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Zu einer Umfrage des Gallup Institute zur Selbstidentifizierung als LGBT

121.290 erwachsenen Bewohnerinnen und Bewohner der USA hat das Gallup Institute zwischen 1. Juli und 30. September 2012 telephonisch diese Frage stellen lassen (auf Englisch oder Spanisch): Identifizieren Sie persönlich sich selbst als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender? Darauf antworteten 3,4 % mit Ja, 92, 2 % mit Nein und Rest gab keine Antwort. (1)
Weitere Ergebnisse der Umfrage sind, dass sich 3,6 % der Frauen und 3,3 % der Männer als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender identifizieren; dass sich 3,2 % der „Non-Hispanic Whites“, 4,6 % der „Blacks“, 4,0 % der „Hispanics“ und 4,3 % der „Asians“ als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender identifizieren; dass sich Befragte im Alter von 18 bis 29 Jahren zu 6,4 % als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender identifizieren, solche im Alter von 30 bis 49 Jahren zu 3,2 %, im Alter von 50 bis 64 zu 2,6 % und die, die 65 Jahre alt oder älter sind, zu 1,9 %; dass sich von den 18- bis 29-jährigen Frauen 8,3 % als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender identifizieren und 4,6 % der Männer derselben Altersgruppe; dass von denen, die allenfalls eine high school besucht haben, 3,5 % als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender identifizieren, von denen, die ein college besucht, aber keinen Abschluss gemacht haben 4,0 %, von denen, die allenfalls einen College-Abschluss haben, 2,8 % und von denen, die nach dem college noch weitere Bildungseinrichtungen besucht haben, 3,2 %; dass von denen, die ein Einkommen von weniger als 24.000 Dollar im Jahr haben, sich 5,1 % als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender identifizieren, von denen mit einem Einkommen zwischen mindestens 24.000 und weniger als 60.000 Dollar 3,6 %, von denen mit einem Einkommen von mindestens 60.000 und weniger als 90.000 Dollar 2,8 % und von denen mit 90.000 Dollar oder mehr 2,8 %; dass sich von den Verheirateten 1,3 % als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender identifizieren, von den Verwitweten 1,9 %, von den Geschiedenen 2,8 %, von den Getrennten 3,7 &, von den in einer Lebensgemeinschaft (domestic partnership) 12,8 % und von denen, die alleine leben und nie verheiratet warten (single, never married) 7,0 %.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Wer sich in den USA als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender identifiziert, ist tendenziell eher weiblich, eher jung, eher „nicht-weiß“, eher einkommensschwach und eher von geringer formeller Bildungsqualifikation. (Ein Drittel derer, die die Frage, ob sie sich als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender identifizieren, mit Ja beantwortet haben, ist „nicht-weiß“, unter den Nein-Sagern sind es 27 %.)
So weit die wesentlichen Ergebnisse der Umfrage. Deren Gültigkeit kann und soll hier nicht in Frage gestellt werden. Es ist in jedem Falle bemerkenswert, dass es eine solch umfangreiche Umfrage gegeben hat, und die Ergebnisse sind durchaus interessant. Es stellen sich allerdings einige Fragen.

Erstens, warum wurden Umfragen solchen Umfanges nicht schon früher in Auftrag gegeben? Warum jetzt erst? Wie wurde diese Umfrage finanziert und von wem und was ist die dahinter stehende Absicht?
Zweitens, warum wurde, wenn man die Leute schon am Hörer hatte, nur nach Selbstidentifizierung (sowie „Rassenzugehörigkeit“, Geschlecht, Einkommen, Bildung) gefragt, nicht aber nach sexueller Praxis oder erotischer Präferenz?
Drittens, warum wurde nur nach der Einheitskategorie „lesbisch, schwul, bisexuell, transgender“ gefragt, aber nicht wenigstens ob lesbisch/schwul oder bisexuell?
