Für mich existiert Marx nicht PDF Drucken E-Mail

Der vor fünfzehn Jahren verstorbene französische Philosoph Michel Foucault wäre am 15. Oktober 73 Jahre alt geworden. — Sein Werk durchzieht, laut Pierre Bourdieu, ein „Dialog mit Marx”.

Von Stefan Broniowski

Als im Jahre 1975 der damals schon sehr bekannte französische Philosoph Michel Foucault auf dem Weg zu einer der ungezählten Protestaktionen und Demonstrationen, die in den 70er Jahren einen nicht unbedeutenden Teil seines politischen Engagements ausmachten, von einem jungen Mann darauf angesprochen wurde, ob er, Foucault, nicht vor seiner, des jungen Mannes, politischer Organisation über Marx sprechen wolle, explodierte Foucault: „Man höre mir doch nur ja mit Marx auf! Ich will nie mehr von diesem Herren reden hören. Wendet euch an die, deren Beruf das ist. Die dafür bezahlt werden. Die auf diesem Gebiet Funktionäre sind. Ich selbst bin mit Marx vollkommen fertig.”
Dieser Ausbruch markiert wohl den Tiefpunkt von Foucaults Verhältnis zu Marx und dem Marxismus. Über das Anekdotische hinaus verweist er auf eine typisch Foucaultsche Schwierigkeit: Wie über „Marx” sprechen, ohne sich schon durch die bloße Teilnahme am einschlägigen Diskurs der Herrschaft der marxistischen Institutionen zu unterwerfen?

Eine vernünftige Lehre
„Als ich in der Kommunistischen Partei war, schien der Marxismus mir eine vernünftige Lehre zu sein.” — Michel Foucault, der aus einer bürgerlich-katholischen Familie des Poitou stammte, trat im Alter von 24 Jahren der Kommunistischen Partei Frankreichs bei. Er war zu diesem Zeitpunkt Student der École Normale Superieur, einer der französischen Elite-Hochschulen, und sein Eintritt erfolgte sowohl unter dem Eindruck des politischen und intellektuellen Klimas dieser Zeit als auch unter dem Einfluß seiner Mitstudierenden und Lehrer. Auch wenn an den Universitäten damals vor allem Hegel und Phänomenologie gelehrt wurde und man in den Cafés und Zeitschriftenredaktionen vornehmlich den Existentialismus diskutierte, besaß die KPF unter den Intellktuellen eine beherrschende Stellung und dem meisten galt der Marxismus längst als der „unüberschreitbare Horizont unserer Zeit” (Jean-Paul Sartre).
In einem Rückblick ein Vierteljahrhundert später meinte Foucault: „Für viel unter uns, die wir junge Intellektuelle waren, stellte das Interesse für Nietzsche oder Bataille keine Form der Distanzierung vom Marxismus oder Kommunismus dar. Es bedeutete im Gegenteil die einzige Möglichkeit der Kommunikation oder des Übergangs zu dem, was wir vom Kommunismus erwarten zu dürfen glaubten. Diese Forderung nach totaler Ablehnung der Welt, in der wir zu leben hatten, wurde natürlich nicht durch die Hegelsche Philosophie erfüllt. Andererseits waren wir auf der Suche nach anderen intellektuellen Wegen, um eben dort anzulangen, wo etwas völlig anderes Gestalt anzunehmen oder zu existieren schien: das heißt der Kommunismus. So kam es, daß ich mich, ohne Marx genau zu kennen, aber den Hegelianismus ablehnend und mich hinsichtlich der Begrenztheiten des Existentialismus unbehaglich fühlend, der Kommunistischen Partei beizutreten entschloß. Das war im Jahr 1950: damals ‘Nietzscheanischer Kommunist’ zu sein! Eine Sache, die wirklich nah an der Grenze des ‘Lebbaren’ und, wenn man will, auch etwas lächerlich war; das wußte ich selbst.”

