Kurz und gut, der mehr oder minder selbsternannte Apostel Paulus setzt hier homosexuelle Handlungen mit Götzendienst gleich, genauer: er erklärt Homosexualität zur Folge falscher religiöser Praxis. Wer den falschen Gott anbetet, wird zur Strafe durch den richtigen Gott homosexuellen Leidenschaften ausgeliefert. Worin allerdings der „gebührende Lohn“ für derlei „Verirrung“ besteht, darüber schweigt der Apostel sich aus, so interessant hier nähere Informationen auch sein müssten. Jedenfalls haben Götzendienst und Homosexualität sodann auch noch massive moralische Verkommenheit im Gefolge: Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier und Bosheit, Neid, Mord, Streit, List und Tücke, Verleumdung, üble Nachrede, Hass auf Gott, Überheblichkeit, Hochmut, Prahlsucht, böse Findigkeit, Ungehorsam, Unverstand, Haltlosigkeit, Lieblosigkeit und Unbarmherzigkeit. Immerhin aber sing diese durch und durch schlechten Menschen doch noch zu einer Einsicht fähig: „Sie erkennen, dass Gottes Rechtsordnung bestimmt: Wer so handelt, verdient den Tod.“
Nun setzt die Torah tatsächlich für eine ganze Latte von Vergehen den Todesstrafe fest, nicht zuletzt für sexuelles Fehlverhalten (oder das, was das mosaische Gesetz dazu erklärt), unter anderem auch für Sex eines Mannes mit einem Mann. (Lev 20,13: Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, dann haben sie eine Gräueltat begangen; beide werden mit dem Tod bestraft; ihr Blut soll auf sie kommen.)
Höchst trickreich verlangt Paulus im Römerbrief aber nicht, dass Götzendienst, moralische Minderwertigkeit und eben auch homosexuelle Betätigung mit dem Tode bestraft werden sollen, sondern er unterstellt den von ihm so wortreich vorgeführten Bösewichtern, dass sie selbst diese Norm anerkennen. Nach dem Motto: Na, den Gefallen kann man ihnen tun, sie haben den Tod verdient, also sollen sie ihn haben. (Allerdings war die damalige römische Gemeinde wohl schwerlich in der Lage, irgendwelche Exekutionen wegen Vergehen gegen jüdische Gesetze vorzunehmen.)

 

Indienststellung des „Schwulseins“
Das alles hat nun aber rein gar nichts mit dem zu tun, was Kempf schreibt. Denn statt, wie es nur konsequent wäre, für alle Normabweichler die Ausmerze zu verlangen, schreibt er, nachdem er sich auf den paulinischen Römerbrief berufen hat, über etwas, was daraus gar nicht hervorgeht: „Von daher darf die ethisch richtige Reaktion der Homosexuellen nicht in einer politischen Diffamierung dieser Affekte münden, sondern in einer vorbildhaften Lebensführung, die eben — ähnlich dem ehelosem Priestertum! — sich für die politische Gemeinschaft in Dienst stellen lässt. Durch derartig selbstbewusstes ‘Schwulsein’ verliert sich auf Dauer auch der Grund für jede begründete Abneigung; von wenigen traurigen Ausnahmen freilich abgesehen.“
Darf man hierin nun so etwas wie das Ziel der „Argumentation“ erblicken? Schwule (und vielleicht auch Lesben, bei denen es aber mit dem „Schwulsein“, ob selbstbewusst oder nicht, schwierig werden dürfte) sollen ethisch richtig reagieren und — ja was? Ein vorbildhaftes Leben führen. Aha. Wer, wenn man fragen darf, sollte das, wenn schon von Ethik die Rede ist, nicht? Liegt es nicht im Wesen ethischer Normen, dass sie alle verpflichten? Oder meint Kempf im Ernst, nur Homosexuelle sollten vorbildhaft leben, während Heterosexuelle, die mit ihrer Überlebenstaktik schon genug gestraft bzw. beschäftig sind, als durch und durch verkommene, jeder Ethik hohn sprechende Drecksäue durchs Leben gehen dürfen?