Bei Gallup antwortet man, vorgwegnehmend, auf die hier zuletzt gestellte Frage: „Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, lesbische, schwule oder bisexuelle Orientierung und Transgender-Status zu messen. Sexuelle Orientierung kann bestimmt werden, indem man Identität misst oder sexuelle Verhaltensweisen und Vorlieben.“ [Übersetzung hier und im Folgenden von mir, St.B.] Und man setzt hinzu: „Gallup hat den breit angelegten Maßstab einer persönlichen Identifizierung als LGBT [lesbisch, schwul, bisexuell, transgender] gewählt, weil diese Zusammenstellung von vier Zuordnungen (statuses) üblicherweise in der aktuellen amerikanischen Diskussion verwendet wird und im Ergebnis eine maßgebliche kulturelle und politische Bedeutung hat. Eine offensichtliche Begrenztheit dieses Ansatzes besteht darin, dass es nicht möglich ist, Unterschiede zwischen Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Individuen zu untersuchen. Eine weitere Einschränkung ist, dass dieser Ansatz Selbstidentifizierung im weitesten Sinne misst und nicht aktuelles oder in der Vergangenheit liegendes sexuelles oder sonstiges Verhalten.“ Man ist sich also bei Gallup des Problematischen der Fragestellung sehr wohl bewusst — und hat doch genau so gefragt, wie man gefragt hat.
Entsprechend problematisch sind die Antworten. Damit stellt sich viertens die Frage, ob denn diese neueste Umfrage im Vergleich zu anderen, methodisch zum teil grundverschiedenen Umfragen und Studien, etwas Neues oder Anderes ermittelt hat. Und fünftens, und das ist wohl die entscheidende Frage, worin denn eigentlich die, um die Formulierung aufzugreifen, „maßgebliche kulturelle und politische Bedeutung“ (important cultural and political significance) besteht, wenn man eine demoskopisch fundierte Zahl nennen kann, wie viele Männer und Frauen in den USA sich selbst als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender identifizieren.
Zunächst einmal scheint ja ein Anteil von 3,4 % von sich selbst als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender Identifizierenden gering zu sein im Vergleich mit früher genannten Zahlen. War nicht immer von zehn Prozent Homosexuellen die Rede gewesen? Nun, diese Phantasiezahl hatte wohl immer nur einen symbolischen Wert. Sie ist eine von vielen, oft sehr unterschiedlichen Zahlen, die mit zum Teil grundverschiedenen Mitteln herausgefunden worden sein sollen.
Der erste, der an die Sache wissenschaftlich heranging, war bekanntlich der Biologe Alfred C. Kinsey, der mit seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zunächst das „Sexualverhalten des menschlichen Männchens“ und später auch das „Sexualverhalten des menschlichen Weibchens“ gründlich studierte und dazu 1948 und 1953 Zahlen veröffentlichte. Diese alten Zahlen können allerdings mit den jetzigen der Gallup-Umfrage ganz einfach deshalb nicht verglichen werden, weil jeweils eine ganz andere Sichtweise zu Grunde liegt.
Kinsey fragte nicht nach Selbstkategorisierung, sondern nach wirklichem Verhalten und wirklichem Begehren. Er teilte auch nicht einfach ein in „LBGT“ und „nicht-LBGT“, sondern entwarf bekanntlich eine komplexe Skala, die von 0 = ausschließlich heterosexuell, 1 = überwiegend heterosexuell, nur gelegentlich homosexuell, 2 = überwiegend heterosexuell, aber mehr als nur gelegentlich homosexuell, 3 = gleichermaßen hetero- und homosexuell, 4 = überwiegend homosexuell, aber mehr als nur gelegentlich heterosexuell, 5 = homosexuell, nur gelegentlich heterosexuell bis 6 = ausschließlich homosexuell reichte (und später um x = asexuell erweitert wurde).
Kinseys bahnbrechende (aber oft vergessene) Entdeckung ist, dass es nicht bloß Schwarz und Weiß gibt, sondern viel Grau, dass also die Menschen nicht einfach heterosexuell oder homosexuell sind, sondern sich je nach Akten und Phantasien, nach Gelegenheiten und Gewohnheiten unterschiedlich zuordnen lassen. Es kann einer von Sex mit Männer phantasieren, ohne ihn je zu haben, es kann eine, etwa aus gewerblichen Gründen, mit vielen Männern schlafen, um schließlich mit einer Frau die große Liebe zu finden. Kinseys Skala ist der Versuch, die empirische Vielfalt, die mit der berühmten Einsicht von Wilhelm Fließ und Sigmund Freud in die bisexuelle Natur des Menschen korrespondiert, in abzählbare Verhältnisse zu bringen.
