Wie falsch kann Wahrheit sein? PDF Drucken E-Mail

Das Internet, dieser Ozean fremder Gedanken, der Stunde um Stunde so viel Bedenkenswertes und Bedenkliches heranspült, hat mir heute auch diesen Satz gebracht: „Es gibt nur eine falsche Sicht: Der Glaube, dass meine Sicht die einzig richtige ist.“ (Als Quelle wird „Nagarjuna“ angegeben.) Ich bin überzeugt, dass dieser Satz vielen Menschen gefällt, dass sie ihm spontan zustimmen. Mir aber leuchtet er ganz und nicht ein, ja ich halte ihn, sofern ich ihn überhaupt verstehe, für falsch. Das möchte ich hier ausführen. Dabei interessiert es mich nicht, ob der Satz tatsächlich von Nagarjuna stammt und was dessen Philosophie eigentlich ist; ich nehme den Satz vielmehr so, wie er dasteht, ohne einen spezifischen Kontext.
„Es gibt nur eine falsche Sicht: Den Glauben*, dass meine Sicht die einzig richtige ist.“ Vielleicht kann man ja diesen Satz auch ganz harmlos und unprätentiös verstehen als Warnung, die eigene Sicht der Dinge nicht zu überschätzen, sondern stets der eigenen Beschränkungen eingedenk zu sein. Jeder ist anfällig für Täuschung und Irrtum, niemand, zumindest kein gewöhnlicher Sterblicher, der im eigenen Namen spricht, ist unfehlbar. Wenn der Satz nur das besagen wollte, wäre er wohl wahr, aber auch ein bisschen banal. Er sagt allerdings, wörtlich genommen viel mehr, nämlich nicht nur: Es ist möglich, dass man sich irrt, sondern er behauptet: Man irrt sich immer, wenn man glaubt, dass man die Wahrheit weiß.
Das ist nun offensichtlich paradox. Wie der Satz, alles sei unwahr, sich selbst widerspricht, denn wenn er selbst unwahr ist, ist nicht alles unwahr, und wenn er wahr ist, ebenfalls nicht, so ist auch die Behauptung, jeder Anspruch auf Wahrheit sei immer falsch, offenkundig widersprüchlich, sofern nämlich dieser Satz doch wohl selbst den Anspruch erhebt, wahr zu sein, und dann ja, sich selbst zufolge, eine falsche Sicht sein müsste, woraus wiederum folgt, dass dann eben doch nicht jeder Wahrheitsanspruch falsch ist. Anders gesagt, die Sicht, dass der Glaube, eine einzige Sicht sei die einzig richtige, sei falsch, ist selbst nur eine Sicht und wäre darum, wenn sie richtig ist, falsch und falsch, wenn sie richtig ist.
Freilich ergeben sich solche Paradoxa nur dann, wenn man an der üblichen zweiwertigen Logik festhält, also daran, dass eine Behauptung und ihr Gegenteil nicht beide wahr sein können. Es mag Menschen geben, die beanspruchen, über dieses gewöhnliche Denken hinaus zu sein und einer Logik zu folgen, nach der eine Aussage zugleich wahr und unwahr sein kann. Ich persönlich allerdings besitze diese erstaunliche Fähigkeit nicht, ich denke noch immer zweiwertig und halte alles andere für Unsinn. Selbstverständlich muss man differenzieren. Alle (wahrheitsfähigen) Sätze sind relativ, das heißt auf etwas bezogen und nur unter bestimmten Bedingungen war. Der Satz, diese Katze ist grau, mag bei Nacht wahr sein, wenn alles Katzen grau sind, aber er ist falsch, wenn sich bei Tageslicht herausstellt, dass sie getigert ist. Um also (wahrheitsgemäß) sagen zu können, ob eine Behauptung richtig oder falsch ist, muss man die Bedingungen verstehen, unter denen er überhaupt falsch oder richtig sein kann. Anders gesagt, um mich für wahr oder falsch zu entscheiden, benötige ich Kriterien. Dass X. ein großer Mann sei, mag stimmen oder nicht, es hängt davon ab, was man mit Größe meint. Vielleicht ist er im Stehen nur einen Meter fünfzig hoch, aber ein bedeutender Wohltäter.