Worin vorbildliche Lebensführung im Detail besteht, darüber schweigt Kempf sich aus, er sagt nur, diese müsse oder solle sich „für die politische Gemeinschaft in Dienst stellen“ lassen und zwar „ähnlich dem ehelosen Priestertum“. Bisher dachte ich immer, die zölibatären römisch-katholischen Priester (und ähnliche Phänomene etwa im buddhistischen Mönchtum usw.) stünden im Dienst einer geistlichen Gemeinschaft und damit Gottes. Kempf geht es aber wohl nur um die Instrumentalisierung als solche, da sieht er über die Unähnlichkeiten von Politischem und Spirituellem halt mal hinweg.
Leider klafft da aber auch dann, wenn man diese Unschärfe übergeht, die argumentative Lücke, dass Kempf kein Sterbenswörtchen darüber sagt, worin um Himmels willen denn der Dienst der Homosexuellen an der politischen Gemeinschaft bestehen soll. Sollen endlich Homosexuelle und nicht Heterosexuelle Politik machen? He, das wäre vielleicht den Preis des Zölibates wert! Raus mit den Heteros aus den Parlamenten und Regierungsämtern und hinein mit den Homos. Wer hätte gedacht, dass Kempf so ein Fan von Westerwelle und Wowereit ist? Ob der Lebensführung allerdings tatsächlich als vorbildhaft durchgehen kann?
Nein, im Ernst: Obwohl man nur erahnen kann, was Kempf mit seinem geheimnisvollen Programm der ethisch richtigen Reaktion meint, bereitet schon die Möglichkeit, es könnte in die Richtung des oben schon erwähnten Neonazis Michael Kühnen gehen, einem „typischen“ oder her untypischen Linken wie mir Unbehagen.
„Kühnen bemüßigt sich (…) einer Kette biologistischer, sozialdarwinistischer und völkischer Argumentationen. So gelangt er unter anderem zu der Schlußfolgerung, daß Homosexualität von der Natur dazu bestimmt sei, ‘einer kleinen Anzahl von Männern zu ermöglichen, sich völlig unbeeinflußt von persönlichen Interessen ganz der kulturellen Entwicklung und dem Dienst an der Gemeinschaft zu widmen’. Die Homosexualität entspreche daher seiner Meinung nach dem ‘nationalsozialistischen Leitsatz’ ‘Du bist nichts, Dein Volk ist alles!’, da sich homosexuelle Männer zwar mit ihrer naturgegebenen Neigung der Fortpflanzung des arischen Volkskörpers entzögen, aber die kulturelle Entwicklung der ‘Herrenrasse’ befördern könnten. Dies könnten Homosexuelle beispielsweise in sogenannten Männerbünden leisten.“ (Markus Bernhardt: „Sein Kampf“, in: Gigi 32, August 2004)
Man wird nicht bestreiten können, dass es da Ähnlichkeiten mit Kempfs Ausführungen gibt. Und so verwundert auch das nicht: „Als ein Vorbild in Bezug auf Männerbünde, derer es in seinen Augen für eine kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft ‘bedurfte und bedarf’, sah Kühnen die katholische Kirche. (…) Kühnen begrüßt daher die organisatorische Trennung von Frauen und Männern sowohl bei den Katholiken als auch in der NSDAP. Mehr oder minder offen plädiert er dafür, eventuelle homosexuelle Neigungen Einzelner für die eigenen Zwecke zu benutzen.“ (ebd.)
Wohlgemerkt, ich sage nicht: Kempf ist wie Kühnen ein Neonazi. Ich weiß das schlicht nicht. Ich sage aber sehr wohl: Kempfs Gerede ist mit Kühnens Theorieversuch vereinbar und scheint diesem sogar zu folgen. Sollte Kempf Kühnens Ausführungen nicht kennen, hätte man das interessante Phänomen vor sich, dass nach ein Vierteljahrhundert derselbe Quatsch noch einmal verbreitet wird.

