Arbeit, Sklaverei und Kunst bei Friedrich Nietzsche und Oscar Wilde PDF Drucken E-Mail

Ein haitianisches Sprichwort lautet: „Wenn die Arbeit etwas Gutes wäre, würden die Reichen sie nicht den Armen überlassen.“ Diese Behauptung, so scheint mir, leuchtet unmittelbar ein und ist kaum zu widerlegen. Sie bringt die Erfahrung vieler Generationen sehr armer Menschen zum Ausdruck, deren Vorfahren einst aus Afrika verschleppt worden waren, um sich als Sklaven auf den Zuckerrohrfeldern aus Europa stammender Plantagenbesitzer zu Tode zu arbeiten. Sie erinnert daran, dass Arbeit für diejenigen, die gezwungen sind, sie zu tun, etwas Unangenehmes, Belastendes, Einschränkendes, Schmerzhaftes, ja sogar Tödliches sein kann.
„Wenn die Arbeit etwas Gutes wäre, würden die Reichen sie nicht den Armen überlassen“: Mit dieser Behauptung ist aber auch in Frage gestellt, ob es sich wirklich so und nur so verhält, wie es gemeinhin dargestellt wird, dass nämlich die Neuzeit nach gewissen Vorarbeiten in Mittelalter und Antike ein Ethos der Arbeit entwickelt habe, demzufolge der Mensch arbeiten wolle und nichts als arbeiten, um sich auf diese Weise als moralisches Subjekt zu behaupten.
„Arbeit macht das Leben süß, macht es nie zur Last, der nur hat Bekümmernis, der die Arbeit hasst“, reimte man (1) im ausgehenden 18. Jahrhundert. Dieser pietistischen Schönfärberei hat man im Laufe der Zeit manch flotten Spruch entgegengehalten: „Arbeit macht das Leben süß, Faulheit stärkt die Glieder.” Oder: „Arbeit macht das Leben süß, aber Müßiggang schmeckt auch nicht bitter.“ Und schließlich wird auch schon mal schlicht festgestellt: „Wer die Arbeit kennt und sich nicht drückt, der ist verrückt.“

Solche Sprüche verweisen auf die Kehrseite der Arbeit, dass diese nämlich im Wesentlichen lästig, ja unangenehm ist, weil sie der menschlichen Neigung zu Müßiggang und Vergnügen zumeist zuwiderläuft. Die Geschichte der abendländischen Arbeitsmoral wäre wohl höchst unvollständig erzählt, wenn dabei nicht berücksichtigt würde, dass zu jeder Moral unbedingt auch die Verstöße gegen sie gehören, dass also die offizielle Wertschätzung der Arbeit immer begleitet wurde von Faulenzerei, Drückebergertum und der Lust, dem Herrgott einen Tag zu stehlen und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen.
Aber außer einer Vorderseite und einer Kehrseite hat die Arbeit auch noch eine dritte Seite, sozusagen eine Unterseite. Denn wenn es einerseits so ist, dass Arbeit adelt, den Charakter stählt und das ewige Heil oder doch immerhin das diesseitige Kapital erwirtschaftet; und wenn sie andererseits lästig ist; so ist sie drittens immer noch lästig, aber trotzdem muss sie irgendjemand machen — am besten jemand anderer.
Ein Beispiel: Selbst in frühneuzeitlicher Handelsherr mochte noch so sehr vom calvinistischen Ethos der Arbeit durchdrungen sein, auf die Idee, er müsse die Fußböden seines Kontors selber schrubben, wäre er mit Sicherheit nicht gekommen …
Denn Profit hin, Askese her: Zum Unterschied von tugendhaftem Tätigsein und nichtsnutzigem Nichtstun kam immer schon der Unterschied von vornehmer und gewöhnlicher Arbeit, von ehrbarer und verächtlicher, von hoher und niedriger. Und für die sogenannten niedrigen Arbeiten hatte man üblicherweise jemanden, der sich darum kümmerte, im Zweifelsfall eine Dienstmagd — und wenn man sie dafür auch schon mal heiraten musste. Wer es sich leisten konnte, es eben deshalb konnte, weil er höheren Tätigkeiten nachging, der bezahlte andere dafür, dass sie ihren Anteil am Ethos der Arbeit durch das Verrichten niederer Dienste ableisteten, solcher Tätigkeiten nämlich, die für diejenigen, die etwas Besseres zu tun haben, erniedrigend wären.
Arbeiten ja, aber schön brav nach Ständen geordnet, sodass nur die unteren Klassen sich die Hände schmutzig machen müssen, während die höheren Kreise darum doch nicht weniger moralisch sind. Ethos der Arbeit ja, aber der ökonomische Wert der Arbeit und ihr moralischer Mehrwert dürfen nicht nach den damit verbundenen Unannehmlichkeiten beurteilt werden —, sonst müssten nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage ja Kanalräumer und Klofrauen besser bezahlt werden und angesehener sein als Fabriksdirektorengattinen und Berufspolitiker —, sondern wert und Mehrwert sind so zu bemessen, dass sie denen zugute kommen, die auch sonst das Sagen haben. So ist das nämlich im real existierenden Kapitalismus.
Im Sozialismus wird das alles selbstverständlich ganz anders werden. Doch einmal ganz abgesehen von der Frage, wie man ihn den kriegt, den Sozialismus, wird zweifellos auch in einer befreiten Gesellschaft das Problem bestehen bleiben, dass irgendwer die Drecksarbeit machen muss. Wer also soll sie verrichten, die notwendigen, aber unangenehmen, weil langweiligen, schmutzigen, schweren oder gefährlichen Arbeiten?
Ich werde im Folgenden zwei sehr unterschiedliche Antworten auf diese Frage nach der Zukunft der niederen Tätigkeiten in der Gesellschaft vorstellen. Die eine stammt von Friedrich Nietzsche und lautet: Die Sklaverei muss wieder her! Die andere gibt Oscar Wilde, der meint, Sklaverei komme überhaupt nicht in Frage, die langweiligen, schmutzigen, schweren oder gefährlichen müssten von Maschinen verrichtet werden. Bevor ich mich aber diesen beiden Thesen zuwende, möchte ich noch ein paar Worte dazu sagen, wie ich überhaupt dazu komme, ausgerechnet Nietzsche und Wilde um Auskunft zu fragen und was diese beiden denn miteinander zu schaffen haben.

Nietzsche und Wilde
Friedrich Nietzsche und Oscar Wilde waren Zeitgenossen, die einander nicht kannten. Nietzsche, geboren am 15. Oktober 1844, starb am 25. August 1900. Wilde wurde am 16. Oktober 1854 geboren und starb am 30. November ebenfalls 1900. Der eine wurde also zwar zehn Jahre ältere als der andere — verbrachte allerdings das letzte Jahrzehnt in geistiger Umnachtung.
Nietzsche und Wilde hätten einander kennen, ja einander sogar begegnen können, denn, um nur ein Beispiel zu nennen, in demselben Jahr 1877, in dem Friedrich Nietzsche, Professor der Philosophie zu Basel, zum ersten Mal längeren Aufenthalt in Italien nahm, reiste auch Oscar Wilde, Student aus Oxford, in Begleitung seines Griechisch-Professors nach Italien und Griechenland. — Diese Reise Wildes, nebenbei sei’s vermerkt, führte dazu, dass er den Beginn des neuen Trimesters versäumte und deshalb vorübergehend der Universität verwiesen wurde, was Wilde zu der Bemerkung veranlasste: „Man hat mich relegiert, weil ich der erste Student war, der Olympia besuchte.“ (2)
Sie hätten einander also kennen können, kannten einander aber nicht. Das mag einer der Gründe dafür sein, dass es, so weit ich weiß, noch niemand unternommen hat, Nietzsche und Wilde, Wilde und Nietzsche gründlich und ausführlich aufeinander zu beziehen. Und doch ist der Gedanke, es gäbe da Bezüge, wohl nicht völlig abwegig. Vor 97 Jahren kam er bereits dem anarchistischen Publizisten Gustav Landauer und erst unlängst dem Literaturkritiker Joachim Campe (3).