Alles ist also relativ. Aber eben auch dieser Satz. Ein „absoluter Relativismus“ ist in sich widersprüchlich. Ich selbst, in aller Kürze sei’s gesagt, plädiere daher für einen „relativen Relativismus“ (oder besser gesagt: Relationismus), bei dem es darum geht, die Beziehungen (Relationen) zwischen Aussage, Gemeintem und Bedingungen des Aussagens und Meinens zu erhellen. Indem ich „relativiere“, also in Beziehung setze bzw. das In-Beziehung-Setzen rekonstruiere, befinde ich mich in einem offensichtlich unabschließbaren Prozess. Nichts, was gesagt wird, auch dieser Satz nicht, hat eine ein für alle mal feststellbare Bedeutung. Allerdings lässt gerade diese „relative“ (also bedingte und Bedingtheit anerkennende) Relativierung Raum für Absolutes, also Unbedingtes. Unter den mir bekannten Bedingungen erscheinen die Dinge dieser Welt und die Aussagen über sie allesamt bedingt, aber darunter ist auch die Bedingung, dass ich damit nur das mir verstandesmäßig Erklärbare erfasse (und auch das höchst unvollständig und möglicherweise mich täuschend oder irrend), dass aber selbstverständlich das Unbegreiflich nicht erfasst wird. Offenkundig gibt es aber nicht nur Unerklärliches, sondern auch Unbegreifliches. Ein wohlverstandener Relationismus ist also keineswegs ein alles nivellierender Relativismus, der sich letztlich in Paradoxa verstricken muss, sondern durchaus offen für eindeutige Wahrheit, die dann aber wohl nicht Ergebnis eigenmächtiger Setzung, sondern ein Geschenk sein wird.
Von diesem kleinen Ausflug in die Grundgedanken meines Philosophierens zurück zu dem Nagarjuna zugeschriebenen Satz. „Es gibt nur eine falsche Sicht: Den Glauben, dass meine Sicht die einzig richtige ist.“ Nach dem bisher Gesagten, sollte klar sein, dass ich nicht bezweifle, dass es falsche Sichtweisen gibt, dass Täuschung und Irrtum möglich sind oder dass verschiedene Sichtweise (und Behauptungen) unter je verschieden Bedingungen jeweils wahr sein können. Was ich aber entschieden bestreite, ist, dass jemand ehrlicherweise eine Aussage über einen Sachverhalt machen kann, ohne dabei zu beanspruchen, dass seine Aussage wahr ist — was vernünftigerweise impliziert, das andere, dem widersprechende Aussagen falsch sind.
Entweder morgen ist Montag oder nicht. Wenn heute Sonntag ist, ist die Sichtweise, dass morgen Montag ist, die einzig richtige. Wenn aber heute schon Montag ist, ist sie falsch, ebenso die Sichtweisen, dass morgen Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag oder Sonntag sei. (Es können nun freilich Bedingungen konstruiert werden, wonach, auch wenn heute Sonntag ist, trotzdem morgen nicht Montag ist, etwa weil morgen die Welt untergeht oder die Zehntagewoche eingeführt wird usw. Unter den üblichen Bedingungen aber verhält es sich wie beschrieben.)
Im sogenannten Alltag folgen wird nach Möglichkeit immer dieser binären Logik. Entweder es ist noch etwas Essbares im Kühlschrank oder nicht. Entweder man geht zum Einkaufen in den Supermarkt und zahlt an der Kasse oder nicht. Entweder man wird dann des Diebstahls bezichtigt oder nicht. Der Beispiele sind beliebig viele. Entweder man geht den richtigen Weg zu einem beabsichtigten Ziel oder man verläuft sich. (Was nicht ausschließt, dass verschiedene Wege zu demselben Ziel führen können.)
Zuweilen freilich neigen wir alle dazu, uns selber in die Tasche zu lügen oder zumindest den Wahrheitswert von unvereinbare Annahmen in der Schwebe zu halten. Einerseits geben wir zu, dass Rauchen schädlich ist, und behaupten durchaus, dass wir unserer Gesundheit und der unserer Mitmenschen nicht bewusst schaden wollen. Andererseits … Was passiert da, wenn wir so denken? Wir manipulieren die Bedingungen, unter denen verschiedene Aussagen wahr oder falsch sind, so lange, bis eigentlich Unvereinbares lebenspraktisch doch irgendwie gleichzeitig statthaben kann, ohne dass wir uns unserer Inkonsequenz so sehr schämen, dass dies unser Handeln verändert.
