Zuletzt veröffentlichte Texte
Theologische Skizze I (Advent) PDF Drucken E-Mail

1. Es gibt keine Adventszeit mehr. Alles, was es noch gibt, ist die Vorweihnachtszeit, und die beginnt bekanntlich spätestens irgendwann im September, wenn in den Supermarktregalen die ersten Schokoladennikoläuse auftauchen. Mit Advent hat das aber nichts zu tun. An die Stelle einer besinnlichen, an das erste Kommen Christi erinnernden, sein zweites Kommen erwartenden und darum zu Reue und Buße mahnenden Zeit im Kirchennjahr ist eine Phase im kommerziellen Zyklus geworden. Kitsch und Konsum bestimmen den Stil. Fernab mehr oder minder alter religiöser Überlieferung hat sich ein eigene Mythologie herausgebildet, mit Elchen und Elfen, Weihnachtsmann und Sternenglanz, Schnee und Tannengrün. Eigentlich war die Adventszeit einmal eine Fastenzeit, ihre Farbe darum Violett (und Rosa am vorletzten Sonntag). Heute dominieren Rot und Grün, dazu Gold. So wird der Austausch auch farblich markiert.
Es geht allerdings immer noch darum, sich auf etwas vorzubereiten. Der 1839 erfundene Adventkranz mit seinen Kerzen (ursprünglich vier für die Sonntage und 19 für die Wochentage) und der noch jüngere Adventkalender mit seinen 24 Türchen (oder Säckchen oder dergleichen) haben nur den Sinn, die Zeit bis Weihnachten abzählbar zu machen. Eine Zeit, die heute für die meisten Menschen geistlich ebenso leer wie konsumistisch erfüllt ist. Mit dem ausstehenden Weihnachten assoziiert man wohl meist Sentimentales — und verdrängt dabei Feierstagsstreit und Stress —, mit der Vorweihnachtszeit aber Hektik und Rummel. Nicht nur, dass Geschenke gekauft werden müssen, auch anderes, wie etwa die Weihnachtsmärkte, die eben nur noch selten Adventmärkte heißen, fordert zum Geldausgeben auf.
Nach dem 24. Dezember ist es mit dem ganzen Zauber schlagartig vorbei. Jetzt, wo das Fest eigentlich erst beginnt und die Weihnachtszeit zu feiern wäre, will verständlicherweise niemand mehr Christbaumschmuck sehen und Weihnachtslieder hören. Zum Glück gibt’s Silvester, ein rein säkulares, durch nichts Geistliches belastetes Fest, das mit seiner Ausgelassenheit, mit Papierschlangen, Konfetti, Sekt und Tanzmusik wohl einen Vorgriff auf den Karneval darstellt. Das darauffolgende Fest der Erscheinung des Herrn am 6. Januar — in den östlichen Kirchen das eigentliche „Weihnachten“ — fällt nun allenfalls noch dadurch auf, dass mancherorts Sternsinger (und Sternsingerinnen!) durch die Gegend ziehen. Weihnachten aber, Feier der Geburt Christi, ist längst abgetan. Das ist nur konsequent. Wenn es keinen Weg mehr gibt, braucht es auch kein Ziel mehr zu geben, ohne Advent also auch kein Weihnachten. — Ach du liebe Zeit, was wird da die Wiederkunft Christi für eine Überraschung sein!
2. Die Abschaffung des Advents und damit der Weihnachtszeit, wie ich sie am vorigen Sonntag behauptet habe, ist nicht einfach eine Kommerzalisierung. Es geht nicht darum, dass ein religiöses Fest von Geschäftsinteressen überwuchert zu werden droht. Es geht darum, dass das Fest und das, was es an ihm zu feiern gibt, im Erleben der Menschen von völlig sachfremden Vorstellungen und Praktiken entkernt und damit vernichtet worden ist. Nein, Weihnachten ist nicht das Fest der Liebe, es ist nicht das Fest der Familie, es ist nicht das Fest des Schenkens, es geht nicht um Punsch und Rentier, dicke Männer mit weißem Bart und roter Mütze, nicht um Lichterglanz, Glocken und Gebäck. Es geht um die Geburt des Erlösers, um die Menschwerdung Gottes.