Und auch Thomas Mann sagte 1947 in seinem Vortrag „Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung“: „Es ist überraschend, die Nähe mancher Aperçus von Nietzsche mit den keineswegs nur eitlen Attacken auf die Moral festzustellen, mit denen ungefähr gleichzeitig Oscar Wilde, der englische Ästhet, sein Publikum schockierte und zum Lachen brachte. Wenn Wilde erklärt“ — ich übersetze de Zitate, die Mann auf Englisch bringt, versuchsweise ins Deutsche — „’So sehr wir uns bemühen, wir können nicht zur Wirklichkeit hinter der Erscheinung der Dinge gelangen. Und der schreckliche Grund dafür ist vielleicht, daß es an den Dingen keine Wirklichkeit gibt abseits ihrer Erscheinung’; wenn er von der ‘Wahrheit der Masken’ und vom ‘Verfall der Lüge’ spricht, wenn er ausbricht: ‘Für mich ist Schönheit das Wunder aller Wunder. Nur oberflächliche Leute urteilen nicht nach dem, was etwas scheint. Das wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare’; wenn er die Wahrheit etwas so Persönliches nennt, daß niemals ein und dieselbe Wahrheit von zwei Geistern gewürdigt werden kann, wenn er sagt: ‘Jede plötzliche Regung, die wir unbedingt ersticken wollen, brütet in unserer Seele und vergiftet uns .. Man kann eine Versuchung nur loswerden, indem man ihr nachgibt’, und: ‘Laß dich nicht auf den Pfad der Tugend verführen!’ — so könnte das alles sehr wohl bei Nietzsche stehen. Und wenn man andererseits bei diesem liest: ‘Der Ernst, dieses unmißverständliche Abzeichen des mühsamen Stoffwechsel.’ — ‘In der Kunst heiligt sich die Lüge und hat der Wille zur Täuschung das gute Gewissen auf seiner Seite.’ — ‘Wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, daß die falschesten Urteile uns die unentbehrlichsten sind.’ — ‘Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurteil, daß Wahrheit mehr wert ist als Schein.’ — so ist unter diesen Sätzen keiner, der nicht in einer von Oscars Komödien vorkommen könnte and get a laugh in the St. James Theatre.“ (4) — Ich meine, Thomas Mann hat Recht.

Eine Art Anarchist
Im Februar des Jahres 1891 erschien in der Londoner Zeitschrift „Fortnightly Review“ ein Essay unter dem Titel „The Soul of Man under Socialism“, auf Deutsch etwa „Die Seele des Menschen im Sozialismus“ (5). Der Autor war jener Oscar Wilde, der vielen heute nur noch als Verfasser eines einst skandalösen Romans und einiger noch immer amüsanter Komödien bekannt ist, die mit Bonmots, Aperçus und witzigen Paradoxa nur so gespickt sind, sowie vielleicht noch als wohl bekanntestes Opfer des antihomosexuellen Strafrechts des ausgehenden viktorianischen Zeitalters. Aber Wilde war auch ein glänzender Essayist, und neben „Die Entstehung der historischen Kritik“, „Die Wahrheit der Masken“ und „Der Niedergang der Lüge“ gehört „Die Seele des Menschen im Sozialismus“ zu Wildes eindrucksvollsten Arbeiten.
Wie die Biographen übereinstimmend berichten (6), geht dieser Essay vermutlich darauf zurück, dass Wilde an einer Veranstaltung der sozialreformerischen Fabian Society teilgenommen hatte, bei der George Bernhard Shaw einen Vortrag über Sozialismus hielt. Mit dem Gehörten unzufrieden, habe Wilde bald darauf seine eigenen Gedanken zur Verbesserung der Gesellschaft zu Papier gebracht. Als Shaw dann später diesen Essay las, soll sein Kommentar bezeichnenderweise gelautet haben: „Sehr einfallsreich und sehr unterhaltend, hat aber nichts mit Sozialismus zu tun.“ (7)
Das aber, so könnte man entgegnen, hat viel mit Shaws Begriff von Sozialismus zu tun, der seinerseits wenig mit beispielsweise dem von Marx und Engels zu tun hatte, deren Begriff von Sozialismus wiederum fast nichts mit dem von Proudhon, Bakunin oder Kropotkin zu tun hatte.
Es lässt sich heute nicht mehr feststellen, was und wie viel Wilde wirklich von der zu seiner Zeit bereits recht umfangreichen sozialreformerischen, sozialistischen oder sozialutopistischen Literatur gelesen hatte. In seinem Essay jedenfalls nennt er keinen der einschlägigen Autoren beim Namen. Allerdings lassen manche seiner Formulierungen sehr wohl vermuten, dass Wilde mit den ihm zeitgenössischen Diskussionen der sogenannten „sozialen Frage“ und mit den Antworten auf diese einigermaßen vertraut war, ja er scheint zuweilen sogar den Eindruck erwecken zu wollen, er sei ein Kenner.
Ganz abwegig ist das vielleicht nicht. Schon Ende der 70er Jahre hatte Wilde ein Theaterstück mit dem Titel „Vera oder Die Nihilisten“ (8) geschrieben, das zwar einerseits belegt, dass der Autor von den revolutionären Gruppierungen in Russland nicht viel Ahnung hatte und es ihm vor allem um die Romantik des Konspirativen und einen bühnenreifen Heroismus zu tun war, das aber andererseits eben auch ein Interesse am Nihilismus oder, wie man richtiger sagen müsste: am Anarchismus verrät. Warum also sollte Wilde sich nicht inzwischen noch ausführlicher mit dem Thema der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse auseinandergesetzt haben? Zum einem Vortrag von Georg Bernard Shaw in der Fabian Society ging man ja schließlich auch nicht, weil das so unterhaltsam war … Wäre Wilde tatsächlich bloß der wirklichkeitsfremde Ästhet gewesen, den auch heute noch viele gern ihn ihm sehen wollen, hätte er sich nicht die Mühe gemacht, „Die Seele des Menschen im Sozialismus“ zu schreiben. Im Jahr 1894 jedenfalls, drei Jahre nach Erscheinen seines Sozialismus-Essays, wird Wilde zu einem Journalisten sagen: „Wir alle sind heutzutage mehr oder weniger Sozialisten … Ich glaube, ich bin noch etwas mehr als ein Sozialist. Ich bin wohl eher so eine Art Anarchist — obwohl die Sprengstoffpolitik natürlich der bare Unsinn ist.“ (9)

„Die Seele des Menschen im Sozialismus“
„Worum es eigentlich geht“, schreibt Wilde in „Die Seele des Menschen im Sozialismus“, „ist der Versuch, die Gesellschaft auf einer Grundlage neu zu errichten, die Armut unmöglich macht.“ Im Sozialismus, so Wilde, werde es keine Menschen geben, die in stinkenden Höhlen und stinkenden Lumpen leben und ungesunde und von Hunger gezeichnete Kinder in unmöglicher und widerwärtiger Umgebung aufziehen. Jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft werde den allgemeinen Wohlstand und das Glück der Gesellschaft teilen. „Andererseits“, schreibt Wilde, „andererseits ist der Sozialismus lediglich darum von Wert, weil er zum Individualismus führt.“
Für Wilde ist Sozialismus also kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, allerdings ein unbedingt erforderliches. Zwar findet sich in seinem Text nicht die bekannte Formel „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“, aber der Sache nach ist es auch für Wilde ungefähr das, worauf die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln abzielt. Er schreibt: „Der Sozialismus, Kommunismus oder wie immer man das nennen mag, wird dadurch, dass er privates Eigentum in öffentliches Vermögen verwandelt und Konkurrenz durch Kooperation ersetzt, die Gesellschaft wieder in den ihr angemessenen Zustand eines durch und durch gesunden Organismus versetzen und jedem einzelnen Mitglied der Gesellschaft sein materielles Auskommen gewähren. Der Sozialismus wird tatsächlich dem Leben eine anständige Grundlage und eine anständige Umgebung schaffen. Jedoch, für die volle Entfaltung des Lebens zu seiner höchsten Vollendung tut noch etwas mehr Not. Was Not tut, ist der Individualismus.“
Wofür Wilde eintritt, ist also der libertäre Sozialismus, wie ihn Anarchistinnen und Anarchisten vor der, gegen die und nach der marxistischen Orthodoxie erstrebt haben und heute noch erstreben. Wilde verfasste seinen Essay ein Vierteljahrhundert vor der bolschewistischen Machtergreifung in Russland und der Errichtung des totalitären Pseudosozialismus. Um so erstaunlicher seine klare Sicht der Dinge: „Wenn der Sozialismus“, schreibt er, „autoritär sein wird, wenn es Regierungen geben wird, die dann mit wirtschaftlicher Macht ausgestattet sein werden, wie jetzt mit politischer, wenn es also, mit einem Wort, eine Industrielle Tyrannei geben wird — dann wird der Endzustand der Menschheit schlimmer sein als ihr Urzustand.“
Und an anderer Stelle schreibt Wilde nochmals: „Es ist also klar, dass es mit dem autoritären Sozialismus nicht geht. Unter dem jetzigen System kann wenigstens eine recht große Zahl von Menschen ein Leben führen, das ein gewisses Maß an Freiheit und Glück aufweist, aber unter dem Industrie-Kasernen-System oder einem System wirtschaftlicher Tyrannei wäre niemand im Stande, überhaupt irgend eine solche Freiheit zu haben. Es ist sehr schlimm, dass ein Teil unserer Gesellschaft sich tatsächlich in Sklaverei befindet, aber der Vorschlag, das Problem dadurch zu lösen, dass man die gesamte Gesellschaft versklavt, ist kindisch. Jeder muss völlig frei darin sein, sich seine eigene Arbeit auszusuchen. Keine Form von Zwang darf gegen ihn angewandt werden.“
Zwar meinte Wilde, er glaube kaum, „dass irgendein Sozialist heute im Ernst vorschlagen könnte, ein Inspektor solle jeden Morgen jedes Haus visitieren, um nachzuschauen, ob jeder Bürger aufgestanden ist und sich an seine achtstündige Arbeit gemacht hat“. Dann aber fügt er hinzu, dass „viele sozialistische Anschauungen“, denen er begegnet sei, „mit unsauberen Vorstellungen von autoritärer Gewalt, wenn nicht mit tatsächlichem Zwang behaftet“ zu sein schienen. Wilde erklärt dementgegen kategorisch: „Autoritäre Gewalt und Zwang kommen überhaupt nicht in Frage. Alle Vereinigung muss freiwillig sein. Nur in freiwilligen Vereinigungen ist der Mensch schön.“
Diese zuletzt zitierte Formulierung, die Freiheit und Schönheit zusammenbringt, erweist den politischen Theoretiker Wilde als Ästheten, aber eben auch den Wildeschen Ästhetizismus als durch und durch politisch. Gerade weil sein Kriterium der Freiheit das der Schönheit ist, ist er nicht blind für die gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb deren Schönheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit möglich sind — oder eben unmöglich.
