Zuletzt veröffentlichte Texte
Hiermit trete ich aus der Homosexualität aus PDF Drucken E-Mail

Zum Problem der schwulen Differenzierung der Heterosexuellen Differenz

Wer Geschlechtliches zu denken versucht, läuft oft Gefahr, sich von den Kategorien Identität und Differenz gefangennehmen zu lassen. Einem Gefängnis aber entkommt man nicht schon, indem man dort die Wände bunt anstreicht. Lieber mal in der Häftlingsbücherei vorbeischauen und die Geschichte vom Hasen und vom Igel nachlesen. Dieses Grimmsche Märchen kann, wenn man nur will, als Allegorie des Verhältnisses von Homosexualität und Heterosexualität verstanden werden. Der schwule Hase läuft sich aus Leibeskräften zu Tode, weil der heterosexuelle Igel (samt Frau) ihn betrügt. Zu welchem Ende der Ackerfurche Meister Lampe auch kommt, immer trifft er dort auf eine Hälfte des Igelpaares, die vorgibt, früher dort gewesen zu sein. Gegen solche Konkurrenz hat der blindwütige Läufer eindeutig keine Chance. Was also, lieber Leser, liebe Leserin, kann dem armen Hasen geraten werden? Der lange Marsch durch die Geschlechterverhältnisse?

I. „Von der Hölle ...”
Im Prinzip ist alles schon entschieden. Die Heterosexualität ist das Ganze, alles ist heterosexuell. Was beispielsweise gemeinhin „sexuelle Differenz” genannt wird, muß genauer und richtig heterosexuelle Differenz heißen. Männliches und Weibliches sind ja nicht nur voneinander geschieden, sondern auch aneinander verwiesen. Als Mann gilt demnach, wer Frauen begehrt, Frau ist, wer von Männern begehrt wird. Zwar kann fast alles ihrem herrischen Differenzierungsgestus unterworfen werden: aktiv/passiv, stark/schwach, oben/unten usf.; die heterosexuelle Differenz selbst aber ist nicht weiter differenzierbar: Mann oder Frau, Mann und Frau, das wär’s.
Diese Logik bezieht ihre metaphysische Stringenz aus den willkürlich zur Natur erklärten Fortpflanzungsverhältnissen, in deren Dienst zudem die Lüste als bloße Nebeneffekte stehen sollen. Dergleichen wird gern als Sexualität ausgegeben, ist aber doch „nur” Heterosexualität. Die hier freilich nicht als beliebige individuelle Vorliebe zu verstehen ist, sondern als gesellschaftlich definiertes und kulturell omnipräsentiertes Wahrnehmungs-, Empfindungs-, Vorstellungs- und Handlungsraster. Gleichsam als transzendentale Matrix, die den konkreten erotischen Erfahrungen die Bedingungen ihrer Möglichkeit oder Unmöglichkeit diktiert.
Die dominante Heterosexualität impliziert jedoch immer schon Homosexualität. Womit wiederum kein besonderes Schicksal, sondern eine generelle Struktur gemeint ist. Männliche Homosexualität ist geradezu der Inbegriff des — selbstverständlich strikt „heterosexuellen” — Patriarchats. Männer wollen Männer, als Kameraden, Konkurrenten und Idole, bei Arbeit, Sport und Spiel. In bestimmter Hinsicht allerdings substituieren die gleichgeschlechtlichen Subjekte einander durch Objekte anderen Geschlechts. (Also Frauen, die so in ihre Ungleichheit ein- und aus der Gemeinschaft der Männer ausgeschlossen werden.) Die implizite Homosexualität hat im persönlichen Bereich nämlich als Heterosexualität realisiert zu werden, weshalb dann die explizite Homosexualität als privates (Miß-)Geschick erscheint. Wer die verbindliche Einbindung ins gegengeschlechtlich verfaßte Paar verpaßt, macht sich verdächtig. Mit so einem stimmt doch was nicht.
Der Homosexuelle als Figur und die Homosexuellen als Spezies sind mehr oder minder erwünschte Nebenwirkungen der kollektiven und individuellen Verdrängungen, die die heterosexuellen Identitäten sichern müssen. Das „Problem Homosexualität” ist primär denen ein Problem, die keinesfalls „so” sein wollen. Erst die terroristische gesellschaftliche Praxis der zwanghaft heterosexuellen Mehrheit schafft Probleme für die, die demzufolge eine „Minderheit” sind. Unweigerlich repräsentieren sie, was unmöglich präsent sein darf.
Daher sind Homo- und Heterosexualität, auch wenn das noch so gutwillig behauptet wird, keineswegs gleichberechtigte Lebensweisen. Nicht solange diese an der Macht ist und alles beherrscht, was von jener gewußt werden kann. Wie es ja auch die alten Bezeichnungen „conträres Sexual-Empfinden” und „Inversion” bezeugen, vermag Homosexualität nämlich nicht anders als als eine irgendwie verkehrte Heterosexualität gedacht zu werden. Der Schwule ist, man weiß es, andersrum. Gerade weil er aber als Mann definiert wird, der Männer liebt (also keine Frauen), entkommt er der heterosexuellen Differenz nicht.
Selbst eine vorübergehende Entdramatisierung ephemeren homosexuellen Verhaltens — in der Jugend, in der Not, nur ab und zu — schreibt nochmals den marginalen und abgeleiteten Charakter von Homosexualität fest. In ein harmonisierendes Konzept universeller Bisexualität integriert, bleibt Homosexuelles erst recht auf Heterosexuelles als dessen Gegenstück fixiert. Gilt Bisexualität als „normal”, hat Heterosexualität bloß expandiert. Zudem ist Normalität stets repressiv und ihre Ausdehnung so wenig wünschenswert wie irgendein anderer Imperialismus. Mag die polymorph-heterosexuelle Angebotspalette auch um ein paar Häppchen Gleichgeschlechtliches erweitert worden sein, gerade hinter dem Vordergrund diversifizierter Erotik muß ausschließliche Homosexualität nach wie vor als unvollständig erscheinen. Wenn auch vielleicht, da exotisch, als chic.