Daran ist nun weißgott nichts Niedliches. Es gab weise Kulturen, in denen bei jeder Geburt rituell geweint und geklagt wurde. (Noch Alfred Polgar meinte, das Beste wäre es, nie geboren zu werden, setzte jedoch hinzu: Aber wem passiert das schon?) Geboren zu werden ist ein bedauerlicher Umstand, da er ein Hineingesetztwerden in eine Welt der Mühe und des Versagens bedeutet, in ein Dasein voller eigener und fremder Sünden, in ein Leben mit endlich Freuden und am Ende einem unausweichlichen Tod. Dass nun der allmächtige Gott sich das antut, dass er, um als Erlöser am Kreuz zu sterben, als Kind zu Welt kommt, ist erst recht kein Anlass für Sentimentalitäten.
Den meisten Menschen ist freilich das Kernthema von Weihnachten schnurzpiepegal. Für sie geht es um Geschenke und Weihnachtsbaum, um Kindheitserinnerungen und Feiertagsstimmung. Man will etwas, das es wahrscheinlich so nie gab, jedes Jahr wiederhaben. Dazu gehören auch echte und falsche Traditionen, säkulare und religiöse. Zu Weihnachten sind die Kirchen zwar ausnahmsweise einmal voll, aber das besagt gar nichts, das ist bloß Folklore und private Stimmungsmache und hat mit dem restlichen Jahr nichts zu tun.
Der Advent ist ja nicht nur als Zeit im Kirchenjahr abgeschafft, sondern auch als Lebensstil. Nicht nur sind die westlichen Gesellschaften fundamental entchristlicht — wofür die widerwärtigen pseudochristlichen Fundamentalisten nur Zeugnis, nicht Gegenbeispiel sind —, sondern das heutige Christentum selbst ist entchristlicht. Nähmen die, die den Kirchen angehören, deren Lehren ernst, müssten sie jeden Tag die Wiederkunft Christi erwarten. Das tun sie aber offensichtlich nicht, sonst lebten sie nicht, wie sie nun einmal leben. So wie alle nämlich.
Meiner Meinung nach gibt es zwar keine besondere „christliche“ Ethik, sondern nur eine für alle Menschen. Auch Buddhisten, Moslems, Konfuzianer oder Atheisten wissen, dass Lügen, Stehlen und Morden schlecht ist, und erziehen in diesem Sinne auch ihre Kinder. Was aber Christen von Nichtchristen unterscheiden sollte, sind also nicht irgendwelche ominösen „Werte“, sondern der besondere Nachdruck beim Gutseinwollen, der aus dem Glaube ndaran erwachsen müsste, dass man sich für sein Tun und Lassen höchstinstanzlich zu verantworten hat. Dass hat nichts mit einem Kalkül von Lohn uns Strafe zu tun, sondern mit Liebe. Echte Christen müssten Christi Wiederkehr, also den adventus Domini, nicht nur erwarten, sie müssten ihn sogar Tag für Tag herbeisehnen. Allerdings hat man nicht den Eindruck, es gebe allzu viele, die das Jüngste Gericht kaum abwarten können …
3. Ach, herrjeh, die Welt ist schlecht und man selbst ist womöglich auch nicht so gut, wie man gern wäre. Gibt es denn also in dieser ganzen Adventvergessenheit gar nichts, worüber man sich freuen kann? Gar keine rosigen Aussichten? Nur, wenn man begreift, dass das ausstehende Ereignis und seine Unerwartetheit zusammengehören. Und weil es nicht möglich ist, Tag und Stunde zu wissen, ist es auch nicht nötig. Es stellt sich immer nur die Frage: Was tun?
Dem Lukasevangelium zufolge kamen die Leute mit genau dieser Frage auch zu Joahnnes dem Täufer. Da fragten ihn die Leute: Was sollen wir also tun? Er antwortete ihnen: Wer zwei Gewänder hat, der gebe eines davon dem, der keines hat, und wer zu essen hat, der handle ebenso. Es kamen auch Zöllner zu ihm, um sich taufen zu lassen, und fragten: Meister, was sollen wir tun? Er sagte zu ihnen: Verlangt nicht mehr, als festgesetzt ist. Auch Soldaten fragten ihn: Was sollen denn wir tun? Und er sagte zu ihnen: Misshandelt niemand, erpresst niemand, begnügt euch mit eurem Sold! Das Volk war voll Erwartung, und alle überlegten im Stillen, ob Johannes nicht vielleicht selbst der Messias sei. Doch Johannes gab ihnen allen zur Antwort: Ich taufe euch nur mit Wasser. Es kommt aber einer, der stärker ist als ich, und ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe aufzuschnüren. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen. Schon hält er die Schaufel in der Hand, um die Spreu vom Weizen zu trennen und den Weizen in seine Scheune zu bringen; die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen. (Lk 3,10b-17)
Und der, von dem Johannes der überlieferten Deutung nach sprach, erzählte dem Matthäusevangelium zufolge das: Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken. Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen? Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben. (Mt 25,31-46)
Lässt man die manche verstörende religiöse Einkleidung weg, ergibt sich im Grunde ein ganzes einfaches Programm. Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! (Mt 7,12a) Handeln die Menschen nicht so, so bereiten sie, wie man allenthaben sehen kann, einander letztlich die Hölle auf Erden. Handeln sie aber so, können sie in aller Seelenruhe erwarten, was es mit dem Himmel auf sich hat oder nicht.