„Schon jetzt“, schreibt Wilde, „schon jetzt sind, als Folge der Existenz des Privateigentums, sehr viele Menschen in der Lage, ein gewisses, sehr begrenztes Maß an Individualismus zu entwickeln. Sie sind entweder überhaupt nicht der Notwendigkeit unterworfen, sich ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, oder aber es ist ihnen möglich, sich ein Tätigkeitsfels zu wählen, das ihnen wirklich entspricht und das ihnen Spaß macht. Das sind die Dichter, die Philosophen, die Menschen der Wissenschaft, die Menschen des Geistes — mit einem Wort die wirklichen Menschen, die sich selbst verwirklicht haben und in denen allen das Menschsein wenigstens zum Teil Wirklichkeit geworden ist. Auf der anderen Seite gibt es sehr viele Menschen, die, weil sie selbst kein Privateigentum haben, ständig am Rande eines Abgrundes von Not und Hunger stehen und gezwungen werden, die Arbeit von Lasttieren zu verrichten, Arbeit zu tun, die ihnen ganz und gar nicht entspricht und zu der sie nur durch die gebieterische, widervernünftige und entwürdigende Tyrannei der Bedürfnisse genötigt werden. Das sind die Armen; bei ihnen gibt es keine Anmut des Benehmens, keinen Zauber der Rede, keine Zivilisiertheit oder Bildung, keine Verfeinerung der Genüsse, keine Freude am Leben.“
Wilde ist weit davon entfernt, Armut oder die Armen zu idealisieren. Er hält im Gegensatz zu den Vertretern des christlich oder sonstwie idealistisch motivierten Wohlfahrtswesens seiner Zeit auch nichts davon, die Armen für besonders tugendsam oder auch nur für besonders zur Tugend verpflichtet zu halten. Stattdessen hebt er sogar noch ihre angeblichen Untugenden hervor, sondern er sagt, die meisten Armen seien „undankbar, unzufrieden, unbotmäßig und aufsässig. Sie haben ganz Recht, so zu sein. (…) Warum sollten sie für die Brotsamen dankbar sein, die vom Tisch des reichen Mannes fallen? Sie sollten mit an der Tafel sitzen und fangen an, es zu wissen. Was die Unzufriedenheit angeht, so wäre ein Mensch, der mit solcher Umgebung und solch niedriger Lebensweise nicht unzufrieden sein wollte, ein vollkommenes Vieh.“
Und ein solches vollkommenes Vieh sollte man, Wilde zufolge, nicht sein, ganz im Gegenteil: „Ein armer Mann“, schreibt er, „der undankbar, unsparsam, unzufrieden und aufsässig ist, ist vielleicht eine wirkliche Persönlichkeit und hat viel in sich. In jedem Fall befindet er sich in einem gesunden Protest. Was die tugendhaften Armen angeht“ — womit Wilde diejenigen meint, die ihre Lage widerstandslos hinnehmen, was also „die tugendhaften Armen angeht, so kann man sie natürlich bemitleiden, aber schwerlich bewundern. Sie haben sich mit dem Feind in Verhandlungen eingelassen und ihre Erstgeburt für eine Bettelsuppe verkauft. Sie müssen auch außergewöhnlich dumm sein.“ Er könne völlig verstehen, schreibt Wilde, „dass ein Mann Gesetze akzeptiert, die das Privateigentum schützen und erlauben, es zu akkumulieren, solange er selbst unter diesen Bedingungen im Stande ist, sich eine Form schönen und geistigen Lebens zu schaffen. Aber es ist für mich fast unglaublich“, so Wilde, „wie jemand, dessen Leben durch solche Gesetze verstümmelt und verunreinigt worden ist, Ruhe finden kann, solange sie fortbestehen.“ Diese Ruhe kann und soll freilich, Wilde zufolge, gestört werden. „Was manche Arbeitgeber gegen Agitatoren sagen“, schreibt er, „ist ohne Frage wahr. Agitatoren sind eine Art zudringlicher Störenfriede, die sich in eine völlig zufriedene Schicht der Gesellschaft einschleichen und die Saat der Unzufriedenheit unter sie säen. Das ist der Grund, warum Agitatoren so absolut notwendig sind. Ohne sie gäbe es in unserem unvollkommenen Gemeinwesen keine Annäherung an die Kultur.“

Sozialistische Errungenschaften
„Die Billigung des Privateigentums hat (…)“, schreibt Wilde, „den Individualismus geschädigt und verdunkelt, weil dadurch der Mensch mit dem verwechselt wurde, was er besitzt. Das hat den Individualismus völlig in die Irre geführt. Es hat Gewinn, nicht Wachstum zum Ziel gemacht, sodass der Mensch dachte, die Hauptsache sei, zu haben, und nicht wusste, dass die Hauptsache ist, zu sein. Die wahre Vollkommenheit des Menschen liegt nicht in dem, was er hat, sondern in dem, was er ist.“
Wilde zufolge sind die schädlichen Auswirkungen des Privateigentums keineswegs auf die Reichen beschränkt, die fortwährend damit beschäftigt sind, ihren Reichtum zu sichern und zu vermehren, und es darum unterlassen, ihre Individualität zu entfalten, und dadurch „die wahre Lust und die wahre Freude am Leben“ versäumen. Wilde schreibt: „Es gibt nur eine soziale Klasse, die mehr ans Geld denkt als die Reichen, und das sind die Armen. Die Armen können an nichts anderes denken, Das ist der Jammer der Armut.“
Aber Wilde zufolge hat es mit dieser Arm und Reich demoralisierenden Wirkung des Privateigentums im Sozialismus ein Ende. Die Befreiung von der Not, von der Sorge um die materielle Existenz schafft Raum für das, was Wilde die „vollkommene Persönlichkeit“ nennt. Er schreibt: „Sie wird etwas Wunderbares sein — die wahre Persönlichkeit des Menschen —, wenn sie zum Vorschein kommen wird. Sie wird in natürlicher und einfacher Art wachsen, wie eine Blume oder wie ein Baum wächst. Sie wird keine Zwietracht kennen. Sie wird ne streiten oder zanken. Sie wird nichts beweisen wollen. Sie wird alles wissen. und doch keinen Wissenschaftsbetrieb kennen. Sie wird weise sein. Ihr Wert wird nicht an materiellen Dingen zu messen sein. Sie wird nicht haben. Und wird doch alles haben, so viel man ihr auch nimmt, sie wird immer noch haben, so reich wird sie sein. sie wird sich nicht ständig bei anderen einmischen und von ihnen verlangen, so zu sein, wie sie selbst ist. Sie wird sie lieben, weil sie anders sind. Und obwohl sie sich bei anderen nicht einmischt, wird sie allen helfen, so wie etwas Schönes uns hilft, indem es ist, was es ist. Die Persönlichkeit des Menschen wird ganz wundervoll sein, sie wird so wundervoll sein wie die Persönlichkeit eines Kindes.“

Libertärer Sozialismus
„Durch den Sozialismus werden wir zum Individualismus gelangen“, lautet Wildes anarchistisches Credo — und folgerichtig verwirft er den Staat. „Es liegt in der Natur der Sache“, behauptet er, „dass der Staat das Regieren ganz und gar sein lassen muss.“ Für Wilde gibt es da keine Kompromisse, denn er stellt fest: „Alle Arten, regieren zu wollen, sind verkehrt.“