II. „… übers Paradies ...”
Homosexuelles ist in Mode gekommen. Hätte ihm Schlimmeres passieren können? Nun, gewiß ist öffentliche Vereinnahmung weitaus angenehmer als offene Verfolgung. Aber wo, wenn man fragen darf, ist jene Subverisivät geblieben, die man sich Anfang der 70er Jahre von freigesetzter Homosexualität versprechen zu können glaubte?
Der schwule Traum von einer Sache namens „gesellschaftliche Veränderung” ist längst im kalkulierten Konsumrausch aufgegangen. Der vormals wenigstens potentiell revolutionäre Schwule ist zum glücklichen Szenezombie mutiert. Und die aus utopischer Transfiguration öffentlicher Einrichtungen gewonnenen Orte unverblümt namenloser Begegnungen (Parks, Klappen u.ä.) haben ihre Funktion als Leitstellen schwuler Selbstverständigung an behördlich konzessionierte Lokalitäten (Szenecafé, Lederbar, schwuler Buchladen, gay mailbox u.ä. abgetreten, deren meist problem-, aber selten kostenlose Benutzung den Erwerb gebrauchsfertiger Identitäten garantiert. Doch in „Freiräumen” ohne Widerstand dreht man leicht durch: Bewegung ist im Netzwerk zum umtriebigen Stillstand gekommen.
Freilich muß niemand der Unterdrückung auch nur eine Träne nachweinen. Denn wo Homosexualität normalisierungsfähig, talkshowkompatibel und boutiquenpflichtig geworden ist, kann sich der voreingenommene Betrachter ohnehin den guten alten Begriff der repressiven Entsublimierung nicht verkneifen. Ein Käfig voller Narren ist immer noch ein Käfig. Und Narrenfreiheit darf doch wohl nicht als Emanzipation durchgehen.
In der zeitgenössischen Dienstleistungsgesellschaft ist lediglich das veraltete Abnormitätskonzept durch neue Normen ersetzt worden. Erlaubt ist, was gefällig ist. „Da gibt es keine Fetten und keine Alten,” schreibt Elmar Kraushaar im schwulen Magazin „magnus” (September 1994), „keine Kranken und keine Schwachen, niemand ist unglücklich, und alle wollen nur das eine: ausgehen, feiern, gut drauf sein.” Sei, wie du willst, wenn du nur willst, wie du sollst. Im schwulen mainstream tanzt man zu Rhythmen, die einem Bekenntnispflicht, Vereinigungsfreiheit und Konsumzwang vorgeben.
Ohne coming out geht erstmal gar nichts! Ein Geständnis entlastet schließlich, wenn auch vielleicht am meisten die, denen man’s macht. Schon die alte Forderung „Mach dein Schwulsein öffentlich!” setzte die heterosexuelle Öffentlichkeit als unverändert akzeptierte Instanz ebenso voraus wie die Existenz einer inneren Wahrheit, die man bei Bedarf bloß aus sich herauszustülpen habe. Vom pragmatischen Essentialismus postindustrieller Identitätsfreudigkeit aber geht für die Geschlechterverhältnisse vollends keine Gefahr mehr aus.
Darum nur ruhig hinein in die gay community! Gleich und gleich gesellt sich gern. Früher mal galten Zweierkiste und Familie bei linken Spinnern als Horte bürgerlich-ödipaler Reaktion und waren daher pfui. Heute sehnt sich jeder Schwule nach der Nestwärme eines individualistischen Kollektivs und plant auch den passenden Partner fürs Leben in die erotische Karriere mit ein. Das Betteln um die „Homo-Ehe” ist da nur folgerichtig und die angemessene Schwundstufe schwuler Politik.
Nur immer her mit dem life-style! Man ist, was man hat oder gehabt hat, und muß sich schon ein wenig anstrengen, wenn man seinem Ruf als fröhlichste Vorhut des pluralistischen Konsumismus gerecht werden will. Ein inhaltsarmes Leben ist doch gleich viel erfüllter, wenn man dazu das richtige outfit trägt. Wo bitte geht’s hier zum nächsten event? Ob dance floor, outdoor cruising oder „Kultur”: fun muß, drugs dürfen, sex kann sein.
Here we are. Die Schwulen haben sich erkennbar gemacht, und die Gesellschaft zeigt sich erkenntlich. Wer sich bis zur Bewußtlosigkeit integrieren läßt, erhält dafür das Gütesiegel ganz besonderer Normalität. Eine schier obszöne Wohlanständigkeit hat allenthalben um sich gegriffen. Da fliegt schon mal ein Pädophilenverband aus dem International Lesbian and Gay Association, damit nur ja nicht der Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen gefährdet wird (von deren 184 Mitgliedern übrigens mindesten 74 offen schwulenverfolgende Strafbestimmungen haben). Mit schmuddeligen Knabenschändern hat man und frau selbstverständlich nichts gemein. Ach, wissen Sie, das ist doch bloß eine Minderheit … Tja, abgesehen davon, daß man eindeutig den besseren Geschmack hat, ist man als Schwuler im Grunde auch nicht anders als andere auch.
„Wenn ein Schwuler sich die Haare blau färbt,” ließ Jean Genet einmal in einem Interview wissen, „kann er durch sie ein revolutionäres Programm verkünden; doch wenn er, nachdem er sich die Haare blau gefärbt hat, sich mit Hormonen Brüste wachsen läßt und mit einem Mann zusammenlebt, parodiert er bloß das System. Er wahrt den Schein und provoziert überhaupt nicht. Die Gesellschaft ist belustigt. Er wird so etwas wie ein Kuriosum, das vom System rasch verdaut wird.” Und alles, so könnte man hinzufügen, was von dem bißchen Exzeß und Perversion übrigbleibt, ist die alte Scheiße.

III. „ … ins Fegefeuer!”
„Hiermit trete ich aus der Kunst aus”, verkündete eins Joseph Beuys. Und schuf damit erst recht wieder Kunst. Wenn man sich für ein politisch wachen Menschen hält, der den Traum von Widerstand und Befreiung noch nicht ausgeträumt hat, können einem die schrille Biederkeit der warmen Mitbrüder einerseits und die heuchlerische Umarmung durch den Hetero-Zeitgeist andererseits das eigene Schwulsein ganz schön vermiesen. Was tun, fragt der Hase, dem man die Geschlechter erklärt hat. Aus der Homosexualität austreten, um erst recht wieder „ganz verteufelt homosexuell” zu sein? Die Inversion noch etwas weitertreiben, ohne sich dabei im Kreis zu drehen? Außer Konkurrenz dem Feld davonlaufen, indem man einfach mittendrin mal die Richtung wechselt? Wenn es doch nur gelänge, das Spiel der heterosexuellen Differenz nicht zu spielen!
Im Französischen konnte der Schwule zuzeiten l’indifférent genannten, wohl weil er auf die Reize des anderen Geschlechts nicht anspricht. Läßt vielleicht Indifferenz eine Chance, Differenz zu verwinden? Im sinne aktiver Teilnahmslosigkeit möglicherweise, als Versuch, beim regulären Verkehr der Geschlechter nicht mitzumachen.
Das Modethema gender-crossing bietet konzeptionell lediglich Vertauschungen innerhalb des vertrauten kategorialen Rahmens, nicht dessen Abschaffung, sodaß nach ein wenig Hin und Her bald alles wieder an seinem Platz sein dürfte. Schwule In-Differenzierung aber hätte die heterosexuelle Differenz nicht nur zu kreuzen und zu queren, sondern auch durchzustreichen und zu verlassen.
Die Heterosexualität schuf sich eine Homosexualität nach ihrem Bilde. Doch das kann nicht alles gewesen sein. Unter anderen existieren die Fetten, Alten, Kranken, Schwachen und Unglücklichen sehr wohl und sind nicht weniger schwul als die angepaßten Neonormalen. Sie sind eher die Wirklichkeit als die Schwulendarsteller, von deren Abweichung sie abweichen. Das bringt mich womöglich auf eine Spur:
Es gibt noch Differenzen diesseits und jenseits des Kleinen Unterschieds und seiner identitätsstiftenden Folgen zu durchleben, die ungemein vielfältiger und reichhaltiger sind als die schlichte Polarität der Geschlechter. Ein Körper beispielsweise ist nicht nur männlich und/oder weiblich. Er ist vielmehr auch etwas zu groß, angenehm warm, schön anzuschauen, ganz nah, eher kühl, erstaunlich beweglich oder merkwürdig fremd …
Wer mich als Mann identifiziert, hat selber schuld. Nicht weil ich keiner wäre, aber darum geht’s doch gar nicht, wenigstens nicht allein. Auch nicht bloß um eine Schwäche fürs starke Geschlecht. Vielmehr wünsche ich mir, In-Version wäre nicht einfach eine Version von „Sexualität”, die in sein kann oder out, sondern die leidenschaftliche Verneinung gängiger Fassungen, das große Ja zu erotischer Anarchie, der durchdachte Sprung aus der Furche. „Ick bün all hier”, ruft irgendeiner der Igel dem Hasen noch zu, aber der ist längst weitergelaufen und inzwischen ganz woanders. „Tschüs!”