4. Ohne Advent kein Weihnachten, ohne Weihnachten aber auch kein Ostern. Gemeint ist damit selbstverständlich nicht der Rummel um Eier und Hasen, sondern die auf das Gedenken an Erniedrigung und Tod folgende Feier der Auferstehung. Ohne Advent also keine Erlösung. Dann freilich bleibt die Schuld bestehen, wird immer mehr und mehr, staut sich gewaltig auf, bis alle Dämme bersten und die Welt in einer Flut des Bösen untergeht.
Wer hinsieht, wird bemerken: Die Dämme lecken schon bedenklich. Wer sich nichts vormacht, kann erkennen: Die Welt ist schlecht. Aber all das Schlechte in der Welt ficht die meisten Menschen nicht an, sie haben sich irgendwie darin eingerichtet. Auf verschiedene Weisen. Wer zum Beispiel sowas braucht, hat sich eine Ideologie zurecht gelegt, etwa den atheistischen Evolutionismus, der letztlich nichts erklärt, aber das wohlige Gefühl naturwissenschaftlich begründeten Rechthabens verleiht. Andere habe einfach beschlossen, dass Wichtigste im Leben sei, möglichst viel Spaß zu haben. Wieder andere geben sich bescheiden, wollen bloß halbwegs glücklich sein, mit Familie und Freunden, Einkommen, Gesundheit und Geborgenheit, Hobby und Urlaub. Dass ihr relatives Wohlergehen erkauft ist mit dem Elend und der Entrechtung der meisten Menschen in der übrigen Welt, geht die happy few in den westlichen Wohlstandsgesellschaften (und die gekauften Eliten anderswo) nichts an. Sie haben sich damit abgefunden, schauen weg oder spenden halt was, um ihr Gewissen zu beruhigen. Ein Zusammenhang zwischen ihrem Glück, der Sinnlosigkeit ihres Daseins und dem Unglück anderer besteht für sie nicht.
Schaffen Religionen da Abhilfe? Sollen sie das?
Viele meinen ja, alle Religionen wollten letztlich dasselbe. Was aber soll das sein? Die meisten Menschen, die sich nicht viele Gedanken über Ethik oder Moral machen mussten, würden auf Anfrage sagen, es komme im Leben darauf an, Gutes zu tun und Böses zu lassen. Damit haben sie völlig Recht. Diesem Grundsatz kann keine Religion etwas Relevantes hinzufügen, allenfalls ein paar Einfälle dazu, was denn nun gut und was denn nun böse ist. Was die Einzelheiten betrifft, wird es also wohl immer Diskussionen und einige Unsicherheiten geben, aber die universelle Regel ist klar: Tu Gutes und unterlasse Böses bedeutet, verhalte dich anderen gegenüber so, wie du wolltest, dass sie sich dir gegenüber verhielten, wenn du an ihrer und sie an deiner Stelle wären. Diese selbstverständliche Norm, die keiner weiteren Begründung bedarf, sondern jedem vernünftigen und unverdorbenen Menschen unmittelbar einleuchtet, nennt man bekanntlich die Goldene Regel und findet sie — wie letzten Sonntag schon erwähnt — etwa in Mt 7,12. Auch wenn sie dort von Jesus ausgesprochen wird, ist sie kein Monopol des Christentums. Die Besonderheit und Größe des Evangeliums kommt vielmehr in einer anderen Formulierung zum Vorschein.
Als Jesus von einem Pharisäer gefragt wird, was das wichtigste Gebot sei, antwortet er: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten. (Mt 22,34-40; vgl. Mk 12,25-28 u. Lk 10,25-28)
Die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe wäre, würde sie gelebt, die Besonderheit des Christentums. Gottesverehrung allein, ohne Liebe zu den Mernschen, ist gnadenloser Götzendienst. Nächstenliebe allein stößt an die Grenze des Todes und der unerlösten Schuld. Nur beide zusammen, nur beide in einem sind sinnvoll
Religionen haben nicht, wie manche meinen, die Funktion, moralisches Verhalten zu fördern. Was im Kern unwahr ist, kann auch nur zu einem letztlich unmoralisches Leben führen. Wenn es in den Religionen um nichts anderes ginge, als um die Bedürfnisse und Wunschvorstellungen der Menschen, wären sie im Grunde leer und, weil sie diese Leere verschleierten und von Wichtigerem ablenkten, böse.