Auch hier argumentiert Wilde wieder als Ästhet, dem es um die Entfaltung der Persönlichkeit zu tun ist. „Jede autoritäre Gewalt ist ganz entwürdigend“, schreibt er. „Sie entwürdigt die, die sie ausüben, und ebenso die, über die sie ausgeübt wird. Wenn sie gewalttätig, roh und grausam verfährt, bringt sie eine gute Wirkung hervor, da sie den Geist der Revolte schafft oder wenigstens zum Ausbruch bringt, der sie umbringen wird. Wenn sie jedoch mit einer gewissen Freundlichkeit verfährt und Auszeichnungen und Belohnungen vergibt, ist sie fürchterlich demoralisierend. Die Menschen sind dann des schrecklichen Drucks, der auf sie ausgeübt wird, weniger bewusst und leben ihr Leben in dumpfer Behaglichkeit, wie gehätschelte Haustiere, und werden niemals gewahr, dass sie anderer Leute Gedanken denken, nach anderer Leute Normen leben, dass sie sozusagen anderer Leute abgelegte Kleider tragen und keinen Augenblick lang sie selbst sind.“
Für Wilde bedeutet der Sozialismus eben mehr als bloß eine neue wirtschaftliche Ordnung. Der Sozialismus wird zum Beispiel, so Wilde, das Familienleben vernichten, denn mit der Abschaffung des Privateigentums müsse die Ehe in ihrer bisherigen Form verschwinden. Der Individualismus werde aus der Abschaffung des gesetzlichen Zwangs eine Form der Freiheit machen, die die volle Entfaltung der Persönlichkeit fördern werde und die Liebe von Mann und Frau — und man darf wohl hinzufügen: auch die Liebe von Mann und Mann und Frau und Frau — wunderbarer, edler und schöner machen werde,
Wilde zufolge wird im Sozialismus aber auch beispielsweise das Justizwesen abgeschafft sein. Es wird keine Strafen mehr geben, weil es keine Verbrechen mehr geben wird. Eine Gesellschaft, so Wilde, werde unendlich mehr durch das gewohnheitsmäßige Verhängen von Strafen verroht als durch das gelegentliche Vorkommen von Verbrechen. Je mehr Strafen verhängt würden, desto mehr Verbrechen werden hervorgerufen. „Wenn das Privateigentum abgeschafft ist“, so Wilde, „wird es keine Notwendigkeit und keinen Bedarf für Verbrechen geben, sie werden verschwinden. (…) Wenn jedes Glied der Gesellschaft so viel hat, wie es braucht, und von seinen Mitmenschen nicht behelligt wird, hat es kein Interesse daran, anderen lästig zu werden. Die Eifersucht, der im Leben unserer Zeit außerordentlich viele Verbrechen entspringen, ist ein Gefühl, das mit unseren Eigentumsbegriffen eng verbunden ist; im Reich des Sozialismus und Individualismus wird sie verschwinden.“
Man erkennt deutlich, dass es Wilde nicht bloß darum zu tun ist, den Staat als Institution abzuschaffen, sondern auch den Staat in den Köpfen. Aber nachdem er festgestellt hat, dass der Staat nicht zu regieren hat, gibt er den Begriff des Staates nicht einfach auf, sondern bestimmt ihn neu.
„Der Staat wird eine freiwillige Vereinigung sein, die die Arbeit organisiert und die notwendige Güter herstellt und verteilt. Der Staat hat das Nützliche zu tun, das Individuum hat das Schöne zu tun“, stellt Wilde fest und setzt — etwas rätselhaft — hinzu: „Und da ich gerade das Wort Arbeit gebraucht habe, will ich es nicht unterlassen, anzumerken, dass heute viel Unsinn über die Würde der körperlichen Arbeit geschrieben und gesprochen wird. An der körperlichen Arbeit ist ganz und gar nichts Würdevolles, und meistens ist sie ganz und gar entwürdigend. Es ist in geistiger und moralischer Hinsicht beschädigend für den Menschen, irgendetwas zu tun, was ihm keine Freude macht, und viele Formen der Arbeit sind ganz freudlose Beschäftigungen und sollten auch als solche angesehen werden. Einen kotigen Straßenübergang bei scharfem Ostwind acht Stunden am Tag zu fegen, ist eine widerwärtige Beschäftigung. Ihn mit geistiger, moralischer und körperlicher Würde zu fegen, scheint mir unmöglich. Ihn freudig zu fegen, wäre schauderhaft. Der Mensch ist zu etwas Besserem da, als Schmutz zu entfernen. Alle Arbeit dieser Art müsste von einer Maschine erledigt werden.“
Er zweifle nicht, schreibt Wilde weiter, dass es so kommen werde, und er erweist sich damit als technologischer Optimist. „Jede rein mechanische, jede eintönige und dumpfe Arbeit, die mit widerlichen Dingen zu tun hat und den Menschen in abstoßende Situationen zwingt, muss von der Maschine getan werden. Die Maschine muss für uns in den Kohlengruben arbeiten und gewisse hygienische Dienste tun und Schiffsheizer sein und die Straßen reinigen und an Regentagen Botendienste tun und muss alles tun, was unangenehm ist. Jetzt verdrängt die Maschine den Menschen. Unter den richtigen Bedingungen wird sie ihm dienen. Es ist durchaus kein Zweifel, dass das die Zukunft der Maschine ist, und ebenso wie die Bäume wachsen, während der Landwirt schläft, so wird die Maschine, während die Menschheit sich der Freude oder edlen Muße hingibt — Muße nicht Arbeit ist das Ziel der Menschen — oder schöne Dinge schafft oder schöne Dinge liest oder einfach die Welt mit bewundernden oder genießenden Blicken umfängt, so wird also die Maschine alle notwendige und unangenehme Arbeit verrichten.“
„Es steht so“, schreibt Wilde, „dass die Gesellschaft Sklaven braucht. Darin hatten die Griechen ganz Recht. Wenn es keine Sklaven gibt, die die widerwärtigen, abstoßenden und langweiligen Arbeiten verrichten, wird Kultur und Kontemplation fast unmöglich. Die Sklaverei von Menschen aber ist ungerecht, unsicher und entsittlichend. Von mechanischen Sklaven, von der Sklaverei der Maschine hängt die Zukunft der Welt ab.“
Folgt man Wildes Gedankengang, so ist der technologische Fortschritt nicht die Bedingung des Sozialismus, sondern vielmehr die Bekräftigung des Individualismus, der das Ziel des Sozialismus ist. Die sozialistische Wirtschaftsordnung sorgt vor allem dafür, dass die Vorteile des Gebrauchs von Maschinen allen Mitgliedern der Gesellschaft zugute kommen und nicht bloß einigen wenigen. Alle Menschen sollen von der Erniedrigung durch Arbeit befreit sein und damit frei sein für Tätigkeiten, die ihnen entsprechen und die ihnen Spaß machen. Zweifellos ist für Wilde solches Tun, in dem die freie Entfaltung der Individualität möglich ist, letztlich Kunst. „Die Kunst“, schreibt Wilde, „ist die intensivste Art von Individualismus, die die Welt kennt. Ich bin geneigt zu sagen, sie ist die einzige Art von Individualismus, die die Welt kennt.“
Und am Ende seines Essays schreibt Wilde: „Der neue Individualismus, in dessen Diensten der Sozialismus, ob er will oder nicht, am Werke ist, wird vollendete Harmonie sein. Er wird sein, wonach die Griechen suchten, was sie aber, außer im Denken, nicht vollständig verwirklichen konnten, weil sie Sklaven hatten und sie ernährten. Er wird sein, wonach die Renaissance suchte, was sie aber, außer in der Kunst, nicht vollständig erreichen konnte, weil sie Sklaven hatte und sie hungern ließ. Er wird vollständig sein, und durch ihn wird jeder Mensch zu seiner Vollendung kommen. Der neue Individualismus ist der neue Hellenismus.“

Die Liebe zum Griechentum