Ein wilder Antikommunist
Schon 1953 tritt Foucault, der niemals ein besonders aktives Parteimitglied gewesen war, aus der KPF wieder aus. Als Grund nennt er später sein Unbehagen wegen der Drehungen und Wendungen der Partei anläßlich der (stark antisemitisch getönten) angeblichen Ärzte-Verschwörung kurz vor Stalins Tod. Sein Lehrer und Freund, der Philosoph Louis Althusser — „In der Philosophie Kommunist sein heißt marxistisch-leninistischer Philosoph sein. Es ist nicht leicht, marxistisch-leninistischer Philosoph zu sein.” —, weiß jedoch noch von einem anderen Grund. Gefragt, warum Foucault die Partei verlassen habe, antwortet er: „Wegen seiner Homosexualität.” Angesichts des damaligen rigiden Moralismus der Partei der Arbeiterklasse ist das nicht unwahrscheinlich.
Übrigens gerät Foucault fünf Jahre später, er ist gerade als französischer Kulturattaché in Warschau tätig, nochmals in Konflikt mit der proletarischen Moral bzw. realsozialistischen Staatssicherheitsbehörden. Einer seiner Liebhaber entpuppt sich als Polizeispitzel, Foucault muß Polen von einem Tag auf den anderen verlassen.
Auf diese beiden Erfahrungen also spielt Foucaults Biograph, Didier Eribon an, wenn er sagt: „Seit er die Kommunistische Partei verlassen und seit er in Polen gelebt hat, hat Foucault einen wilden Haß auf alles entwickelt, was auch nur, von fern oder nah, an den Kommunismus erinnerte.” Aber daß Foucault ein „wilder Antikommunist” (Eribon) war, resultiert keineswegs aus persönlichem Ressentiment, sondern erstens aus seiner Abscheu vor den Verbrechen des Stalinismus und zweitens aus seiner Abneigung gegen jede Vereinnahmung des Denkens durch autoritäre Orthodoxien. „Was ich mir wünsche, (...) ist Marxens Befreiung von der Parteidogmatik.”

Das letzte Bollwerk der Bourgeoisie
Als Michel Foucaults Texte begannen, in der Öffentlichkeit Furore zu machen, wurde gegen sie und ihren Autor nicht nur seitens der Medien der KPF ausgiebig polemisiert, sondern auch Jean-Paul Sartre, Meisterdenker des Existentialismus und „letzter Marxist” (Foucault), fühlte sich bemüßigt, die Dialektik, die Geschichte und das Proletariat gegen den um eine Generation jüngeren Konkurrenten zu verteidigen: „Gezielt wird auf den Marxismus. Es handelt sich um darum, eine neue Ideologie zu konstituieren, das letzte Bollwerk, das die Bourgeoisie noch gegen Marx errichten kann.” Foucaults lakonische Erwiderung: „Arme Bourgeoisie, wenn sie nur mich als Bollwerk hätte, hätte sie ihre Macht längst verloren.”
Auch später hat es nicht an Versuchen gefehlt, Foucault ins rechte Eck zu stellen, man
denke nur an Habermas Foucault-Ettikettierung als „Jungkonservativer" .Tatsächlich spricht nichts in Foucaults praktischen Engagement oder seiner Theoriebildung für solche Zuordnungen — außer eben, daß er sich „hagiographischen Verherrlichung” verweigert:
„Ich zitiere häufig Begriffe, Sätze, Texte von Marx, ohne mich allerdings verpflichtet zu fühlen, das Zitat als solches auszuweisen, die Quelle in einer Fußnote anzugeben und dem Zitat eine anerkennende Reflexion hinzuzufügen. Nur wenn man dies tut, wird man als Marxkenner und Marxverehrer angesehen und von den sogenannten marxistischen Zeitschriften in Ehren gehalten. Ich aber zitiere Marx, ohne es zu sagen und ohne Anführungszeichen zu setzen. Da die Marxisten nun nicht im Stande sind, Marxtexte zu erkennen, gelte ich als einer, der Marx nicht zitiert. Verspürt denn ein Physiker das Bedürfnis, Newton oder Einstein ausdrücklich zu zitieren? Er verwendet sie einfach und braucht keine Anführungszeichen, keine Fußnoten und keine Lobrede, die seine Treue gegenüber dem Denken des Meisters unter Beweis stellt. und da die anderen Physiker wissen, was Einstein getan, was er erfunden, bewiesen hat, nehmen sie es ohne viel Aufhebens zur Kenntnis. Man kann heute nicht Historiker sein, ohne eine Reihe von Begriffen zu verwenden, die direkt oder indirekt mit dem Denken von Marx verknüpft sind, und ohne sich in einem Horizont zu bewegen, der von Marx beschrieben oder definiert worden ist.”