Der verlorene Grund begründeter Abneigung
Der letzte oben von mir zuletzt zitierte Satz Kempfs ist auch der letzte Satz der seines Textes und steht wieder in Fettdruck: „Durch derartig selbstbewusstes ‘Schwulsein’ verliert sich auf Dauer auch der Grund für jede begründete Abneigung; von wenigen traurigen Ausnahmen freilich abgesehen.“ Ich nehme an, hier soll der Gedankengang seinen Höhepunkt und Abschluss finden, weiß aber leider nicht recht, was Kempf eigentlich sagen will. Das „selbstbewusste Schwulsein“ dürfte identisch sein mit der vorbildlichen Lebensführung quasi-zölibatärer Homosexueller, die sich in den Dienst der politischen Gemeinschaft stellen lassen. Schwulsein darf man dann also (nach Kempf), aber nicht mit Männern ficken, sondern man soll, wenn ich’s richtig verstehe, die Triebenergie sozusagen für was Besseres gebrauchen. Das ist nun gewiss nicht die „perfide Politisierung der Sexualität“, über die etwas zu sagen Kempf im Titel angekündigt hatte, denn mit der müsste er eigentlich, wenn ich seinen, ähem, Gedankengang richtig einschätze, eher die — aus nicht nur meiner Sicht tendenziell entpolitisierenden — Emanzipationsbestrebung der CSD-Veranstaltungen bezeichnen; aber „perfide Politisierung“ wäre gar keine schlechte Charaktersierung des Kühnenschen und Kempfschen Homosexuelleninstrumentalisierungskonzeptes.
Wenn sie schon nicht „unmittelbar“ etwas zur Fortpflanzung beitragen, dann sollen halt mittelbar der Rasse, äh, der Volksgemeinschaft, äh, jetzt hab ich’s: der Gesellschaft dienen. Natürlich ohne den üblichen Schweinkram, sondern unter Triebverzicht. Dann klappt das auch mit dem Nachbarn, mit den vom Kempf unterstellten „Gründen“ der Abneigung entfalle auch diese selbst, behauptet Kempf, und die zuvor noch als „vegetativ“ beschriebenen „authentischen Aversionen“, die „natürliche affektive Abneigung“, das „instinktive Unwohlsein“ angesichts reproduktionsunwilliger Homos weicht beim anständigen Normalbürger, so scheint Kempf anzunehmen, entweder Gleichgültigkeit oder gar Achtung. (Wenn man dann noch die Heteros dazu bringt, nie ohne Pille oder Kondom zu vögeln, ist das Abendland mal wieder gerettet.)
Am Ende stehe doch etwas ratlos da. Was wollte Larsen Kempf denn eigentlich mit seinem anspielungsreichen Text? Schwule auffordern, den Sex einzustellen, um Politik zu mache? Wohl kaum. Zumal ihm die Schwulen darauf sicher erwiderten, dass sie beides könnten, und hoffentlich erwiderten, dass sie, wenn schon, ein ganz andere Politik machen wollten als die, die er sich vermutlich wünscht.
Kempf ist völlig auf dem falschen Dampfer und sieht das andere Ufer nur verschwommen. Weder gefährdet praktizierte Homosexualität den Fortbestand der Menschheit, noch bedrohen Homosexuelle die bürgerlichen Normen. Beides kann man übrigens kritisieren. Allerdings nicht mit Kempfs Mitteln und nicht im Rahmen seines (mutmaßlich rechtskonservativ-pseudokatholischen) Weltbildes. Kempf malt Windmühlen rosa an, um sie als Riesen auszugeben, und übersieht, dass die Zwerge das eigentliche Problem sind.
Die ausbleibende Politisierung der Sexualität ist das, woran die Gesellschaft leidet, es gibt nicht zu viel Systemkrise, sondern zu wenig radikale Systemkritik. Perfide ist der Mangel an emanzipatorischer Lust und der Wunsch nach unterschiedsloser Integration in unveränderte Verhältnisse, keineswegs perfide wären Kritik an Biologisierung der Moral und der herrschende unreflektierte Fortpflanzungszwang. Einst waren Schwule und Lesben dafür eingetreten, gesellschaftliche Veränderungen zu fordern, die in anderem als der Zuweisung tribaler Rechte bestehen müssten. Ausgerechnet in einer Zeit, in der solche grundsätzliche Gesellschaftskritik marginal geworden ist, die Homosexuellen als politische Gefahr zu denunzieren (und ihnen als Alternative die moralische Kastration andienen zu wollen), ist typisch rechts: nämlich an der Wirklichkeit der Gesellschaft und des politischen Bewusstseins vorbei.

 
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