Naturgemäß sind diese Zahlen kritisiert, nachgerechnet, verworfen und bestätigt worden. Darauf kommt es nicht an. Für die Sexualwissenschaft entscheidend ist, um es nochmals zu sagen, dass nicht einer überwältigenden Zahl von exklusiv Heterosexuellen eine winzige Zahl von exklusiv Homosexuellen gegenübersteht, sondern dass Ausschließlichkeit als solche minoritär ist — wenn auch, als Imagination und Ideal, vorherrschend — und Abweichungen von der Exklusivitätsnorm in großer Zahl vorkommen.
Hier ein paar Daten aus Kinseys Untersuchungen: „37 % der gesamten männlichen Bevölkerung haben zumindest einige physische homosexuelle Erlebnisse bis zum Orgasmus zwischen Pubertät und Greisenalter. Dies bedeutet nahezu zwei von fünf Männern. 50 % der Männer, die bis zum Alter von 35 ledig bleiben, haben vom Beginn der Pubertät an physisch homosexuelle Erlebnisse bis zum Orgasmus. 13 % der Männer reagieren erotisch auf andere Männer ohne tatsächliche homosexuelle Kontakte nach Beginn der Pubertät zu haben. 30 % aller Männer haben zumindest einzelne homosexuelle Erlebnisse oder Reaktionen (Werte 1-6) über eine Periode von mindestens drei Jahren zwischen dem Alter von 16 und 55 Jahren. Es handelt sich also um einen von drei Männern, die die frühen Jahre der Pubertät überschritten haben. 25 % der männlichen Bevölkerung haben mehr als einzelne Erlebnisse oder Reaktionen (Werte 2-6) über mindestens drei Jahre zwischen dem Alter von 16 bis 55 Jahren. In Durchschnittszahlen heißt das, dass etwa einer von vier Männern derart deutliche und fortgesetzte homosexuelle Erlebnisse entweder gehabt hat oder haben wird. 18 % der Männer haben mindestens genau so viele homosexuelle wie auch heterosexuelle Erlebnisse in ihrer Geschichte (Werte 3-6) über mindestens drei Jahre im Alter von 16 bis 55 Jahren. Dies ist mehr als einer von sechs in der weißen männlichen Bevölkerung. 13 % der Bevölkerung weisen stärkere Homosexualität als Heterosexualität auf (Werte 4-6) über mindestens drei Jahre im Alter von 16 bis 55 Jahren. Das bedeutet einer von acht aus der weißen männlichen Bevölkerung. 10 % der Männer sind mehr oder weniger ausschließlich homosexuell (Werte 5 oder 6) durch mindestens drei Jahre im Alter von 16 bis 55 Jahren. Das ist einer von zehn der weißen Bevölkerung. 8 % der Männer sind ausschließlich homosexuell (Wert 6) durch mindestens drei Jahre im Alter von 16 bis 55 Jahren, das heißt einer von dreizehn Männern. 4 % der weißen Männer sind ihr ganzes Leben hindurch ausschließlich homosexuell (nach Beginn der Pubertät).” (2)
Was Kinseys Zahlenmaterial insgesamt abzubilden versucht, ist ein komplexes Feld. Nicht persönliche Selbstzuschreibung einer einmal angenommenen Identität ist das Thema, sondern eine möglichst objektive Erkundung von sich aus teils vorübergehenden, teils lebenslangen Verhaltensweisen und Begehrensformen zusammensetzenden Sexualbiographien.