Gustav Landauer, der bedeutende anarchistische Schriftsteller, der zusammen mit Hedwig Lachmann 1904 eine Übersetzung des Wildeschen Essays unter dem Titel „Der Sozialismus und die Seele des Menschen“ veröffentlichte (10), stellte dem Text eine Vorbemerkung voran, in der es heißt: „Man wird nun, wo dieser verschollene Essay wieder an Licht kommt, verstehen, warum die englische Gesellschaft diesen genialen Mann, der einst ihr verhätschelter Liebling war, solange seine schönheitshungrige Seele mit ihr zu spielen schien, später so tödlich haßte und so infam ins Elend stieß. Die Rache der Sklave ist schrecklich., die Rancune der Herren aber ist unsäglich. Eine Einsicht, die einem oft verwandten Geiste, Friedrich Nietzsche, vielleicht nicht gefehlt hätte, wenn er nicht bloß Deutscher, sondern sogar Engländer gewesen wäre.“ (19)
Über diese Bemerkung Landauers wäre Nietzsche vermutlich verstimmt gewesen, war er doch überzeugt, keineswegs „bloß Deutscher“ zu sein. Vielmehr sah sich Nietzsche — übrigens auch hierin wiederum eines Sinnes mit Wilde — gern als Franzosen. Wilde seinerseits hätte Landauer darauf verweisen können, dass er keineswegs Engländer, sondern Ire war. Beide aber, Wilde wie Nietzsche, waren in ihrem Herzen vor allem eines: Hellenen.
Für sie war die antike griechische Kultur immer noch die Kultur überhaupt, der Inbegriff einer beinah idealen Gesellschaft, die nicht von materiellen, sondern philosophischen Interessen bestimmt war. In jenen Verhältnissen hätten sie gern gelebt und die Wiederkehr solcher Verhältnisse hätten sie gerne erlebt.
Diese Liebe zum Griechentum trieb zuweilen merkwürdige Blüten. Zum weihnachten 1872 schenkte Friedrich Nietzsche Cosima Wagner ein in Leder gebundenes Heft mit von im verfassten „Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern“. Die dritte dieser Vorreden trägt den Titel „Der griechische Staat“ (11). Darin heißt es: „Die Bildung, die vornehmlich wahrhaftes Kunstbedürfnis ist, ruht auf einem erschrecklichen Grunde“; man müsse sich nämlich, so Nietzsche, dazu verstehen, es „als grausam klingende Wahrheit hinzustellen, daß zum Wesen einer Kultur das Sklaventhum gehöre (…).“ „(…) und wenn es wahr sein sollte“, schrieb Nietzsche, „daß die Griechen an ihrem Sklaventhum zugrunde gegangen sind, so ist das Andere viel gewisser, daß wir an dem Mangel des Sklaventhums zugrunde gehen werden (…).“
Aber woher, so kann man fragen, sollen die Sklaven denn kommen? Auch Nietzsche stellt sich diese Frage. „Wie entstand der Sklave, der blinde Maulwurf der Kultur? Die Griechen habe es uns in ihrem völkerrechtlichen Instinkte verraten, der, auch in der reifsten Fülle ihrer Gesittung und Menschlichkeit, nicht aufhörte, aus erzenem Munde solche Worte auszurufen: ‘Dem Sieger gehört der Besiegte, mit Weib und Kind, Gut und Blut. Die Gewalt giebt das erste Recht, und es giebt kein Recht, das nicht in seinem Fundamente Anmaßung, Usurpation, Gewalttat ist.’“
Nietzsche zufolge bedarf es des Staates um des Krieges willen und des Krieges um der Sklaverei willen und der Sklaverei um der Kultur willen. „Hier sehen wir wiederum“, sagt Nietzsche (und klingt wie ein Schulungsredner der SS, der die Rhetorik seines Führers um nur weniges veredeln möchte), „mit welcher mitleidlosen Starrheit die Natur, um zur Gesellschaft zu kommen, sich das grausame Werkzeug des Staates schmiedet — nämlich jenen Eroberer mit der eisernen Hand, der nichts als die Objektivation des bezeichneten Instinktes ist. An der undefinirbaren Größe und Macht solcher Eroberer spürt der Betrachter, daß sie nur Mittel einer sich in ihnen offenbarenden und doch vor ihnen sich verbergenden Absicht sind. Gleich als ob ein magischer Wille von ihnen ausgienge, so räthselhaft schnell schließen sich die schwächeren Kräfte an sie an, so wunderbar verwandeln sie sich, bei dem plötzlichen Anschwellen jener Gewaltlawine, unter dem Zauber jenes schöpferischen Kernes, zu einer bis dahin nicht vorhandenen Affinität.“
Ich erspare den Zuhörerinnen und Zuhörerinnen an dieser Stelle weitere ausführliche Zitate aus Nietzsches „Vorrede“. Während er im Folgenden nämlich weiterhin den Staat als grausames Raubtier hinstellt und die Griechen für ihren „Staateninstinkt“ rühmt, kommt er erschreckenderweise auch noch auf jene Menschen zu sprechen, „die durch Geburt gleichsam außerhalb der Volks- und Staateninstinkte gestellt“ seine — eine Beschreibung, die man im besten Falle gegen die Arbeiterbewegung, gegen die, wie Nietzsche sie nennt, „Kommunisten und Sozialisten und auch ihre blasseren Abkömmlinge, die weiße Rasse der ‘Liberalen’“, verstehen kann, im schlimmeren Fall als antijüdische Hetze. Man erinnere sich, dass Nietzsche seine „Fünf Vorreden“ der von ihm verehrten Cosima Wagner zugeeignet hatte, die bekanntlich nicht nur Ehefrau des bekennenden Judenfeindes Richard Wagner, sondern selbst eine bekennende Judenfeindin war.
Wie auch immer. So viel immerhin dürfte klar geworden sein: Nietzsche bejaht nicht nur die Notwendigkeit der Sklaverei, er verteidigt sie mit allen Klauen und Zähnen seines damaligen Prosastils. Mochte er später auch auf Distanz zum Wagnerschen Antisemitismus gehen, an der Gegnerschaft zu Kommunisten, Sozialisten, Liberalen und Anarchisten hielt er bis ans Ende fest. Und vor allem hielt er auch fest an der Überzeugung, es müsse Menschen geben, die herrschen, und solche, die beherrscht werden, also Herren und Sklaven.
In „Menschliches, Allzumenschliches“ aus dem Jahre 1878 schreibt Nietzsche unter dem Titel „Sclaven und Arbeiter“ (12): „Dass wir mehr Wert auf Befriedigung der Eitelkeit, als auf alles übrige Wohlbefinden (Sicherheit, Unterkommen, Vergnügen aller Art) legen, zeigt sich in einem lächerlichen Grade daran, dass Jedermann (angesehen von politischen Gründen) die Aufhebung der Sclaverei wünscht und es auf’s Ärgste verabscheut, Menschen in diese Lage zu bringen: während Jeder sich sagen muss, dass die Sclaven in allen Beziehungen sicherer und glücklicher leben, als der moderne Arbeiter, dass Sclavenarbeit sehr wenig Arbeit im Verhältniss zu der des ‘Arbeiters’ ist, man protestirt im Namen der ‘Menschenwürde’: das ist aber, schlichter ausgedrückt, jene liebe Eitelkeit, welche das Nicht-gleichgestellt-sein, das Oeffentlich-niedriger-geschätzt werden, als das härteste Loos empfindet. — Der Cyniker denkt anders darüber, weil er die Ehre verachtet: — und so war Diogenes eine Zeitlang Sclave und Hauslehrer.“
Hier merkt man, wie die Sklaverei für Nietzsche im Grunde etwas völlig Abstraktes ist, eine moralische Befindlichkeit, nichts, was mit Blut und Schweiß und Tränen zu tun hat. Diese zugleich distanzierte und herrische Sichtweise wir er beibehalten. Und auch die Ansicht, dass es den Sklaven, die wünscht, besser gegangen sei, als es den Arbeitern geht, die er fürchtet.