Zuerst erschienen in der Volksstimme 44 / 3. November 1994, S. 20 f.

 
Anmerkungen zum Vortrag WMSDSLM PDF Drucken E-Mail

Nach einem Vierteljahrhundert — früher hätte man sagen können: einer Generation — auf einen eigenen Text zurückzublicken, hat, jedenfalls für mich, etwas Überraschendes. Ich vergesse leicht, was ich einmal geschrieben habe, und bin, wenn ich später wieder darauf stoße, oft überrascht, wie dumm oder wie klug ich war, wie wohlgeraten oder wie wenig durchdacht meine Formulierungen mir heute vorkommen. Zum Glück verändert man sich im Laufe der Zeit, verändert sich auch im Denken, in den Auffassungen und Überzeugungen, aber eben auch im Vermögen oder Unvermögen, diese je nach Gelegenheit auszusprechen. Es ist darum nicht Selbstverliebtheit, wenn ich einen alten Text von mir wieder zu Hand nehme, sondern Versuch der Selbsterkenntnis. Ich bin mir selbst fremd geworden und betrachte mich nahezu von außen. Was wusste ich früher schon, was nicht, was meinte ich damals zu wissen, das ich heute nicht mehr weiß, welche Mittel wandte ich an, was kam dabei heraus? Da überrascht es mich manchmal, wie sich gewisse Dinge von damals bis heute durchhalten (immerhin fast über die Hälfte meines Lebens) und wie anders manches geworden ist. Ich entdecke an meinem damaligen Text (und damit an mir als seinem Autor) gewisse Manierismen und Marotten, aber auch einiges an bemerkenswertem Vermögen, bin von manchem beschämt, von anderem amüsiert, von einigem sogar erfreut. Das ist nicht so belanglos, wie man meinen könnte. Die Beschäftigung mit einem alten eigenen Text hilft mir womöglich, mich selbst besser zu verstehen. Und da ich meine, dass Philosophie nichts anderes ist als der Versuch, das eigene Verständnis der grundlegenden Dinge anderen verständlich zu machen — und was wäre für einen grundlegender als sein Selbstverständnis? —, verstehe ich meine Auseinandersetzung mit mir selbst (in Gestalt eben des besagten alten Textes) als etwas, das auch andere interessieren könnte, wenn sie sich denn überhaupt für mein Denken zu interessieren vermögen.

* * *

Die äußeren Umstände, wie es zu dem Vortrag „Wie man sich denkt, so liebt man“ kam, sind rasch erklärt. 1993 hatte ich vor dem Sommer zum ersten Mal an einem Filmabend der „LesBiSchwule Gewi-Gruppe“ teilgenommen. (Die Kontraktion „LesBiSchwul“ war eine Vorläuferin von LGBTIQ*. Gewi die Abkürzung für „Geisteswissenchaftliche Fakultät der Universität Wien“; an der Fakultät, an der ich damals Philosophie studierte, der grund- und integrativwissenschaftlichen, oder irgendeiner anderen gab es keine Entsprechung, weshalb die Gewi-Gruppe Anlaufstelle für Studierende der verschiedensten Studienrichtungen war.) Ab dem Herbst nahm ich dann an den Treffen der Gruppe teil. Gleich am ersten Abend war ich von dem Reflexionsniveau unangenehm überrascht. Ich erinnere mich vor allem an zwei anscheinend konsensfähige Behauptungen, nämlich einmal, dass Männer, die Klappen aufsuchten (also Sex mit anderen Männern in öffentlichen Toiletten suchten und fanden) ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Homosexualität hätten, zum anderen, dass man, wenn man in einer festen Beziehung sei, keinen anderen mann mehr ansehen, geschweige denn attraktiv finden dürfe. So viel Spießertum fand ich entsetzlich, nahm es aber hin, weil ich abwarten wollte, ob in einer solchen Gruppe nicht doch auch andere Diskussionen, reflektiertere, wissenschaftlich und politisch avanciertere stattfinden könnten. Leider musste ich rasch feststellen, dass das Interesse der allermeisten Teilnehmer und Teilnehmerinnen an den Gruppentreffen eher und nahezu ausschließlich den sozialen Aspekten des Studierens galt und nicht, wie ich gehofft hatte, dem Bemühen um eine wie auch immer geartete Bezugnahme der jeweiligen Studieninhalte auf den Themenkomplex Homosexualität. Ich unternahm noch den Versuch, durch einen von mir geschriebenen, aber auf mehrere Leser zufällig verteilten Text über „Homosexualität und Wissenschaft“ eine Diskussion über eben diese beiden Themen und deren Verhältnisse anzustoßen, scheiterte aber. Schließlich nahm ich immer seltener an Treffen teil. Zuletzt aber, schon 1994, schlug ich, gleichsam als letzten Versuch einer akademischen Aktivität der Gruppe, den anderen vor, ob man nicht eine Vortrags- und Diskussionsreihe organisieren könnte, um der Gruppe an der Universität Aufmerksamkeit zu verschaffen. Erstaunlicherweise wurde der Vorschlag angenommen. Zwar richtete sich dann die meiste Energie auf die Frage, wo man die Abschlussfeier veranstalten und ob es zur Eröffnung eine Cocktailparty geben solle, aber zusammen mit einem Studenten aus Berlin gelang es mir doch, einige Vortragende einzuladen, Vorträge zu vereinbaren und Veranstaltungsorte (meistens Hörsäle) zu organisieren. Und wenn ich schon dabei war, setzte ich mich selbst auf die Liste. Warum mein eigener Vortrag nicht in Räumen der Universität stattfinden sollte, sondern im sogenannten Galerieraum des Café Berg, der den Übergang zur Buchhandlung Löwenherz bildete, weiß ich nicht. Vielleicht erwartete man wenige Zuhörer. Es kamen allerdings dann mehr, als der Galerieraum fassen konnte.
Leider konnte ich, weil ich meinen eigenen Vortrag vorbereiten musste, nur an wenigen Veranstaltungen der „LesBiSchwulen Aktionstage 1994“ (oder hießen sie „Uni-Woche“?) teilnehmen. Ich erinnere mich noch an einen unterhaltsamen Workshop über Safer Sex mit einem reizenden Medizinstudenten und an einen Vortrag von Frank M. Amort. — Zu den Treffen der Gruppe ging ich übrigens danach nicht mehr. Einmal mehr hatte sich für mich erwiesen, dass ich nicht gruppenkompatibel bin. Es war mein letzter Versuch, mich in (schlecht) organisierter Form innerhalb dessen zu engagieren, was man im weitesten Sinne als „Homosexuellenbewegung“ nennen könnte; danach beschränkte ich mich aufs geschriebene und gesprochene Wort.