Was nun die Prozentzahlen als solche betrifft, so fällt ein Vergleich, falls er überhaupt sinnvoll versucht werden kann, sehr schwer. Den 4 % weißer Exklusivhomosexueller bei Kinsey stehen bei Gallup 3,3 % weißer Männer gegenüber, die sich selbst als „lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender“ identifizieren. Da von dem Gallup-Wert noch die nicht exklusiv homosexuellen Transgender-Personen und die Bisexuellen abzuziehen wären (und die rein theoretisch mögliche Zahl weißer Männer, die eine lesbische Identität zu haben meinen …), bleibt von den 3,3 % nicht mehr allzu viel übrig, jedenfalls deutlich weniger als 4.
Das ist verblüffend. Hat sich der Anteil der Schwulen an der weißen Bevölkerung der USA seit den 40er Jahren etwa stark reduziert? Und das trotz sexueller Revolution, trotz schwuler Emanzipationsbewegung, trotz permissiver Gesellschaft? Und was ist aus den 18 % geworden, die laut Kinsey gleich viele homosexuelle wie auch heterosexuelle Erlebnisse haben, also wohl als bisexuell zu bezeichnen wären? Und aus den 13 %, die mehr homosexuelle als heterosexuelle Erlebnisse haben? Ging von denen keiner ans Telefon oder hat man sie bloß in einer „falschen“, nämlich doch überwiegend heterosexuellen Phase erwischt?
Das Rätsel um die Zahlen ist gar keines. Kinsey und seine Mitarbeiter wollten anhand objektiver Kriterien mit objektivierbaren Methoden objektive Fakten über das Sexualverhalten ermitteln. (Ob ihnen das gelungen ist, steht auf einem anderen Blatt.) Die Gallup-Umfrage verlangte nach einer subjektiven Identifizierung. Der Kinsey-Report beschrieb die Vielfalt und wohl auch Widersprüchlichkeit sexueller Praktiken und Wünsche. Was das Gallup-Institut herausgefunden hat — weil es auch gar nichts anderes herausfinden wollte —, ist lediglich, wer bereit ist, sich einer vorgegebenen Kategorie zuzuordnen. Hier rechnerische Vergleiche anzustellen, hieße Äpfel mit Birnen zu verrechnen.
Identifizieren Sie persönlich sich selbst als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender? Was für eine merkwürdige Frage. Was soll man drauf antworten? Was sind das überhaupt für Kategorien? Niemand ist doch lesbisch und schwul und bisexuell. Und wer „transgender“ oder — der Begriff fehlt hier, wird aber sonst oft der Aufreihung angefügt — „intersexuell“ ist oder zu sein meint, kann ebenso gut heterosexuell wie homosexuell oder bisexuell oder asexuell sein (oder auf Sex mit Tier stehen oder mit leblosen Gegenständen oder …). Warum wird hier Identität mit Orientierung durcheinandergebracht? Und was ist mit der möglicherweise recht diversifizierten Praxis? Was mit den Offenheiten und Widersprüchen, den Veränderungen und Zielen?
Die die merkwürdige Frage haben stellen lassen, haben zugegeben, dass deshalb so und nicht anders gefragt wurde, weil die Vierfaltigkeit von LGBT „commonly used in current American discourse“, also gängig im gegenwärtigen amerikanischen Diskurs sei. Oben habe ich denselben Ausdruck mit „üblicherweise in der aktuellen amerikanischen Diskussion verwendet“ übersetzt, hier kommt es mir darauf an, das Augenmerk auf die Diskurs genannte Verbindung von Macht und Wissen, aus das den wahrheitsproduzierenden Effekt diskursiver Praktiken zu richten.
Man erhält nämlich eine ganz andere „Wahrheit“ je nach dem, ob man fragt, was jemand tut oder tun will, um daraus (wie zuverlässig oder unzuverlässig auch immer) auf sein Sein zu schließen, oder ob man eine Selbstidentifizierung in engem Begriffsrahmen abfragt. Ostentativ hat die Gallup-Umfrage auf die Erhebung von Präferenzen und Praktiken verzichtet und (von einer Frage nach der Selbsteinschätzung der wirtschaftlichen Zukunft abgesehen) lediglich Seinskategorien ermittelt: Alter, Geschlecht, „Rasse“, Einkommensklasse, Bildungsschicht — und eben auch „sexuelle Identität“. Damit fällt ihr Erkenntniswert weit hinter alle sexualwissenschaftlichen Studien seit Kinsey zurück.
