Oscar Wilde: So eine Art Anarchist PDF Drucken E-Mail

„Der Sozialismus ist nur deshalb von Wert, weil er zum Individualismus führt“. — Eine Würdigung von Oscar Wildes Gesellschaftskritik aus Anlass seines 100. Todestages am 30. November 2000.

Oscar Wilde ist einer der bekanntesten irischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Er galt und gilt als Meister der geistreichen Konversation und des geschliffenen Bonmots, war und ist berühmt für seine Vorliebe für Paradoxien und seine hemmungslosen Verehrung des Schönen. Den meisten ist Wilde besonders als Verfasser unterhaltsamer Gesellschaftskomödien bekannt, vielleicht noch als Autor des Romans „Dorian Gray“ oder kunstvoller Märchen. Dass Wilde jedoch auch ein bemerkenswerter Essayist war, wird zumeist übersehen. Dabei findet sich unter seinen Arbeiten auch eine so erstaunliche Abhandlung wie „The soul of man under socialism“, auf Deutsch: „Die Seele des Menschen im Sozialismus“.
Es heißt, der Anlass des Textes sei ein Vortrag George Bernard Shaws gewesen, den Oscar Wilde in einer Versammlung der Fabian Society, einer Vereinigung englischer Sozialreformer, gehört habe; von Shaws Ideen angeregt, aber nicht überzeugt, habe Wilde sich daran gemacht, seine eigenen Gedanken zur Verbesserung der Gesellschaft zu formulieren. „Sehr einfallsreich und unterhaltend, hat aber nichts mit Sozialismus zu tun“, soll Shaws Reaktion auf Wildes Essay gewesen sein. [Nicht jeder lässt eben alles als Sozialismus gelten.]
Tatsächlich ist Wildes unkonventioneller Text ist eher ein Pamphlet als eine theoretische Arbeit. Immerhin war Wilde Künstler, nicht Wissenschaftler. Es ist nicht bekannt, ob er je auch nur eine Zeile von Karl Marx gelesen hat, und auch andere sozialistische oder sozialutopistische Autoren werden im Text nicht erwähnt. Allerdings lassen manche Anspielungen durchaus vermuten, dass Wilde mit den zu seiner Zeit besonders heftig geführten Diskussionen über die sogenannte „soziale Frage“ und über alternative Gesellschaftsmodelle zumindest oberflächlich vertraut war.
Bedenkt man die Vereinnahmung des einschlägigen Diskurses durch den „wissenschaftlichen“ Sozialismus, verwundert es nicht, dass Wildes Essay kaum je als ernsthafter Beitrag zur Gesellschaftskritik gewürdigt wurde. Das soll hier ein klein wenig nachgeholt werden. Den Leserinnen und Lesern sei es allerdings dringend anempfohlen, den Essay — der auch auf Deutsch in verschiedenen Ausgaben erhältlich ist — selbst nachzulesen. Sie können dabei ein Denken entdecken, das ebenso unterhaltsam wie intelligent, ebenso einfach wie nachdenkenswert ist.

Her mit dem Sozialismus!
„Der größte Nutzen, den die Einführung des Sozialismus brächte, liegt ohne Zweifel darin, dass der Sozialismus uns von der schmutzigen Notwendigkeit, für andere zu leben, befreite, die beim jetzigen Stand der Dinge so schwer auf fast allen Menschen lastet.“ Diese Entfremdung durch die kapitalistische Ausbeutung, von der ja tatsächlich sowohl die „Armen“ wie die „Reichen“ betroffen sind, nennt Wilde originellerweise „Altruismus“: Man lebt nicht für sich, nicht so, wie man wollte, wenn man könnte, sondern man lebt für andere.
Ganz entschieden wendet sich Wilde gegen die zu seiner Zeit so vehement betriebenen Versuche, gesellschaftliche Missstände durch Wohltätigkeitsarbeit — nicht zuletzt unter dem Vorwand christlicher Nächstenliebe — zu lindern, statt sie abzuschaffen. „Sie suchen das Problem der Armut dadurch zu lösen, dass sie den Armen am Leben halten, oder (…) dadurch, dass sie ihn unterhalten. Aber das ist keine Lösung: das Übel wird schlimmer dadurch. Es wäre ein vernünftigeres Ziel, zu versuchen, die Gesellschaft auf einer Grundlage neu zu errichten, auf der Armut unmöglich wird.“
Eben das nennt Wilde Sozialismus. „Jedes Mitglied der Gesellschaft wird an der allgemeinen Wohlfahrt und dem Gedeihen der Gesellschaft teilhaben (…)” Der „Sozialismus, Kommunismus, oder wie immer man ihn nennen mag“ werde „die Umwandlung von Privateigentum in öffentliches Vermögen“ und das „Ersetzen der Konkurrenz durch Kooperation“ bewirken.
Allerdings ist für Wilde der „Sozialismus nur deshalb von Wert, weil er zum Individualismus führt“. Die freie Selbstentfaltung des und der Einzelnen ist das eigentliche Ziel, um das es geht. Ausführlich erörtert Wilde die Beschränkungen vor, die das Individuum durch die missgestaltete Gesellschaft erfährt, und setzt große Hoffnungen in die Wohltaten des Sozialismus: „Nach der Abschaffung des Privateigentums werden wir also den wahren, schönen, gesunden Individualismus haben. Niemand wird sein Leben damit vergeuden, dass er Dinge und die Symbole für Dinge anhäuft. Man wird leben. Zu leben ist die seltenste Sache von der Welt. Die meisten Leute existieren, das ist alles.“