* * *

Zur Vorbereitung meines Vortrages ging ich auch einmal mehr in die Buchhandlung Löwenherz und fragte dort Andreas Brunner, Jürgen Ostler und den aus dem Café Berg herbeigeholten Leo Kellermann (und ich meine, auch Hannes Sulzenbacher sei dabei gewesen, bin mir aber nicht sicher) nach Texten über Homosexualität, die weder belletristisch, noch historisch, noch soziologisch, noch psychologisch, noch literaturwissenschaftlich seien. Solche Texte kannte ich ja in recht großer Zahl. Ich hätte aber gern „etwas Philosophisches“ gehabt. Ein großes Nachdenken und Suchen hub an, leider ohne das gewünschte Ergebnis. (Andreas Brunner gab mir später die Fotokopie der in „Lettre international“ erschienenen Übersetzung von Leo Bersanis „Is The Rectum A Grave?“; von da datiert mein Interesse an Bersani.) Ich erwähne das, um zu zeigen: Selbst hochkompetente Vielleser und versierte Buchhändler hatten damals (1993/94) anscheinend noch nichts von „Queer Theory“ gehört. Judith Butlers „Gender Trouble“ war zwar schon 1991 auf Deutsch als „Unbehagen der Geschlechter“ erschienen, wurde vermutlich eher als Beitrag zum Feminismus betrachtet. (Ich selbst hatte das Buch erst 1993 entdeckt. Butler hielt dann übrigens am 17. Mai 1994 einen Vortrag in Wien, dem ich zuhörte.) Wenn ich mich richtig erinnere, kaufte ich den berühmten „Gay and Lesbian Studies Reader“, den „blauen Ziegel“, wie ich ihn nannte, zu reduziertem Preis beim ersten Abverkauf der Buchhandlung Löwenherz; die eröffnete 1993, der Abverkauf der Ladenhüter kann also wohl nicht vor 1994 geschehen sein. Mit anderen Worten: Obwohl ich damals einiges an literarhistorischer und allgemeinhistorischer und auch an sozio- und psychologischer Literatur rezipiert hatte, fühlte ich mich bei dem, was ich vorhatte, nämlich einem explizit philosophischen Nachdenkern über (männliche) Homosexualität ziemlich alleingelassen und auf mich selbst verwiesen. Das heißt nicht, dass ich dem bis dahin Gelesenen nichts verdanke, im Gegenteil, aber die Schlüsse, die ich aus dem zog, was ich verstanden zu haben meinte, erschienen mir als ganz und gar meine eigenen.

* * *

Der Stil des Vortrages ist, wenn ich ihn heute wiederlese, um das mindeste zu sagen: eigenartig. So schreibt man nicht, wenn man sich im akademischen Feld bewegt (wozu hier ausnahmsweise auch einmal der damals noch bestehende Galerieraum des damals noch existierenden Café Berg gezählt sei), schon gar nicht, wenn man darin reüssieren will. Mir war das egal. Ich hatte nichts zu verlieren und erwartete nicht, etwas zu gewinnen. Darum nahm ich mir die Freiheit, Inhalt und Form auf neue Weise aufeinander zu beziehen. Ich versuchte damals, Theorie und, wie ich sie verstand, Literatur zu verbinden: Theorie mit literarischen Mitteln sozusagen. Anstelle argumentativer Diskursivität sollte ein Mosaik von assertorischen Fragmenten entstehen. Man könnte auch von einer kaleidoskopischen oder sogar stroboskopischen (Gedankenblitze!) Textform sprechen.
Diese wählte ich nun nicht, weil ich keine Argumente hatte, sondern weil ich auf langwierige Herleitungen verzichten wollte: Behauptung, nicht Begründung, Präsentation von Resultaten an Stelle des Weges dahin war mein Anliegen. Ich wollte anscheinend eher überfallen als überzeugen, wohl auch auf Grund der Erfahrung, noch selten überzeugt zu haben mit dem, was ich mir so denke.
Ich erarbeitete also eine Form der Organisation des Textes, die diesen in thematische Serien zerlegte, deren Einzelteile dann in einer chaotisch scheinenden, aber bestimmter Regel folgenden Reihenfolge dargeboten wurden: 17 Abschnitte der Reihe A, 16 der Reihe B, 15 der Reihe C usw. bis zu einem Abschnitt R, insgesamt 153, so aufeinander folgend, dass in jeder Reihe die Abstände je nachdem größer oder keiner wurden. Ähnliche Modelle verwendete ich später immer wieder, verwende sie bis heute. Texte so zu organisieren, erlaubt es, die Anordnung ihrer verschiedenartig Bestandteile willkürlich erscheinen zu lassen, obwohl sie mathematischen Regeln folgt: Der Leser erlebt Unordnung, der Verfasser hat ein System, das Zahlenspielereien und Zahlenmystik gestattet. (Die Zahl 153 stammt aus dem Johannesevangelium: Kapitel 21, Vers 11.)
Beim Schreiben des Textes war es freilich nicht so, dass erst ein ganzer Text oder eine Textreihe entstand und dann zerlegt wurde. Vielmehr entstanden die Textstücke in unregelmäßiger Folge im Hinblick auf die Vorgaben des Verteilungssystems. Was ab und zu dazu führte, dass mehr absichtliche Bezugnahme aufeinanderfolgender Stücke gibt, als es die Regeln eigentlich verlangten.
Dass der Vortragstext einige Zitate bietet, ohne jede genau Quellenangabe, ist übrigens selbstverständlich eine Parodie des akademischen Wahns, nur das mit Zitaten abgestützte Denken sei berechtigt.