Religiosität, verstanden als Offenheit ist für das Dasein Gottes und das Dasein der anderen Menschen, ist nur dann gut, wenn sie wahr ist, wenn es also das Dasein, das geglaubt wird, wirklich gibt. Ob aber geglaubt wird, erweist sich erst in der Praxis. Denn was ist Sünde? Ohne in der Theorie die Existenz anderer Menschen zu leugnen, handeln viele — sagen wir ruhig: zuweilen jeder von uns — so, als gäbe es nur sie, als wären nur ihre Bedürfnisse wichtig, als wären nur ihre Wünsche wert, durchgesetzt zu werden. Dasselbe Verfahren wenden sie auch auf Gott an, leugnen zuweilen aber praktischerweise auch noch in der Theorie dessen Existenz.
Wohin das alles führt und was daraus wird, ist nun freilich selbst wieder eine Frage des Glaubens. Soll man wirklich annehmen, es könne immer so weiter gehen? Kann aus all dem Schlechten von selbst etwas Gutes werden? Versinkt alles in Bosheit? Oder ist es nicht doch eher hoffenswert und glaubwürdig, dass da einer kommen wird, um alles zum Guten zu wenden und zur Vollkommenheit zu führen? Und kann das ein anderer sein als der, der schon alle Schuld auf sich genommen und alle Sünden vergeben hat?

 
Macht endlich Schluss mit der Kunst PDF Drucken E-Mail

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was ich mir für heute Abend vorgenommen habe, ist nichts weiter, als Ihnen zwei Thesen zu unterbreiten, einige Argumente für diese Thesen vorzubringen sowie einige Folgerungen zumindest anzudeuten. Ihnen sei es dann am Ende überlassen, Einwände zu erheben oder Zustimmung auszudrücken oder beides.
Meine erste These lautet, dass sowohl „Kunst“ als auch „Künstler“ überholte Begriffe sind, überholt von der Kunstgeschichte selbst. Längst handelt es sich dabei um Worthülsen, die eines allgemein verbindlichen Inhaltes entbehren und deshalb allenfalls noch einen Stimmungswert besitzen, allerdings auch die nicht zu vernachlässigende Funktion einer sozialen Distinktion. Als Begriffe im strengen Sinne jedoch sind „Kunst“ und „Künstler“ einer ernsthaften theoretischen Auseinandersetzung, die sich auf der Höhe ihrer Möglichkeiten und Notwendigkeiten bewegt, unangemessen und unwürdig. Wer sie heute noch benützt, weiß entweder nicht, was er sagt, oder er sagt nicht, was er wissen müsste.
So weit die erste These. Den Übergang und die Verbindung zur zweiten These bildet meine Behauptung, dass der affirmative Gebrauch der Ausdrücke „Kunst“ und „Künstler“ den Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse, in denen diese Leerformeln immer noch ihre Rolle spielen wollen, verstellt und ein Verständnis der aktuellen Zusammenhänge erschwert oder gar verunmöglicht. Indem man zwei überflüssig gewordene Vokabeln in den einschlägigen Diskursen weiter mitschleppt, so als hätten sie noch etwas Relevantes zu sagen, entschlägt man sich der Möglichkeit, ihr Funktionieren zu begreifen und die Effekte dieses Funktionierens zu kritisieren. Die Rede von der Kunst und vom Künstler, so behaupte ich, immunisiert gegen eine ehrliche und kritische Wahrnehmung und Deutung der kapitalistischen Realität.
Meine zweite These ist nun gerade auf diese Realität bezogen und lautet, dass Konzepte, die gemeinhin mit „Kunst“ und „Künstler“ in Verbindung gebracht werden — nämlich Kreativität, Innovation, Selbständigkeit usw. — längst auch anderswo als im Kunstbetrieb fröhliche Urständ’ feiern. Zum einen sind sie zu fixen Ideen sowohl der so genannten Unternehmensphilosphien wie auch der von unternehmerischem Selbstverständnis geprägten neuen Selbständigen- und Arbeitnehmeridentität avanciert. Zum anderen bestimmen sie neben der Arbeit im engeren Sinn auch die so genannte Freizeit, also den dem Konsum und der Selbststilisierung vorbehaltenen Lebensbereich. Niemand kann es sich mehr leisten, sich nicht stets neu zu erfinden und sich und seine Verhältnisse nicht fortwährend nach dem Muster „Zugehörigkeit durch Besonderung“ zu gestalten, und wer hier versagt, zahlt den Preis der Rückständigkeit, Langweiligkeit und Ausgeschlossenheit aus den Freuden der Warengesellschaft.