„Alles Regieren ist verfehlt“
„Der Staat hat das Nützliche zu tun. Das Individuum hat das Schöne zu tun.“ Dass Wilde die vom Sozialismus ermöglichte freie Selbstentfaltung nach dem Bild der Selbstverwirklichung des Künstlers modelt, kann man ihm nicht verdenken, schließlich war er selbst ein Künstler und ein Liebhaber aller Künste. Der Nachdruck, mit dem er eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft, Individualität und Kreativität zusammen denkt, erinnert an Joseph Beuys und dessen bekanntesten Satz: „Jeder ist ein Künstler.“ Das heißt ja nichts anderes als: Jeder wäre ein Künstler, jede wäre eine Künstlerin, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse das kreative Potential der Individuen — wozu auch ihre Fähigkeit gehört, mit anderen gleichberechtigt zusammenzuarbeiten — nicht unterdrücken bzw. in ihren Dienst stellen würden.
„Die Regierungsweise, die am besten zum Künstler passt ist: überhaupt keine Regierungsweise.“ Den Staat als Staat möchte Wilde ersetzen durch den Staat als freiwillige Vereinigung zur Organisation der Arbeit, zur Herstellung und Verteilung von Waren. Der nicht-egoistische Individualist hat ja auch gar kein Interesse daran, über andere zu herrschen, denn er gewinnt dadurch keine anhaltende Bereicherung seiner Persönlichkeit. „Wo immer es einen Mann gibt, der Autorität ausübt, gibt es einen Mann, der sich dieser Autorität widersetzt“, sagt Wilde und nimmt damit Michel Foucaults These vorweg, wo Macht sei, sei auch Widerstand.
Zur konkreten ökonomischen Organisation des Sozialismus äußert sich Wilde nicht. Er stellt allerdings fest: „Wenn es keine Sklaven gibt, die die widerwärtige, abstoßende und langweilige Arbeit verrichten, wird Kultur und Beschaulichkeit fast unmöglich.“ Dem hätte auch Wildes Zeitgenosse Nietzsche zugestimmt; anders als dieser lehnt Wilde jedoch die „Sklaverei von Menschen“ als ungerecht und entwürdigend entschieden ab und fordert eine „Sklaverei der Maschine.“