* * *

Was aber nun das betrifft, was ich damals sagte, so bin ich nicht völlig unzufrieden. Schon damals war ich offensichtlich gegen Identitätswahn und Zerebralismus, für ein körperliches Denken und freie Orientierung. Bemerkenswert finde ich den Untertitel: Zur metaphysischen Konstruktion sexueller Orientierung. Vielleicht löste ich mit meinem Text das damit Versprochene nicht ein, dass ich aber überhaupt von Metaphysik, Konstruktion und sexueller Orientierung (und eben nicht bloß sexueller Identität) sprach, damals schon, erstaunt mich. Meinen Begriff der Metaphysik meinte ich erst später erarbeitet zu haben: Die Beschäftigung mit dem Grundlegenden, das dem Denken und Handeln vorausliegt und es daher bestimmt. Indem ich aber 1994 schon von metaphysischer Konstruktion, und nicht etwa bloß von sozialer, sprach, meinte ich genau das: Welche Voraussetzungen hat der Gedanke der sexuellen Orientierung, was wird implizit mitgedacht, wenn von Homo- und Heterosexualität geredet wird? (Dabei sind Homo- und Heterosexualität allerdings zwei Ausdrücke, die im Vortrag ostentativ nicht vorkommen.)
Die metaphysische Konstruktion liegt der sozialen noch einmal voraus (nicht zeitlich, sondern der Sache nach). Sozial konstruiert, anders gesagt: im Miteinander der Menschen als Erfahrbares bewirkt, ist alles, was nicht als „naturwüchsig“, als außergesellschaftlich erfahren wird; damit ist streng genommen alles sozial konstruiert, denn der Mensch ist immer in Gesellschaft (wie ich auch schon damals sagte), und auch das, was er auf den Begriff der Natur oder des Natürlichen bringt, widerfährt ihm nur als gesellschaftliches Wesen. In der Natur gibt es keinen Begriff der Natur. Und auch wenn nicht alles vom Menschen gemacht (und insofern „natürlich“ ist), so ist doch die Art und Weise, wie das so Gegebene und Gebrauchte verstanden wir, niemals außergesellschaftlich. Schon weil Denken und Reden der von anderen erlernter Sprache bedarf.
Metaphysische Konstruktion verweist nun darauf, dass die (produktiven) sozialen Praktiken, die und deren Effekte als soziale Konstruktion beschrieben werden können, zugleich Implikationen haben, die außerhalb ihrer philosophischen Analyse niemals explizit werden müssen, aber dennoch als der am meisten allgemeine Rahmen des Verstehens, diesem seine Form geben.
In diesem Sinne kann, um Beispiel zu geben, das Vorhandensein von Samen- und Eizellen und die Erfordernis, diese zusammenzubringen, wenn ein neues Lebewesen entstehen soll, als natürliche Gegebenheit betrachtet werden. Man darf da den Beschreibungen der Biologie durchaus vertrauen, solange man bedenkt, dass Biologie nichts Natürliches ist, sondern als Wissenschaft menschliche, nämlich gesellschaftlich organisierte Praxis. Sexualität in dem genannten Sinne mag natürlich sein, wie in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit darüber gedacht wird, was Männer ausmacht, was Frauen ausmacht und was jemand entsprechend seiner Geschlechtszugehörigkeit tun (und fühlen) darf oder muss, ist nicht natürlich, sondern durch ineinandergreifende, Regelmäßigkeiten ausbildende menschliche (und also näher gesellschaftlich organisierte) Praktiken bestimmt. Anders gesagt: durch soziale Konstruktion.
Einmal mehr soll hier nebenbei gegen das Vorurteil vorgegangen werden, „sozial konstruiert“ bedeute als „lediglich sozial konstruiert“ so viel wie: „nicht richtig real“ und „jederzeit wieder veränderbar“. Mein Gegenbeispiel ist da stets der Eiffelturm. Dieser ist mit Sicherheit nicht natürwüchsig, nämlich irgendwann einfach aus dem Boden gewachsen. Er wurde vielmehr zweifellos von Menschen in komplex aufeinander bezogenen Handlungen beschlossen, geplant und gebaut. Er ist damit eindeutig ein soziales Konstrukt. Und gerade deshalb eben sehr real, man kann sich sogar den Kopf daran stoßen. Ihn abzubauen wäre sehr aufwändig, und es ist ziemlich unwahrscheinlich dass es passiert. Er gehört heute zu Paris als dessen Wahrzeichen und ist fester Bestandteil der Realität von Bewohnern und Touristen.
Zurück zur metaphysischen Konstruktion. Während die soziale Konstruktion also Wirklichkeit erzeugt, betrifft die metaphysische Konstruktion sozusagen die Bedingungen der Möglichkeit solchen Konstruierens. Wie muss Wirklichkeit verstanden werden, damit es möglich und sinnvoll erscheint, etwas Bestimmtes zu tun? Etwa ein riesiges Stahlgerüst mitten in eine Stadt zu setzen. Welche Konzepte von Stadt, von technischer Schönheit, von menschlicher Leistungsfähigkeit usw. liegen dem zu Grunde? Oder, da ja nicht historisch (ideengeschichtlich) gefragt werden soll, sondern metaphysisch: Welche Konzepte müssen derlei zu Grunde liegen, damit es als überhaupt als machbar und wünschenswert gelten kann?
Mein Begriff der Metaphysik nähert sich, vielleicht vermittelbar über den Begriff des historischen Apriori, den foucaldischen Begriffen Archäologie und Genealogie an. Während aber Foucault seine Empirie im Archiv sucht, um das Zustandekommen bedingten Wissens innerhalb von Wahrheit produzierenden Diskursen zu untersuchen, sind die Erfahrung, von der ich ausgehen will, die real existierenden Diskurse selbst, und zwar in ihrer zum Teil widersprüchlichen Mannigfaltigkeit, nicht nur als wissenschaftliche. Mich interessiert nicht so sehr, wie etwas, das aktuell als richtig gilt, zu dieser Geltung gekommen ist (obwohl ich mich darüber gern belehren lasse), sondern was es bedeutet, wenn es gilt, was vorausgesetzt werden muss, damit es gelten kann, und was das für Folgen hat, was dann also noch gilt.
Die ersten und letzten Dinge, die allgemeinen Prinzipien, die traditionell der Metaphysik als ihre Gegenstände zugedacht werden, sind, wie ich meine, immer nur im Hier und Jetzt gegeben. Ihre „Apriorizität“ findet jetzt statt, kann nur jetzt als Wirklichkeit erfahren werden. Der Zugang zu dem, was war (also auch die Historisierung des Apriori), muss von der Gegenwart aus gesucht werden (die im nächsten Augenblick selbst schon vergangen sein wird). Jede Geschichte über die Wirklichkeit wird nachträglich erzählt und ist somit nur als gegenwärtige Erfahrung verständlich.
Das alles war mir selbstverständlich 1994 noch weniger klar als heute, fünfundzwanzig Jahre später, wo ich offensichtlich immer noch um Klarheit ringe. Umso erstaunlicher, dass ich den Ausdruck „metaphysische Konstruktion“ in den Untertitel setzte; ich scheine etwas geahnt und gewollt zu haben, auch wenn von Metaphysik dann im Text gar nicht explizit die Rede ist.
Wovon aber die Rede ist, ist Denken, Orientierung, Identität, Gesellschaft, Herrschaft, Utopie, Moral usw. usf. Dabei gelingen mir, wie ich finde, durchaus knackige Formulierungen: „Man ist immer in Gesellschaft.“ (Ein Satz, der mir geblieben ist.)
„Die Gesellschaft, verstanden als die Gesamtheit der Beziehungen zwischen den Menschen …“
„Denken ist Abenteuer im Körper.“
„Individualität ist das am wenigsten Individuelle, da sie doch jedem Individuum zukommt, also allen gemeinsam ist. Eine individuelle Identität ist ganz und gar nichts besonderes.“
„Moralisch zu handeln heißt: so wie gedachte oder wirkliche andere zu handeln, so wie diese gehandelt haben oder handeln würden. Moral ist Gewohnheitssache. Sie besteht nicht so sehr aus Werten, Normen, Regeln – sondern aus dem erlernten Gefühl für das Zulässige.“
„Utopien sind Geschichten von Reisen an Orte, an denen niemand je war. Sie schildern Verhältnisse, die den hiesigen deshalb nicht gleichen, weil sie sie kritisieren.“
„Natur wird gedacht.“
Usw. Usf.
Ich finde in dem 25 Jahre alten und in vielem fremd gewordenen Text Themen wieder, mit denen ich bis heute umgehe: Wie geschieht Herrschaft, wie ist Freiheit möglich, was ist überhaupt Gesellschaft, wie ist andere Gesellschaft denkbar, wie kommt die Herrschaft ins Subjekt, was bedeutet Sexualität, was ist wünschbar (begehrenswert), wie kann das Denken gegen das Bestehende arbeiten, in welcher Sprache, mit welchen Texten? Meine Antworten sind heute nicht unbedingt die gleichen wie damals, aber sie stammen aus denselben Versuchen der Orientierung.
Was mir an dem Vortragstext fehlt, ist das Thema Religion und der Begriff der Person. Das hat wohl biographische Gründe, die hier nicht interessieren. Denselben Text heute verfassend, würde ich versuchen, von einer sehr ähnlichen Kritik an Identität und Individualität ausgehend, den Anderen, das personale Gegenüber, kurz: dich, zum Anlass zu nehmen, nach der Gesellschaft und ihren Verhältnissen zu fragen, die nichts als das wirkliche Verhalten aller sind, und mich ebenfalls an Begriffen wie Begehren, Utopie, Geschichte, Ordnung und Freiheit von Herrschaft abarbeiten und, die Schwierigkeit des Sagens thematisierend, Geschlechter und Geschlechtlichkeit in dem so entworfenen Feld situieren.
Im Grunde versuchte ich ungefähr das schon damals. Es scheint mir nicht besonders gut gelungen. Aber wer zuhören wollte (und auch heute müsste man den Text eher hören als lesen), wird schon den einen oder anderen Gedanken auf den einen oder anderen Gedanken bezogen und etwas von ihrem Zusammenhang erahnt haben. Damals ging nicht vielmehr, heute eigentlich auch nicht.