Unter dem Titel „Der unmögliche Stand“ (13) schreibt Nietzsche in der 1881 erschienen „Morgenröthe“: „Arm, fröhlich und unabhängig! — das ist zusammen möglich; arm, fröhlich und Sclave — das ist auch möglich, — und ich wüsste den Arbeitern der Fabrik-Sclaverei nichts besseres zu sagen: gesetzt, sie empfinden es nicht überhaupt als Schande, dergestalt, wie es geschieht, als Schrauben einer Maschine und gleichsam als Lückenbüsser der menschlichen Erfindungskunst verbraucht zu werden! Pfui! zu glauben, dass durch höhere Zahlung das Wesentliche ihres Elends, ich meine, ihre unpersönliche Verknechtung, gehoben werden könne! Pfui! sich aufreden zu lassen, durch eine Steigerung dieser Unpersönlichkeit, innerhalb des maschinenhaften Getriebes einer neuen Gesellschaft könne die Schande der Sclaverei zur Tugend gemacht werden! Pfui! einen Preis zu haben, für den man nicht mehr Person, sondern Schraube wird!“
Nun liegt Nietzsche freilich nichts daran, dass die Arbeiter, deren Entfremdung und Verdinglichung er erkennt, sich emanzipieren. Vielmehr rät er ihnen bloß, auszuwandern und dabei zu denken: „’lieber auswandern, in wilden und frischen Gegenden der Welt Herr zu werden suchen und vor Allem Herr über mich selber; den Ort so lange wechseln, als noch irgendein Zeichen von Sclaverei in mir winkt; dem Abenteuer und dem Kriege nicht aus dem Weg gehen und für die schlimmsten Zufälle den Tod in Bereitschaft halten: nur nichtlänger diese unanständige Knechtschaft, nur nicht länger dieses Sauer- und Giftig- und Verschwörerisch-werden!’ Dies wäre die rechte Gesinnung: die Arbeiter in Europa sollten sich als Stand fürderhin für eine Menschen-Unmöglichkeit, und nicht nur, wie meistens geschieht, als etwas hart und unzweckmässig Eingerichtetes erklären; sie sollten ein Zeitalter des grossen Ausschwärmens im europäischen Bienenstocke heraufführen, wie dergleichen bisher noch nicht erlebt wurde (…) Möge sich Europa des vierten Theiles seiner Bewohner erleichtern! Ihm und ihnen wird es leichter um’s Herz werden! (…) So käme doch endlich auch wieder reinere Luft in das alte, jetzt übervölkerte und in sich brütende Europa! Vielleicht wird man sich dabei besinnen, dass man an viele Bedürfnisse sich erst gewöhnt hat, als es so leicht wurde, sie zu befriedigen, — und man wird eine Bedürfnisse auch wieder verlernen!“
Und nachdem er die große Entvölkerung angeregt hat, macht Nietzsche noch einen bombastischen Vorschlag: „Vielleicht auch wird man dann Chinesen hereinholen: und diese würden die Denk- und Lebensweise mitbringen, welche sich für arbeitsame Ameisen schickt. Ja sie könnten im Ganzen dazu helfen, dem unruhigen und sich aufreibenden Europa etwas asiatische Ruhe und Betrachtsamkeit und — was am meisten wohl nothtut — asiatische Dauerhaftigkeit in’s Geblüt zu geben.“
Einige Zeit später, Ende der 80er Jahre, sind freilich Nietzsches Hoffnungen auf Arbeiterauswanderung und Ameiseneinfuhr geschwunden. In einer Notiz (14), die er später zu einem Aphorismus der „Götzendämmerung“ überarbeitet hat, erklärt er, er sehe nicht ab, was man mit dem europäischen Arbeiter machen wolle. „Er befindet sich viel zu gut“, vermerkt Nietzsche, „um jetzt nicht Schritt für Schritt mehr zu fordern, unbescheidener zu fordern: er hat zuletzt die Zahl für sich. Die Hoffnung ist vollkommen vorüber, daß hier eine bescheidene und selbstgenügsame Art Mensch, ein Sklaventhum im gemilderten Sinne des Wortes, kurz ein stand, etwas, das Unwandelbarkeit hat, sich herausbildet. Man hat den Arbeiter miltärtüchtig gemacht: man hat ihm das Stimmrecht, das Coalitionsrecht gegeben: man hat Alles gethan, um die Instinkte, auf die ein Arbeiter-Chinesenthum sich gründen könnte, zu verderben: so daß der Arbeiter heute seine Existenz bereits als Nothstand (moralisch Ausgedrückt als ein Unrecht …) empfindet und empfinden läßt … Aber was will man? nochmals gefragt. Wenn man ein Ziel will, muß man die Mittel wollen: wenn man Sklaven will, — und man braucht sie! — muß man sie nicht zu Herren erziehen.“
Seine Sicht des Verhältnisses von Kultur und Sklaverei fasst Nietzsche in seiner Schrift „Jenseits von Gut und Böse“ (15) aus dem Jahre 1886 so zusammen: „Jede Erhöhung des Typus ‘Mensch’ war bisher das Werk einer aristokratischen Gesellschaft — und so wird es immer wieder sein: als einer Gesellschaft, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgend einem Sinne nötig hat. Ohne das Pathos der Distanz, wie es aus dem eingefleischten Unterschied der Stände, aus dem beständigen Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, könnte auch jenes andere geheimnisvolle Pathos gar nicht erwachsen, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltenerer, fernerer, weitergespannter, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus ‘Mensch’, die Fortgesetzte ‘Selbst-Überwindung des Menschen“, um eine moralische Formel im übermoralischen Sinne zu nehmen.“
Nietzsche warnt ausdrücklich davor, sich im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte der aristokratischen Zivilisationen irgendwelchen, wie er es nennt, „humanitären Täuschungen“ hinzugeben. „(D)ie Wahrheit ist hart“, behauptet er. „Sagen wir es ohne Schonung, wie bisher jeder höhere Cultur auf Erden angefangen ha! Menschen mit einer noch natürlichen Natur, Barbaren in jedem furchtbaren Verstande des Wortes, Raubmenschen, noch im Besitz ungebrochner Willenskräfte und Macht-Begierden, warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere, vielleicht handeltreibende oder viehzüchtende Rassen, oder auf alte mürbe Culturen, in denen eben die letzte Lebenskraft in glänzenden Feuerwerken von Geist und Verderbnis verflackerte. Die vornehme Kaste war im Anfang immer die Barbaren-Kaste: ihr Übergewicht lag nicht vorerst in der physischen Kraft, sondern in der seelischen, — es waren ganzere Menschen (was auf jeder Stufe auch so viel mit bedeutet als ‘die ganzeren Bestien’ —).“
Nietzsches Gerede von Rassen und Bestien, von Lebenskraft und Barbarentum erinnert die Heutigen unweigerlich an die Nazis. Diese Assoziation hat gewiss gute Gründe, sie sollte dennoch nicht den Blick auf das verstellen, was Nietzsche zu seiner Zeit wirklich war: Er war eben kein Propagandist einer politischen Bewegung, stand in keiner Öffentlichkeit und hatte mit Politik überhaupt nichts zu tun. Und obwohl er von weltbewegenden Dingen, von Kriegen und Eroberungen, von Massenumsiedlungen und Menschenzüchtung phantasierte, tat der Mensch Nietzsche — sofern sein Kranksein es ihm überhaupt erlaubte, das Haus zu verlassen — in den letzten Jahren seines wachen Lebens nichts anderes, als spazieren zu gehen, sich Notizen zu machen und daraus Textsammlungen zu erstellen, die er immer mal wieder auf eigene Kosten als Bücher drucken lies, die allerdings kaum jemand las und beinahe niemand verstehen wollte.