Wer nämlich auf die Frage, ob er sich selbst als LBGT identifiziere, mit Ja antwortet, sagt im Grunde nichts über sein Sexualleben aus, geschweige denn über seine Wünsche und Möglichkeiten, sondern akzeptiert schlicht die Zugehörigkeit zu einer imaginären community. Statt aber selbstgewähltes Kürzel eines „strategischen Essenzialismus“ zu sein — man nennt sich „schwul“, um zu markieren, dass man auf eine noch näher zu bestimmende Weise von der Heteronorm abweicht —, wird das Etikett LBGT so zu einer identitätspolitischen Selbstverpflichtung auf ein bestimmtes Bild, das andere (und durch diese das sich so identifizierende Subjekt selbst) davon haben, was es heißt, ausdrücklich nicht oder nicht richtig heterosexuell zu sein.
Niemand aber „ist“ LBGT und niemand kann es sein. Wer diese Identität zu haben meint, verwechselt sein ureigenstes Selbstsein mit einer sozial verordneten „Individualität“. Es gibt gute Gründe für diese Verwechslung. Um sich selbst zu verstehen und anderen verständlich zu machen, muss jedes Subjekt auf ihm eigentlich unangemessene, weil zu allgemeine Kategorien zurückgreifen. Das ist nicht weiter schlimm, sofern der Prozess der Verständigung nicht stehen bleibt, sondern fortschreitet. Diskursive Praktiken aber, denen es bloß um handhabbare Etikettierungen zu tun ist, stellen das Verstehen still. Sie simulieren ein Verständnis, das freilich ein Verstehen von nahezu nichts, da in Wahrheit kein lebender Mensch mit seiner „Identität“ identisch ist.
Die Schwulenfeinde* reiben sich also etwas zu früh die Hände. (3) Es stimmt, der von Gallup erfragte Wert von 3,4 % der US-amerikanischen Bevölkerung, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender ist erstaunlich gering, geringer jedenfalls als die meisten früher erhobenen oder geschätzten Zahlen von homosexuell betätigenden Menschen. Das bedeutet aber nicht, dass es weniger „Lesben“, „Schwule“, „Bisexuelle“ (und „Transgender-Personen“) gibt, als bisher angenommen, sondern nur, dass zwischen der Zwangsidentität „LBGT“ — und der auf ihr angeblich beruhenden „community“ samt ihren selbsternannten Repräsentanten — und dem wirklichen Leben nur ein ziemlich loser Zusammenhang besteht.
Es bedeutet aber auch, dass die vorherrschende Identitätspolitik ins Leere läuft. So zu tun, als seien LBGT (oder LBGTI*Q) eine Gruppe, ein Stamm, eine Ethnie oder wenigsten ein Bevölkerungsteil wie Mormonen oder Juden, Irischstämmige oder „Schwarze“, Linkshänder oder Legastheniker, war von Anfang an verfehlt. Indem man sich an Feminismus und Bürgerrechtsbewegung orientierte, konstruiert man ein Subjekt, das den „Frauen“ oder den „Afro-Amerikanern“ zu korrespondieren hatte und dessen Befreiung oder Emanzipation man anstrebte, auch wenn man am Ende nicht mehr wusste, in was anderem diese bestehen sollte als in der Integration in die ansonsten unverändert weiterbestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse.
Der für europäische Aufbrüche so wichtige (wenn auch letztlich wirkungslose) Gedanke einer Veränderung der Gesellschaft als ganzer ging im amerikanischen Modell der konsumistisch-hedonistischen Nischenexistenz völlig verloren. Man kümmerte sich darum, die Homosexuellen zu „befreien“, das heißt: sie zu gleichberechtigten Marktteilnehmern zu machen, statt die Homosexualitäten zu befreien, das heißt: die außerhalb (und in Wahrheit letztlich auch innerhalb) des Homosexuellseins der Homosexuellen unangetastet bleibende hegemoniale Heterosexualität in Frage zu stellen und, wo möglich, zu bekämpfen.