 
Wie man sich denkt, so liebt man? PDF Drucken E-Mail

Zur metaphysischen Konstruktion sexueller Orientierung

Hier bin ich. Wäre ich nicht hier, wäre ich anderswo.

Die Orientierung zu verlieren heißt so viel wie: die Richtung zu verlieren, nicht zu wissen, wo man sich befindet.

Das Begehren ist der Wunsch nach Veränderung.

Um bestimmen zu können, wo ich bin, muss ich erst feststellen, wo etwas anderes ist.

Das Ungewohnte regt weit eher zum Denken an als das Gewohnte.

Wenn ich es recht bedenke, versteht sich das Selbstverständliche keineswegs von selbst. Irgendetwas bewirkt, dass ich verstehe, was ich, wenn ich’s recht bedenke, gar nicht verstehe.

Darüber zu sprechen, was Sexualität sei, sprengte den Rahmen dieses Vortrages. Deshalb sei es hier versucht.

Freud schreibt in der XX. seiner „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“: „Im ganzen sind wir ja nicht ohne Orientierung darüber, was die Menschen sexuell heißen. / Etwas, was aus der Berücksichtigung des Gegensatzes der Geschlechter, des Lustgewinnes, der Fortpflanzungsfunktion und des Charakters des geheimzuhaltenden Unanständig zusammengesetzt ist, wird im Leben für alle praktischen Bedürfnisse genügen. Aber es genügt nicht mehr in der Wissenschaft.“

Sexualität ist Sexualität ist Sexualität.

Hier bin ich und man hört mir zu. Ich denke vor und andere denken nach.

Weiterlesen...
 
33 Vorschläge zu Verbesserung der Welt PDF Drucken E-Mail

1. Tut Gutes und unterlasst Böses.
2. Behandelt andere so, wie ihr von ihnen behandelt werden wollt.
3. Tötet keine Menschen.
4. Hört auf zu lügen.
5. Betrügt weder euch selbst noch andere.
6. Achtet das rechtmäßige Eigentum anderer.
7. Helft einander, wenn ihr könnt.
8. Nehmt Rücksicht.
9. Kümmert euch umeinander, aber belästigt einander nicht.
10. Seid höflich, aber nicht heuchlerisch.
11. Seid bescheiden und sogar demütig, aber nicht selbstquälerisch.
12. Seid großzügig, wenn ihr könnt, und sparsam, wenn ihr müsst.
13. Arbeitet miteinander, nicht gegeneinander.
14. Beutet einander nicht aus.
15. Belastet eure natürliche Umwelt so wenig wie möglich.
16. Greift in die natürlichen Verhältnisse nach Möglichkeit nur so weit ein, dass eure Eingriffe reversibel sind.
17. Nützt natürliche Ressourcen nach Möglichkeit so, dass das, was ihr verbraucht, erneuerbar ist.
18. Duldet keine Einkommensunterschiede, solange nicht alle gemeinsamen Aufgaben erledigt und die Grundbedürfnisse von jedem befriedigt sind.
19. Gestaltet euer Zusammenleben so, dass niemand von anderen beherrscht wird.
20. Entscheidet gemeinsam, was alle angeht.
21. Lasst jeden über seine eigenen Angelegenheiten selbst entscheiden.
22. Unterstützt die Schwachen und nützt die Starken.
23. Seht einander eure Schwächen nach und setzt eure Stärken füreinander ein.
24. Nützt eure schöpferischen Kräfte, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
25. Erwerbt vorhandenes Wissen und versucht, neues zu entdecken.
26. Bewundert das Schöne und versucht, es zu vermehren.
27. Bedenkt eure Endlichkeit und die der anderen.
28. Empört euch über Unrecht und engagiert euch dagegen.
29. Kritisiert, damit etwas besser wird.
30. Lobt Gelungenes und gute Absichten.
31. Nennt Missstände beim Namen und geht gegen sie vor.
32. Seid aufrichtig, unbestechlich und selbstkritisch.
33. Trauert über Trauriges, lacht über Lustiges, aber seid vor allem heiter, freundlich und aufmerksam.

 
Anmerkungen zur „Theodizeeverweigerung“ PDF Drucken E-Mail

1. Heißt denn, sich mit Argumenten einer Theodizee zu verweigern, nicht gerade doch, sie zu betreiben? Es gar nicht zu einer Verhandlung in der Sache kommen zu lassen, sondern die Unzulässigkeit der Klage und die Unzuständigkeit des Gerichts (nämlich des menschlichen Urteilsvermögens) zu behaupten und nachzuweisen — das ist Theodizeeverweigerung. Aber sind die Argumente, die gegen die Berechtigung eines solchen Verfahrens sprechen, nicht notwendig auch solche, die für die Unschuld des Angeklagten oder seine grundsätzliche Schuldunfähigkeit plädieren?