In vielen Fällen halten wir das für „nicht weiter schlimm“. (Bis unsere Inkonsequenz Konsequenzen hat, von den wir dann erstaunt sagen: Das haben wir nicht gewollt!) Aber es gibt offensichtlich Fälle, in denen die Entscheidung darüber, ob etwas wahr oder falsch ist, von unmittelbar lebenswichtiger Bedeutung ist. Erstaunlicherweise gehören religiöse Fragen für viele Menschen nicht dazu (allerdings, global gesehen, für die meisten Menschen sehr wohl). Hier müsste eigentlich unbedingt eine Entscheidung getroffen werden, nach reiflicher Überlegung womöglich, aber doch dringend und ohne Ausreden. Und doch neigt der Angehörige der westlichen Konsumgesellschaften dazu, religiöse Fragen nicht wichtig zu nehmen und die religiösen Antworten nicht einmal für wahrheitsfähig zu halten. Soll doch jeder glauben, was er möchte, es ist doch eh alles dasselbe.
„Es gibt nur eine falsche Sicht: Den Glauben, dass meine Sicht die einzig richtige ist.“ Das Wort „Glaube“ steht hier (in der Übersetzung) vielleicht zufällig, es könnte auch bloß eine Variation von „Sicht“, „Sichtweise“ oder „Überzeugung“ sein und ein lediglich ein Für-wahr-Halten gemeint sein. Mir scheint aber, dass der Umstand, dass dieser Satz auch in dieser Übersetzung im Internet kursiert, kein Zufall ist, sondern dass gerade diese Formulierung besonders anspricht. Es gibt viele verschiedene Arten von Überzeugungen, aber religiöse Überzeugungen sind einerseits solche, die der Sache nach am bedeutendsten sind, aber eben andererseits auch solche, die gern ins Private und Subjektive abgedrängt werden.
Dabei geht ihre Relevanz sogar noch über andere existenzielle Fragen hinaus. Ob man für oder gegen Atomstrom ist, ist gewiss kein irrelevantes Thema — die Menschen von Fukushima zum Beispiel können davon berichten, wie existenziell und keineswegs abstrakt die Folgen der Handlungen sind, die auf Grund bestimmter Überzeugungen (oder deren Vorspiegelung) in diesem Zusammenhang gesetzt wurden —, aber Themen wie der Sinn des Lebens, Dasein Gottes, Schuld und Vergebung, ewiges Leben oder ewiges Nichts sind doch unzweifelhaft noch relevanter.
Kann man im Ernst glauben, dass hier verschiedene, einander widersprechende Überzeugungen gleichermaßen wahr sein können? Kann man wirklich so tun, als seien das Fragen, deren Beantwortung man beliebig lange hinausschieben kann: Gibt es Gott oder gibt es ihn nicht? Das ist doch keine kleiner Unterschied. Wird der Mensch, den ich liebe, auch nach dem Tod, der ihm wie allen Menschen gewiss ist, noch existieren? Oder ist mit dem Tod in Ewigkeit alles aus? Wird das Gute, das wir Menschen viel zu selten und so ungenügend tun, sich trotzdem letztlich durchsetzen? Bleibt einmal geschehenes Unrecht auf ewig ungesühnt? Welchen Sinn hat es, dass es überhaupt etwas gibt und nicht nichts, wenn es doch unverkennbar auch so schrecklich viel Unrecht und Leiden gibt?
Es geht dabei zunächst gar nicht um Details. (Etwa: Wenn Gott gut und allmächtig ist, wie die Christen sagen, woher dann das Böse? Oder: Wenn das Leiden, das Ich usw. eine Illusion ist, wie die Buddhisten sagen, wessen Illusion ist das dann?) Es geht um das Grundsätzliche. Dazu muss man schlechterdings eine „Meinung“ haben oder man ist ein trostloser Tropf. Wer nicht verspürt, dass religiöse Fragen nach Antworten, ja nach seiner Antwort verlangen, muss schon ein ziemlich abgestumpfter, verkorkster, heilloser Mensch sein. Wer aber zu einer bestimmten Überzeugung gelangt ist, kann nicht anders, als sie für wahr zu halten. Eine Überzeugung ist nun einmal etwas anderes als eine Ahnung oder eine Vermutung. Sie ist zwar verhandelbar, das heißt es gibt Gründe und womöglich Gegengründe, so aber, wie man sie hat, wenn man sie hat, hält man sie notwendigerweise für wahr. Das ist schlicht der Wortsinn von Überzeugung. Und damit hält man (zumindest implizit) alle Überzeugungen für falsch, die der eigenen Überzeugung widersprechen.