Benutzen, verzerren, mißhandeln
Wie also? Einerseits muß man laut Foucault als Historiker geradezu Marxist sein, andererseits sagt er: „Für mich existiert Marx nicht. Ich meine diese Art von Entität, die man um einen Eigennamen herum konstruiert hat, der sich mal auf ein Individuum, mal auf die Gesamtheit dessen, was er geschrieben hat, und mal auf den gewaltigen historischen Prozeß, der sich von ihm herleitet, bezieht (...)”
Foucaults Weigerung, einen Autor zu zitieren, dessen Werk er schlicht voraussetzt, hat etwas mit dem Kult und dem Mißbrauch zu tun, der von anderen getrieben wird, geht also nicht auf Ambivalenz oder gar Ablehnung zurück, sondern ist eine theoriepolitische Strategie: „Ich könnte viele Passagen heraussuchen — was völlig uninteressant ist —, viele Passagen, die ich mit Bezug auf Marx geschrieben habe, und wenn Marx nicht der Autor gewesen wäre, der eine derartige Rolle gespielt und ein derartiges Übergewicht gehabt hat, hätte ich ihn in den Fußnoten zitiert.”
Wahrscheinlich gilt für Foucaults Umgang mit Marx also dasselbe wie für seinen Umgang mit Nietzsche: „Was mich betrifft, ich benutze die Leute, die ich mag. Die einzige Anerkennung, die man einem Denken wie dem Nietzsches bezeugen kann, besteht darin, daß man es benutzt, verzerrt, mißhandelt und zum Schreien bringt. Ob einem die Kommentatoren Treue bestätigen oder nicht, ist völlig uninteressant.”

Dialog mit Marx
Pierre Bourdieu kann also durchaus recht haben, wenn er meint, Michel Foucaults Werk werde sehr wohl von einem „Dialog mit Marx” durchzogen.
In einem seiner zahlreichen Interviews erwähnte Foucault ausdrücklich „einen Satz von Marx: Der Mensch erzeugt den Menschen. Wie ist das zu verstehen? Meiner Ansicht nach ist das, was erzeugt werden soll, nicht der Mensch, so wie ihn die Natur vorgezeichnet hat oder wie sein Wesen es vorschreibt; wir haben etwas zu schaffen, das noch nicht existiert und von dem wir nicht wissen können, was es sein wird.” Wie man sieht, kann sich Foucault sogar für seine These vom „Tod des Menschen” auf Marx berufen. Eine Denkfigur, die im Verlauf der Geschichte entstanden ist, kann auch wieder verschwinden.
Anders als Hegelianismus, Phänomenologie, Existentialismus und gewisse „humanistische” Marxismen, die um die Kategorie der Entfremdung kreisen, weist Foucault die Annahme zurück, es sei das Subjekt, das Welt und Sinn erst hervorbringe. „Die Frage lautet: Kann man sagen, daß das Subjekt die einzige mögliche Existenzform ist? Kann es nicht auch Erfahrungen geben, in deren Verlauf das Subjekt nicht mehr gegeben wäre in seinen konstitutiven (Welt und Sinn stiftenden, Anm.) Funktionen, in dem was es an Identischem-mit-sich hat? Gäbe es also nicht Erfahrungen, in denen das Subjekt sich auflösen, das Verhältnis zu sich zerbrechen, seine Identität verlieren könnte?”
Solche Erfahrungen hat Foucault gesucht und gefunden — als Privatperson, aber auch als Autor. „Der Wert von Foucaults Werk liegt eher in dem, was verändert, als in dem, was er hervorbringt.” (Jeremy R. Carrette) „Anders Denken” und „Anders-Leben” gehörten für Foucault zusammen. In diesem Sinne dürfte er Marxens elfte Feuerbach-These durchaus beherzigt haben.

Volksstimme 41, 14. Oktober 1999

 
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