Wilde und Nietzsche
In einem philosophischen Wörterbuch heißt es: „N[ietzsche] war ein mittelgroßer, schwächlicher, menschenscheuer und weltungewandter Mann, der sich dieser Mängel schämte und infolgedessen nach außen eine etwas krampfhafte Würde zur Schau trug. Der Umgang mit seiner Idealgestalt, dem Übermenschen, und seine Vereinsamung trieben ihn immer mehr in eine wirklichkeitsferne, fiktive Daseinshaltung hinein, die bis zur Selbstmythologisierung führte.“ (16)
Eine dieser Selbstmythologisierungen, so könnte man ergänzen, lautete: „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“ (17) Etwa zu der Zeit, da er diesen Satz niederschreibt und wohl auch glaubt, im Dezember 1988 also, erwähnt Nietzsche in drei verschiedenen Briefen an drei verschiedene Personen (18), aber mit nahezu denselben Worten eine namenlose „Hökerin“ (hier ist damit eine Obsthändlerin in Turin gemeint), die, so Nietzsche, nicht eher geruht habe, bis sie ihm aus ihren Trauben das Süsseste zusammengesucht habe. In „Ecce homo“ werden dann aus der einen Hökerin mehrere werden. Diese Behauptung einer angeblichen Zuvorkommendheit aller, die mit ihm zu tun hätten, obwohl er in ihren Augen weder Rang, noch Namen, noch Reichtum besitze, eben „bis zur Hökerin herab“, ist ein schönes Beispiel für Nietzsches Geisteszustand kurz vor seinem sogenannten Zusammenbruch, der auf den 3. Januar 1889 datiert wird. Nietzsche imaginiert sich den Nachweis seiner Größe darin, dass er, wie er sagt, „wie ein kleiner Prinz“ behandelt werde, dass also die Menschen, die ihm zufällig begegnen, ihr Glück darin finden, ihn, gerade ihn, bedienen aufs Beste zu dürfen.
Die Wahrheit, die der Wahnsinn hier grandios zum Ausdruck brachte, war wohl die, dass Nietzsche, dieser Verächter des Ressentiments und Verfechter einer Umwertung aller Werte, im mancherlei Hinsicht all die Jahre seines bisherigen Lebens geprägt geblieben war von den Vorurteilen seiner Herkunft und sozialen Position seiner Familie. Trotz seiner Verachtung des Christentums hörte er nämlich nie auf, ganz im Stile seiner Vorfahren zu empfinden, jener zwar wenig begüterten, aber bildungs- und standesbewussten Landgeistlichen, die es gewohnt waren, dass andere für sie arbeiteten, während sie sich ganz dem Dienst am Wort und der geistlichen Leitung der Gemeinde widmen durften. Auf dem Land und in den Kleinstädten Nordwestdeutschlands, da galten der Herr Pastor und seine Familie noch halbwegs etwas, da durften sie sich noch als etwas zumindest ein bisschen Besseres fühlen und als Vertreter höherer Werte, tieferer Einsichten und besserer Manieren. Fürs Grobe hielt man sich Personal.
Friedrich Nietzsche, dass sollte man sich vor Augen halten, hatte nie eine Fabrik von innen gesehen, mit den Angehörigen der „niederen Klassen“, die ihm so viel Kopfzerbrechen bereiteten, hatte er persönlich nie anders als denn als Dienstboten zu tun. Zwar war Niertzsche nie wohlhabend oder verschwenderisch genug, um sich solche zu halten — und den Haushalt führte ihm, sofern er überhaupt einen eigenen hatte, meist die Schwester —, aber selbstverständlich hatte Nietzsche als nahezu unentwegt Reisender immer wieder mit Dienstmännern, Schaffnern, Zimmermädchen, Kellnern und dergleichen zu tun. Arbeiter und Arbeiterinnen im Sinne des modernen Industrieproletariats hingegen kamen in Nietzsches Welt nur auf dem Papier vor. Er las über sie und er schrieb über sie. Er kannte niemanden von ihnen. Und auch all den dienstbaren Geister, auf die der oft krank darniederliegende Professor Nietzsche mit all seinen Sonderwünschen stets angewiesen war, kam er selbstverständlich nie nahe. Schon gar nicht auf Augenhöhe. Der neben den verschiedenen eingebildeten oder wirklichen Krankheiten seine eigenwillige Lebensführung am stärksten mitbestimmende körperlicher Mangel Nietzsches, seine starke Kurzsichtigkeit, ist eine passende Metapher dafür, dass er die Menschen, über die er so herrisch verfügte, in Wirklichkeit gar nicht wahrnehmen konnte.
Ein „mittelgroßer, schwächlicher, menschenscheuer und weltungewandter Mann“ wie Friedrich Nietzsche war Oscar Wilde nun wirklich nicht. Er war vielmehr hochgewachsen, kräftig, bewegte sich oft und gern unter Menschen und war ein blendender Unterhalter, berühmt und berüchtigt für seine geistreichen Aussprüche, von denen er viele in seinen Theaterstücken und Schriften wiederverwertete.
Wilde brauchte sich auch nicht wie Nietzsche eine aristokratische Abstammung zusammenzuphantasieren. Sein Vater war ein berühmter Arzt und seine Mutter eine bekannte Schriftstellerin. Und auch er selbst schaffte es immer wieder aus eigener Kraft, die Aufmerksamkeit der Gesellschaft, nicht zuletzt der sogenannten guten, auf sich zu ziehen, und zwar nicht bloß durch sein Auftreten, sondern auch durch sein Werk, von dem er, zumindest bis zu seiner Verurteilung, sogar leben konnte.
Nietzsche hingegen, das Dynamit, blieb bis wenige Jahre vor seinen Tod der Öffentlichkeit, selbst der lesenden, nahezu unbekannt und musste, wie bereits erwähnt, für die Veröffentlichung seiner Bücher zahlen, statt dafür bezahlt zu werden. Nach seiner Schulzeit besuchte Nietzsche die Universität und noch vor dem formalen Studienabschluss erlangte er eine Professur. Nietzsche, der Prediger der Härte und Schonungslosigkeit, hatte nie eine andere Arbeit als die eines Hochschullehrers, nie verkaufte er seine Arbeitskraft oder die Erzeugnisse seines schreiberischen Schaffens auf dem freien Markt, sondern er bezog, seit er Anfang 20 war, ein Gehalt und später eine Pension.
Wilde Hingegen, der Prophet der Muße, wusste durchaus, was es heißt, hart zu arbeiten. Als Herausgeber einer Zeitschrift hatte er sich sogar vorübergehend den mühen geregelten Broterwerbs zu unterziehen. Ansonsten verdiente er das Geld, von dem er sich, seine Frau und seine beiden Söhne unterhielt und von er oft auch Freunden und flüchtigen Bekannten etwas zukommen ließ, durch Vorträge, durch die Veröffentlichung seiner Texte und durch die Aufführungen seiner Stücke.
Nun nahm selbstverständlich auch Oscar Wilde die Dienste anderer Menschen entgegen, von Kellnern, Zimmermädchen, Kutschern, Köchen, Botenjungen usw. usf. Er tat dies sogar in weit größerem Umfang als Nietzsche das je gekonnt hätte. Aber anders als für Nietzsche waren für Wilde diejenigen, die arbeiten mussten, während und damit er ein angenehmes Lebe hatte. nicht bloß Staffage in Allmachtsphantasien. Dienstboten waren eine Selbstverständlichkeit, und ebenso selbstverständlich hatten sie ein Gehalt und meist auch ein Trinkgeld zu bekommen; notwendig oder zumindest wünschenswert war die Verrichtung ihrer Tätigkeiten, nicht aber ihre Existenz als abgesonderte und unterworfene Klasse.