Man tat, dem amerikanischen Modell folgend, was andere Sondergruppen auch tun, man wählte Parade und Flagge, um sich „sichtbar“ zu machen, also einschätzbar, zuordenbar, ungefährlich. Was den Irischstämmigen ihr St Patrick’s Day, ist den LGBTI*Q ihr Christopher Street Day, und zeigen jene Grün, so diese den Regenbogen. Schwul oder lesbisch zu sein hörte, nach einem kurzen Moment revolutionärer Gestimmtheit, auf, ein Anspruch zu sein — nämlich einer nicht bloß auf individuelles oder paarweises Glück, sondern auf Gerechtigkeit und Freiheit für alle und jeden —, und wurde zur Identität. Darin nicht prinzipiell unterschieden von Veganertum oder der Vorliebe für country music.
Damit wurde aber, ein scheinbar paradoxer Effekt, diese Marke für alle diejenigen uninteressant oder gar abstoßend, die zwar gleichgeschlechtliche Erfahrungen haben oder haben wollen, aber nicht willens sind, sich deswegen mit der Vorgabe, wie man als LGBT-Person gefälligst zu sein hat, zu identifizieren, die sich also nicht wiederkennen in den lesbischundschwulenundsoweiter Repräsentationen der Regenbogengemeinschaft und die deshalb den Schritt nicht machen, der als obligatorisch gilt, um etwas anderes als heterosexuell sein zu dürfen: Raus aus dem Schrank und rein in die Homonormativität.
Am Rande sei vermerkt, dass sexualwissenschaftliche Studien darauf hinweisen, dass unter Jugendlichen, die früher doch als besonders wenig festgelegt und offen für Selbsterfahrung galten, homosexuelle Aktivitäten (wie übrigens auch Masturbation) auf dem Rückzug sind. und das in einer sich als immer liberaler, immer toleranter, immer permissiver verstehenden Gesellschaft! Doch die Erklärung liegt nahe: In demselben Maße, in dem Homosexualität erlaubt, aber an die Selbstbestimmung als Homosexueller gebunden wird, wird sie für die meisten zur Unmöglichkeit. Der eine oder andere Jugendliche würde wohl ganz gern mit seinem Kumpel rummachen, aber schwul, nein, schwul ist er selbstverständlich nicht. Es ist okay, wenn du schwul bist, lautet die Drohbotschaft, aber dann sei es auch gefälligst. Homosexualität auf das Homosexuellsein er Homosexuellen zu reduzieren, hat also den gewünschten Effekt der Beschränkung durch Ab- und Ausgrenzung.
Die 3,4 % der erwachsenen US-amerikanischen Bevölkerung jedenfalls, die bei der Gallup-Umfrage angaben, sich als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender zu identifizieren, sind nicht oder nur zum Teil die, die jemand wie ich meint, wenn er von Schwulen (oder Schwulen und Lesben) spricht. Die sind nämlich noch viel weniger. Und so soll es auch sein. Die sind nämlich gar nicht abzählbar. Schwulsein ist nicht messbar. Und umgekehrt gilt: Was abzählbar und messbar ist, hat mit Homosexualität, wie ich alte Emazipationsschwuchtel sie verstehe, nichts zu tun.

(1) http://www.gallup.com/poll/158066/special-report-adults-identify-lgbt.aspx
(2) Schwarz, Weiß und Grau.
(3) Etwa der Family Research Council, der auf seiner Website mitteilt: When Gallup asked people to estimate how many Americans were homosexual in 2011, most guessed 25%. Turns out, they were about 22% off. The actual number, Gallup reports today, is about 3.4%—a startling statistic for most people who just naturally assumed the media saturation was driven by a big population. (…) For years, these 3.4% have seemed to enjoy 100% accommodation. As a community, they’ve gone out of their way to demand special treatment—even trampling the freedom and values of the other 97% to secure it. (http://www.frc.org/washingtonupdate/gallup-trots-out-surprising-new-stats)

 

 
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