Freiheit und Schönheit
Er sei wohl so eine Art Anarchist, soll Wilde in einem Interview gesagt haben. Wohl deshalb war er auch besonders hellsichtig gegenüber möglichen Deformationen des sozialistischen Ideals. „Es ist (…) klar, dass es mit dem autoritären Sozialismus nicht geht. Unter dem jetzigen System können viele Leute immerhin in einem gewissen Maß an Freiheit, Ausdrucksfähigkeit und Glück leben; unter einem Industriekasernen-System oder einem System der wirtschaftlichen Gewaltherrschaft hätte niemand solche Freiheiten. (…) Nur in freiwilligen Vereinigungen ist der Mensch schön.“
Dieser Sozialismus der freien Entfaltung, der Schönheit, Freiwilligkeit und Zusammenarbeit wird selbstverständlich nicht einfach von selbst kommen. „Was von der Seite der Unternehmer über Agitatoren gesagt wird, ist unzweifelhaft wahr. Agitatoren sind eine Art zudringlicher Störenfriede, die sich einer völlig zufriedenen Gesellschaftsschicht zuwenden und ihr die Saat der Unzufriedenheit säen. Das ist der Grund, warum Agitatoren absolut notwendig sind. Ohne sie gäbe es in unserem unvollkommenen Zustand keine Bewegung in Richtung Zivilisation.“
Da die Verhältnisse im Kapitalismus in Wildes Darstellung nicht weiter kompliziert, sondern erschreckend einfach sind, bedarf es, um Missstände zu beseitigen, nicht so sehr umständlich zu erlangender Einsichten, sonder vor allem des Willens, sich gegen die ungerechten Verhältnisse zu wehren. „Ungehorsam ist für jeden, der die Geschichte kennt, die ursprüngliche Tugend des Menschen. Durch Ungehorsam erst gibt es Fortschritt, durch Ungehorsam und Rebellion.“
Darum ist Wilde über jene „Armen“ entsetzt, die sich mit ihrem Los abfinden und sich in den gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie nun einmal sind, einrichten. „Ich kann wohl verstehen, dass jemand Gesetze akzeptiert, die das Privateigentum schützen und seine Akkumulation gestatten, solange er selbst unter diesen Bedingungen ein schönes und geistig anspruchsvolles Leben führen kann. Aber ich vermag kaum zu glauben, dass jemand, dessen Leben von Gesetzen beeinträchtigt und verunstaltet wird, Ruhe findet, solange sie noch gelten.“

Der widerwärtigste aller Fälle
Wildes Essay gehört wohl zum Besten, was je über Sozialismus und Individualismus geschrieben wurde. Gerade die Schlichtheit seiner Argumente, die nicht von soziologischen, wirtschaftstheoretischen, philosophischen Erwägungen beeinträchtigt wird, ist seine Stärke. Wildes so naiv scheinende Argumentation ist gerade deshalb besonders gewitzt. Der individualistische, antiautoritäre Sozialismus, den Wilde fordert, bedarf keiner komplizierten Rechtfertigung, seine Notwendigkeit kann von jedem Gutwilligen mit ein bisschen Vernunft eingesehen werden. Damit wird allen eine Abfuhr erteilt, die gesellschaftliche Veränderungen an von ihnen erworbenes Herrschaftswissen und von ihnen ausgeübte Machttechniken binden wollen.
Oscar Wilde war Individualist und (zugegebermaßen ein ästhetizistischer) Sozialist. Die gelebte Verbindung dieser beiden Haltungen — und nicht, wie manche es immer noch sehen wollen, seine „Veranlagung“ — wurde ihm auch zum Verhängnis. Als Wilde 1895 wegen Homosexualität zu zwei Jahren Zuchthaus und Zwangsarbeit verurteilt wurde, erklärte der Richter, dies sei der widerwärtigste Fall, den er jemals verhandelt habe. Was des Gerichtes und der Öffentlichkeit Empörung aufgestachelt hatte, waren jedoch bei weitem nicht so sehr die Details aus Wildes und seiner Partner Sexualleben, sondern der unerhörte Umstand, dass im Prozess zu Tage kam, Wilde gleichberechtigten gesellschaftlichen Umgang mit Angehörigen der sogenannten Unterklassen gepflegt hatte. Wenn er sich mit seinem „Laster“ doch wenigstens auf Männer seines Standes beschränkt oder mit den „Proleten“ bloß rein „geschäftliche“ Beziehungen gehabt hätte! Dass Wilde sexualmoralische und soziale Schranken gleichermaßen ignoriert hatte, machte aus seiner Vorliebe für Jugend und Schönheit einen Affront. Wilde wurde dafür schwer bestraft. Zwei Jahre verbrachte er in Gefängnissen, seine Frau ließ sich von ihm scheiden, der Kontakt zu seinen beiden Söhnen wurde ihm untersagt, sein Eigentum wurde versteigert, gesellschaftlich war er geächtet. Nach seiner Haftentlassung lebte er unter falschem Namen im Ausland. Verarmt und vereinsamt starb Wilde schließlich am 30. November 1900 in Paris.

Eine Fassung dieses Textes erschien in: Volksstimme 48 (30. November 2000). Für die Wiederveröffentlichung hier wurden Fehler korrigiert und die Rechtschreibung angepasst.

 

 
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