Als Oscar Wilde am 25. Mai 1895 schuldig gesprochen wurde, sagte der Richter Sir Alfred Wills, dies sei der widerwärtigste Fall, den er jemals verhandelt habe (20). was er damit meinte, war wohl nicht bloß die strafwürdige homosexuelle Aktivität als solche, sondern vor allem,. dass sie die Klassenschranken überschritten hatte. Wilde hatte sich, das war im Prozess zu Tage gekommen, mit Angehörigen der sogenannten Unterschichten eingelassen, mit „Lakaien“ und „Stallburschen“, wie sie einer seiner juristischen Widersacher genannt hatte (21). Mehr noch, er hatte diese Leute tatsächlich als seine „Freunde“ bezeichnet, sie großzügig bewirtet und ihnen teure Geschenke gemacht. Selbst wenn sie, sei’s aus Neigung, sei’s aus Not, als Stricher arbeiteten, nahm er sie vor allem als Menschen war, als junge Männer, in deren Gesellschaft er sich gern aufhielt, und nicht als zu benützende Etwasse, die man sich, selbst wenn man mit ihnen ihm Bett war, vom Leibe zu halten hatte.
Gewiss hatte Gustav Landauer Recht, als er, wie vorhin schon zitiert, meinte, die englische Gesellschaft habe Oscar Wilde deshalb tödlich gehasst und infam ins Elend gestoßen, weil sie ihm sein Plädoyer für den Sozialismus übel genommen habe. Aber Wilde rief wohl auch deswegen die Empörung der Mehrheit seiner Zeitgenossen und die brutale Reaktion der gesellschaftlichen Institutionen hervor, weil er den Sozialismus nicht bloß (auf eine unterhaltsame und darum von vielen wohl gar nicht ernst genommene Weise) befürwortete, sondern weil er, auf seine, zugegebenermaßen recht eigenwillige Art und Weise bereits lebte.
„Nach der Abschaffung des Privateigentums“, schrieb Wilde in seinem Sozialismus-Essay, „werden wir den wahren, schönen, gesunden Individualismus haben. Niemand wird sein Leben damit vergeuden, daß er Sachen und Sachwerte anhäuft. Man wird leben. Leben — es gibt nichts Selteneres in der Welt. Die meisten Menschen existieren, weiter nichts.“ Ich vermute, dass Wilde, der ein Leben in Freiheit und Schönheit über alles liebte, einem Sprichwort aus Nigeria (22) zugestimmt hätte, das da lautet: „Freiwillig arbeiten ist schlimmer als Sklaverei.“


(1) Gottl. Wilh. Burgmann: „Kleine Lieder für kleine Jünglinge” (1777); nach: rororo Zitatenschatz der Weltliteratur, begr. von Richard Zoozmann, überarb. von Dr. Otto A. Kielmeyer, Reinbek b. H. 1984, S.33.
(2) Nach Richard Ellmann: Oscar Wilde. eine Biographie, München 1991 (zitiert nach der Taschenbuchausgabe München 1997; engl. New York 1988), S. 122.
(3) Joachim Campe: Die Liebe, der Zufall und das Paar. Essays zur homosexuellen Literatur, Frankfurt a. M. 2001, s. 46, Fußnote 10: „Es gibt [für André Gide] noch einen weiteren Anreger [neben Oscar Wilde]: Friedrich Nietzsche. Seine Lehren sind denen Wildes überraschend ähnlich, denn auch Nietzsche verkündet, man müsse werden, wer man sei. Ist der existenzialistische Zug auch in seiner Philosophie Reflex einer — wenn auch verheimlichten — Homosexualität? Beweisen läßt sich das nicht, auch wenn Joachim Köhler in seiner Biographie (Zarathustras Geheimnis, Nördlingen 1989) Indizien für Nietzsches Interesse am eigenen Geschlecht beigebracht hat.“
(4) Thomas Mann: „Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung“, in ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt a.M., Bd. 9, S. 665-712. Hier zitiert nach ders.: „Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung“, in ders.: Essays. Band 3 (Musik und Philosophie), Frankfurt a.M. 1978, S. 235-264 bzw. nach ders.: „Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung“, in ders.: Essays 1945-1955, Frankfurt a. M., S. 56-92. — Der Vortrag wurde zuerst auf Englisch am 29. April 1947 gehalten und erschien auf Deutsch zuerst im Herbst 1947 in der „Neuen Rundschau“. — Die von Mann (ohne Quellenangabe) auf Englisch gebrachten Zitate lauten: For, try as we may, we cannot get behind the appearance of things to reality. And the terrible reason may be that there ist no reality in things apart from their appearances. — To me beauty is the wonder of wonders. It is only shallow people who do not judge by appearances. The true mystery auf he world is the visible, not the invisible. — Every impulse that we strive to strangle broods the mind, and poisons us … The only way to get rid of a temptation is to yield to it. — Don’t be led astray into the paths of virtue.
(5) Der Text ist heute u.a. enthalten in: Collins Complete Works Of Oscar Wilde (Centenary Edition), Glasgow 1999, dort p. 1174-1197. — Ich habe mich zwar an der Übersetzung von Lachmann und Landauer (Oscar Wilde, Der Sozialismus und die Seele des Menschen. Ein Essay, Zürich 1970; urspr. 1904) orientiert, bin ihr aber ebenso wenig in allem gefolgt wie derjenigen, die geboten wird in: Oscar Wilde: Sämtliche Werke, hg. von Ottmar Heist, Augsburg o.J., Bd. 6 (Briefe und Essays), S. 137-170.
(6) Barbara Belford: Oscar Wilde. Ein paradoxes Genie, Zürich 2000 (engl. New York 2000), S. 225; Ellmann, S. 454; Montgomery Hyde: Oscar Wilde. Triumph und Verzweiflung, München 1982 (engl. New York 1975), S. 110.
(7) Nach Belford, a.a.O., ebd.
(8) Vera, or The Nihilists, in: Collins, p. 681-720.
(9) Nach Ellmann, S. 404.
(10) Oscar Wilde: Der Sozialismus und die Seele des Menschen. Aus dem Zuchthaus von Reading. Aesthetisches Manifest, Berlin 1904. — „Die Fackel“ Nr. 173 (1905) brachte aus dieser Übersetzung Auszüge, ohne die Übersetzer Landauer und Lachmann zu nennen. Hedwig Lachmann, Landauers Ehefrau, veröffentlichte übrigens 1905 eine Monographie über Wilde, wohl eine der ersten in deutscher Sprache, wenn nicht die erste überhaupt. 1907 erschien dann auch noch eine Übersetzung des „Dorian Gray“ durch Lachmann und Landauer.
(11) Friedrich Nietzsche wird (mit Ausnahme der Briefe) hier und im Folgenden zitiert nach der Kritischen Studienausgabe (KSA), hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980, und zwar jeweils unter Angabe von Band und Seite. Hier also KSA 1, 764-777.
(12) KSA 2, 296.
(13) KSA 3, 183 ff.
(14) KSA 13, 29 f.; KSA 6. 142 f.
(15) KSA 5, 205 f.
(16) Artikel „Nietzsche“ in: Philosophisches Wörterbuch, begr. v. Heinrich Schmidt, 19. Aufl. neu bearb. v. Prof. Dr. Georgi Schischkoff (Kröners Taschenausgabe Bd. 13), Stuttgart 1974.
(17) KSA 6, 365.
(18) Die Briefe richten sich an Peter Gast (in: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, München 1954, S. 1342; dort zitiert nach: Friedrich Nietzsches gesammelte Briefe [GBr], Bd. IV, Nr. 274; an Franziska Nietzsche (ebd. S. 1344, dort zitiert nach GBr, Bd. V, Nr. 505); und an Franz Overbeck (ebd., S. 1345, dort zitiert nach; Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Franz Overbeck, Leipzig 1916, Nr. 317.).
(19) Im Brief an seine Mutter, Franziska Nietzsche (siehe vorige Anmerkung).
(20) Vgl. Ellmann, a.a.O., S. 643.
(21) Vgl. die Darstellung von Ellmann, a.a.O., Kap. XVII; vgl. auch Rainer Gulicke: Lieber ist mir ein Bursch … Zur Sozialgeschichte der Homosexualität im Spiegel der Literatur, Berlin 1995, bes. S. 107-111.
(22) Aus: Großes Zitatenbuch (Sonderausgabe), München 1986, S. 476.

Dieser Vortrag wurde am 12. Oktober 2001 im „coram publico“ in Linz gehalten im Rahmen von „Bilder der Arbeit — images of work. Zum strategischen Machtverhältnis von Arbeit, Selbst und Technologie“ (mit Buchrpräsentation von Johanna Riegler und Fritz Betz), einer Veranstaltung der Gesellschaft für Kulturpolitik in Zusammenarbeit mit dem Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik der Universität Linz, organisiert von Bernhard Seyringer.

 

 
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