2. Die Argumentation meiner „Kleinen Theodizeeverweigerung“ soll sowohl philosophisch („Gott übersteigt das menschliche Urteilsvermögen“) als auch theologisch sein („Wir glauben an und hoffen auf Gott“). Beides in einem milden, heiteren Sinne.

3. „Theodizee“ ist ein philosophisches Konzept (das Wort wurde bekanntlich von Leibniz eingeführt), kein theologisches. Theologie geht von der Erfahrung und damit vom Begriff der Güte und Allmacht Gottes aus, sie setzt diese beiden „Eigenschaften“ und ihre Widerspruchsfreiheit voraus und stellt sie so wenig in Frage wie das Dasein Gottes überhaupt. (Täte sie es, entzöge sie sich ihre eigene Grundlage: Ohne Offenbarung sinnvollerweise kein Glaube als Antwort darauf.)

4. Die philosophische Theodizee, die Gründe sucht, warum Schlechtes doch gut ist, und wie Gott zu rechtfertigen ist, wenn er zulässt, was nicht sein soll, da sie schon im Ansatz verfehlt ist. Gutes und Schlechtes, Sein und Sollen werden verrechnet, in der Hoffnung eine positive Bilanz zu bekommen. Aber der Mensch, der endliche menschliche Verstand hat keinen Einblick in Gottes „Buchhaltung“ und weder Möglichkeit noch Berechtigung einer Prüfung. Darum gilt es, sich jeglicher Theodizee zu verweigern. Alles andere wäre unvernünftige Anmaßung.

5. Man könnte auch einfach feststellen: Gott kann sich nicht rechtfertigen und kann auch von niemand anderem gerechtfertigt werden, weil es kein Maß gibt, an dem er gemessen werden könnte, weil es keine Norm gibt, der er zu entsprechen hätte, weil es keine Instanz gibt, vor der er angeklagt werden und die über ihn ein Urteil sprechen könnte. Gott ist das Maß, die Norm, die Instanz von allem anderen, aber er untersteht niemandem. Warum ist das so? Es kann nicht anders sein. Es ist schlechterdings mit dem Begriff Gottes gegeben.

6. Die Klage über Gottes Unzulänglichkeit („Warum lässt Gott das zu?“) setzt einen Begriff von Gott voraus, zu dem Güte und Allmacht gehören. Sonst gäbe es ja auch den von manchen behaupteten Widerspruch zwischen den beiden nicht („Wenn Gott das Übel verhindern kann, aber nicht will, ist er nicht gut, wenn er es verhindern will, aber nicht kann, ist er nicht allmächtig.“). An diesem Begriff ist sowohl philosophisch wie theologisch anzusetzen.

7. Theologie muss von einem bestimmten Begriff Gottes ausgehen, genauer gesagt: Sie muss eine Begrifflichkeit ausarbeiten, die als rationale Explikation des Glaubens die Erfahrung des unbegreiflichen Gottes dem Denken nachvollziehbar macht. Jeder Begriff von Gott verfehlt Gott, wie auch jede Vorstellung von ihm ihn verfehlt. Gott ist unfassbar. Trotzdem muss Gott vorgestellt werden, wenn man an ihn denken will, und man muss Begriffe von ihm verwenden, wenn man von ihm reden will. Solche Begriffe grenzen ab, womit man es zu tun hat, wenn man es mit Gott zu tun hat, und womit nicht. In diesem Sinne kann man sagen, dass Gott gut ist und der Urheber alles Guten, auch wenn der menschliche Verstand nie ganz erfassen kann, was das heißt. Ebenso ist kann man sagen, dass Gott die Welt geschaffen hat und erhält und dass bei ihm nichts unmöglich ist, auch wenn der menschliche Verstand nie ganz erfassen kann, was „Allmacht“ bedeutet. Güte und Allmacht gehören zum Begriff Gottes, das heißt, wenn man von Gott spricht, spricht man von dem unbedingt Guten und unbedingt Allmächtigen.

8. Der Vorwurf gegen Gott und den Abweisung dieses Vorwurfs sind sich also im Begriff Gottes insofern einig, als Gott als gut und allmächtig zu gelten hat. Allein damit wäre jedoch dem Vorwurf schon die Grundlage entzogen. Wer zugibt, dass Gott (seinem Begriff nach) gut und allmächtig ist, muss auch zugeben, dass Gottes Güte und Allmacht nicht im Widerspruch zueinander stehen können, sonst könnten sie ja nicht beide zu Gottes Begriff gehören. Der Begriff muss also entweder falsch sein — dann kann sich der Vorwurf nicht auf ihn stützen; oder er ist zwar richtig, aber ihm entspricht keine Realität, anders gesagt: Es gibt Gott gar nicht. Dann aber geht der Vorwurf erst recht ins Leere.

9. Die philosophische Argumentation unterschiedet sich davon nicht, nur dass die philosophischen Gottesbegriffe anders als die theologischen, die von der Erfahrung ausgehen, spekulativ sein können. Entscheidet man sich dafür, mit „Gott“ nicht einfach ein „höheres Wesen“, sondern das vollkommene Wesen schlechthin zu meinen, das unbedingt gut ist und für das nichts unmöglich ist, dann ist die philosophische Argumentation dieselbe wie die theologische: Ein solches Wesen kann nicht entweder gut oder allmächtig sein, es muss beides sein, oder es wäre nicht vollkommen. Oder aber ein solches Wesen existiert nicht, dann geht jeder Vorwurf an es ins Leere.

10. Allerdings stößt jede Abweisung einer Theodizee, so begründet sie theologisch und philosophisch sein mag, auf die Dringlichkeit der Verzweiflung derer, die Leid erfahren oder das Leid anderer miterleben. Ihr Unverständnis ist nicht primär intellektuell, kann also auch nicht primär rational überwunden werden. Aus seelsorgerischen Gründen muss die Theologie die Klage, die sie abweist, ernst nehmen. Der Klagende als am Übel in der Welt Leidender darf dabei nicht mit unverbindlichem Trost abgespeist werden („Für irgendetwas wird es schon gut sein“), sondern er muss gerade sein Leid als Verweis auf Gottes Liebe erfahren können.

11. Gerade aus seelsorgerischen Gründen ist jeder Vorwurf gegen Gott abzuweisen, jede Anklage zurückzuweisen. Um des Heiles seiner Seele willen muss der Zweifelnde und Verzweifelte begreifen, dass sein Leid (oder sein Mitleiden am Leid anderer) kein Argument gegen Gott ist, sondern gegen das Übel, das das Leid verursacht, und damit ein Argument für Gott, den allein Guten, der gegen das Übel ist. Jeder Versuch, sich zum Richter Gottes aufzuschwingen und ihm vorschreiben zu wollen, was er tun darf und lassen muss, muss scheitern. Nicht der Mensch ist Gottes Richter, sondern vor dem Ewigen und Barmherzigen, vor dem Allwissenden und alles zur Vollendung führenden muss sich der Mensch verantworten, auch für seinen Unglauben.