Nochmals: Eine Überzeugung kann falsch sein. Meine Sicht der Dinge muss nicht stimmen, ich kann mich täuschen oder irren. Sofern ich aber tatsächlich glaube, was ich glaube, kann ich es nicht zugleich für unwahr halten.
Nun ist es meiner festen Überzeugung nach (außer für Dialektiker, Buddhisten und andere Trickkünstler) gar nicht lebbar, einander widersprechende Wahrheiten für gleichermaßen gültig zu halten. Immer gilt doch: Mag sein, dass meine Sicht falsch ist, aber irgendeine Sicht muss richtig sein. Ohne die Möglichkeit, dass etwas richtig ist, kann es auch nicht falsch sein. Wenn alle Überzeugungen gleichermaßen falsch wären, wären auch alle gleichermaßen „richtig“, was offensichtlich unsinnig ist. Es muss also Wahres geben — was freilich nicht bedeutet, dass es in jedem Fall erkennbar ist. Menschen können sich, oft habe ich es hier schon betont, irren und sich täuschen. Es könnte also so sein, dass zu einem bestimmten Thema alle Überzeugungen, die wirklich vertreten werden, falsch sind. Das ändert nichts daran, dass, sofern überhaupt die Möglichkeit besteht, bei jenem Thema zu richtigen oder falschen Erkenntnissen zu gelangen, eine wahre Überzeugung möglich ist, und zwar eine einzige.
Es ist also Unsinn zu sagen: „Es gibt nur eine falsche Sicht: Den Glauben, dass meine Sicht die einzig richtige ist.“ Zum einen gibt es nachweislich viele verschiedene falsche Sichtweisen, zum anderen ist, wer nicht verrückt werden will, genötigt (und berechtigt), seinen Glauben zu glauben, von seinen Überzeugungen überzeugt zu sein und die Dinge wirklich so zu sehen, wie er sie sieht.
Trotzdem spricht dieser Satz viele Menschen an. Er bestätigt ihren Wunsch, sich nicht entscheiden und ihre Entscheidungen nicht ernst nehmen zu müssen. Hier muss von „Relativismus“ im schlechtesten Sinne die Rede sein. Im Namen von Toleranz (man will anders Überzeugte nicht kränken) und Bescheidenheit (man will ja nicht beanspruchen, womöglich als einziger etwas erkannt zu haben), relativiert man das eigene umvermeidliche Meinen, Wissen und Glauben. Solange dies eine „relative Relativierung“ bleibt, die schlicht die eigene Fehlbarkeit in Anschlag bringen soll, ist dagegen, wie gesagt, nichts zu sagen. Sobald aber damit die Möglichkeit wahrer Überzeugungen (und damit das Unwahrsein anderer Überzeugungen) geleugnet wird, ist man in die Irre gegangen. Das scheint bequem. Denn Überzeugungen, die notwendig falsch sind — weil andere, gegenläufige Überzeugungen genauso richtig und berechtigt sind —, verpflichten zu nichts. Man kann dann zwar der Meinung sein, Hunger, Folter, Medienlügen seien üble Missstände, aber warum sollte man, vom Ungenügen der eigenen Mittel ganz abgesehen, etwas dagegen unternehmen, wenn man bei derlei doch auch ganz andere Sichtweisen haben kann, was bei den Profitören von Hunger, Folter und Politpropaganda offensichtlich der Fall ist …
Ich fasse zusammen: „Es gibt viele verschiedene falsche Sichtweisen. Manche meiner Überzeugungen könnte dazugehören. Es ist richtig, die eigene Sicht der Dinge in Frage stellen zu können und, wenn nötig, zu berichtigen. Aber wovon ich überzeugt bin, dafür stehe ich ein. Jeder Mensch, der kein Lump oder Trottel sein will, ist verpflichtet, im Rahmen des ihm Möglichen nach Wahrheit zu streben und Irrtum und Täuschung bei sich und anderen zu bekämpfen.“

* Diese kleine Korrektur musste sein. Die Frage lautet: Wen oder was gibt es? Also muss auch die Antwort im Akkusativ stehen.

 
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