12. Welche Erfahrungen hat der, der angesichts von eigenem oder fremdem Leid, an Gott, an seiner Güte und Allmacht zweifelt, sonst mit Gott gemacht? Ist ihm Gott bisher nicht als beglückend, schützend, hilfreich erschienen? Sollte Gott sich gewandelt haben? Gerade angesichts negativer Erfahrungen gilt es, auf die positiven Erfahrungen zu vertrauen. Hält der Verzweifelnde jedoch jetzt seine frühere Erfahrungen für Täuschungen oder stellt er fest, dass er gar keine Erfahrungen mit Gott hat, die sich für unvereinbar mit seiner Verzweiflung erweisen, so ist zu fragen, von welchem Gott hier überhaupt die Rede ist, wem hier Vorwürfe gemacht werden sollen, wer hier angeklagt werden kann. Es scheint sich ja um einen bloß ausgedachten Gott zu handeln, der dann freilich ganz nach Belieben mal so, mal so verstanden werden kann. Zwischen der Verzweiflung darüber, dass einem unerträglichen Übel (etwa der tödlichen Krankheit eines Kindes) trotz inständigen Gebetes keine Abhilfe geschaffen wird, und der unverbindlichen Betrachtung über mögliche Inkohärenzen bestimmter Gottesbegriffe ist ein gewaltiger Unterschied. Der Gläubige hat es, hoffentlich, mit dem wirklichen Gott zu tun und dann eben auch damit, dass Gottes Wirklichkeit des Vermögen des Menschen übersteigt, sie zu fassen.

13. „Warum ist Gott nicht so, wie ich ihn gerne hätte?“ Wenn ich Gottes Tun und Lassen nicht verstehe, dann liegt das an mir, an meinem Unvermögen, meiner Beschränktheit, vielleicht sogar meinem Versagen, nicht daran, dass Gott an sich unverständlich wäre. Aber sein Sein übersteigt nun einmal meinen Verstand, und das muss ich annehmen, wenn ich es mit Gott (und nicht bloß einem Popanz, den ich als Gott ausgebe) zu tun haben will.

14. Welchen Gott hätten Sie den gerne? Wie müsste Gott sein, was müsste er tun, was müsste er unterlassen, damit sie mit ihm zufrieden sind? Wäre ein Gott, den Sie sich nach ihren Wünschen und (vermeintlichen) Bedürfnissen zurechtgelegt haben, wirklich ein Gott, an den Sie glauben könnten? Den Sie lieben würden, bedingungslos? Auf den sie all Ihre Hoffnung setzten, auf Gedeih und Verderb? Oder ist der wirkliche Gott nicht doch besser als ein ausgedachter, auch wenn so vieles an ihm unverständlich bleibt? Ist die Unfassbarkeit durch den Verstand nicht in gewisser Weise Garantin dafür, dass es sich nicht um einen ausgedachten, sondern um den wirklichen Gott handelt? Ein Gott, der in einer Welt voller Widersprüche und Sünde im Einklang mit dieser Welt wäre, ist kein Gott, sondern ein Popanz. Gottes Dasein widerspricht der Welt, wie sie ist, und dem, was die Leute so wollen. Gott stabilisiert nicht das Bestehende, sondern ruft zur Umkehr auf und bietet Erlösung an, ein Freiwerden von der Herrschaft der Sünde. Darum soll der Mensch Gottes Willen tun und nicht sich einen komfortablen Gott nach seinem Bilde schaffen.

15. Vielleicht kann man es als den Grundgedanken der „Theodizeeverweigerung“ bezeichnen, dass die Erfahrung des Leidens und die Erfahrung des Göttlichen insofern zusammengehören, als Leiden Erfahrung des Widerspruchs zwischen dem von Gott Gewollten und dem von Gott nicht Gewollten (aber „Zugelassenen“) ist. Gewiss erfährt der Gläubige Gott auch und vor allem in der Freude, in der Erschütterung, in der Zuversicht usw., aber er kann ihn eben auch in Leidem erfahren, im Schmerz des Widerspruchs von sein und Sollen.

16. Das Leiden als (mögliche) Gotteserfahrung zu denken, kann ein gefährlicher Gedanke sein, weil daraus der falsche Schluss gezogen werden könnte, es sei vom Gläubigen nach Leiden zu suchen, um darin Gott zu finden. Aber das Leiden als Ausdruck des Widerspruchs von Sein und Sollen soll wie dieser Widerspruch selbst nicht sein. Dass es ist, gehört zu dem, was Gott in der Vollendung aufhebt, wenn alles gut wird.

17. Auch das könnte in gefährlicher Gedanke sein, dass nach dem Ende der Zeiten von Gott alles von Gott vollendet und also gut gemacht wird. Dem ist zwar so, aber daraus darf nicht geschlossen werden, dass das Böse und das Leid nicht ernst genommen zu werden braucht. Es wird nur nicht das letzte Wort haben.

18. Wo war Gott in Auschwitz?, wird oft gefragt. Die Antwort scheint mir recht einfach: Er war beispielsweise in den Gaskammern. — Gott ist allgegenwärtig, aber sein „Platz“ ist inmitten seiner Geschöpfe, gerade auch dort, wo ihnen Unheil widerfährt. Gott, der Unveränderliche, leidet nicht in dem Sinne, wie Menschen leiden, aber man wird sagen dürfen, dass Gottes „Mitleiden“, seine Anteilnahme am Wohl und Wehe der Menschen, von denen er jeden einzelnen liebt, von Ewigkeit her zu seinem Wesen gehört. Gott ist also in Auschwitz gerade dort zu finden, wo Menschen gelitten haben, aber auch dort, wo sie ihr Gewissen ausgeschaltet hatten (oder Gewissensqualen litten). Der millionenfache Mord, für den der Name „Auschwitz“ steht, ist nicht nur ein Verbrechen an Menschen, sondern gerade deshalb auch eine Sünde gegen Gott. Ohne Gott ist das Monströse an Auschwitz gar nicht denkbar, er ist gegenwärtig in seiner Anrufung und im Vertrauen auf ihn, gegenwärtig in Verzweiflung, Schmerz und Todesangst, aber auch gegenwärtig in seiner Leugnung durch die böse Tat. Ohne den Widerspruch zwischen den, was sein soll, und dem, was nicht sein soll, zwischen Gottes Willen und Sünde, wären die grauenhaften Ereignisse einfach beliebige Vorgänge gewesen, weder gut noch böse. Ihre ungeheure Sinnwidrigkeit, die Maßlosigkeit des Verbrecherischen aber verweist auf die Verletzung einer höheren Ordnung als einer bloß von Menschen gesetzten Normativität. Dass Menschen einander Gutes und nicht Böses tun sollen, kann man auch glauben, ohne an Gott zu glauben. Überschreitet die Bosheit aber jegliches Maß, wird sie gleichsam absolut, so kann dem nur das absolut Gute entgegengehalten werden, genauer: der Glaube an den absolut Guten. Alles Andere überließe das Leiden der Menschen der Sinnlosigkeit. Ohne Gott gibt es keine Möglichkeit, dass das Leiden zwar war, aber nicht sinnlos, und dass alles gut gewesen sein wird.

 
<< Start < Zurück 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Weiter > Ende >>

Seite 1 von 11
Joomla template by a4joomla