Weiterlesen...
 
Über Wolfgang Fleischers „Das verleugnete Leben“ PDF Drucken E-Mail
Heimito von Doderer war eine selbstgefällige Drecksau. Das ist es jedenfalls, was man der Darstellung der Person des Schriftstellers durch dessen Biographen Wolfgang Fleischer entnehmen muss, wenn man denn dieser Darstellung Glauben schenkt. Doch leider ist es mit der Glaubwürdigkeit der Biographie nicht weit her. Zwar ist gar nicht zu leugnen, dass Fleischer umfangreiches Material zusammengetragen und ausgewertet hat, in gewissem Sinne kann „Das verleugnete Leben“ — allerdings vor allem faute de mieux — sogar als Standardwerk gelten. Doch was Fleischer an Kenntnissen aufbietet, droht von der Art und Weise seiner Darbietung entwertet oder wenigstens in bedenkliches Licht gesetzt zu werden, denn der Ton macht bekanntlich die Musik, und Fleischers Grundton ist der der Gehässigkeit.
Fleischers Schreibstil ist dabei zähflüssig und unklar, der Satzbau umständlich, oft verdreht, nicht selten von Parenthesen regelrecht zerhackt. Die Austriazismen halten sich zwar im Rahmen des Ortsüblichen, aber außer sehr vielen sinnstörenden falschen Konjunktiven werden erstaunlicherweise auch oft falsche Präpositionen geboten. Ein Lektorat hätte dem Buch also gut bekommen — und falls es wider Erwarten doch eines gab: dann eben ein besseres. (Ein winziges Beispiel: Dass derselbe Ort einmal als „Norrköping“ und dann zwei Zeilen weiter als „Norköping“ erscheint, darf dem Autor eines so umfangreichen Werkes entgehen. Einem Leser, gar einem professionellen, nicht.)
Erst nach 500 Seiten kommt Fleischer ausdrücklich auf sich und seine Rolle als Doderers „Sekretär“ zu sprechen. Und seltsamerweise wird gerade auf diesen letzten 30 Seiten der Tonfall plötzlich weicher und fast versöhnlich. Der junge Fleischer war von Doderer spontan als „secretarius“ adoptiert worden und wurde zum Gehilfen und vor allem Vertrauten Doderers letzter Jahre. Dass er sich dieser Vertrauensstellung auch nach Doderers Tod würdig erwiesen hätte, wird man angesichts der drei Jahrzehnten später erschienenen Biographie nicht mehr sagen können.
Was dem Biographen am Biographierten missfällt, und das ist Vieles, wird in Fleischers Text, wie bereits erwähnt, im Grundton der Gehässigkeit vorgetragen. Die Infamie steckt dabei schon im Titel: Wer hat Fleischer denn eigentlich zum Richter bestellt, ob Doderer sein Leben verleugnet hat oder einfach nur den bei vielen — und wohl allen großen — Schriftstellern zu findenden Wunsch hegte, als Person hinter seinem Werk zurückzutreten, nach diesem und nicht als jene beurteilt zu werden?
Weiterlesen...
 
Über Raimund Bahrs „Günther Anders. Leben und Denken im Wort“ PDF Drucken E-Mail

Der biographische Essay zu Günther Anders, den Raimund Bahr nach langjähriger Forschungs- und Schreibarbeit vorgelegt hat, wird denen, die etwas Einblick in die Entstehungsgeschichte haben, wohl vor allem als persönliches Dokument der Annäherung, der Aneignung, der weiterdenkenden Verarbeitung erscheinen. Hier hat jemand einen Autor für sich entdeckt, den er sehr schätzt und dem er sich so sehr verbunden fühlt, dass er seinen Lebensgeschichte nacherzählen möchte. Insofern hat das Buch sozusagen zwei Protagonisten, einmal den Biographierten, aber eben auch den Biographierenden.
Allerdings erzählt der Text keineswegs die Geschichte von Bahr mit Anders, sondern will zunächst durchaus im Stil einer klassischen Biographie den Andersschen Lebenslauf rekonstruieren, wozu manches an Literatur und Archivalien ausgewertet wird. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Kindheit und Jugend, die Eltern und sogar die beiden Schwestern bekommen eigene Kapitel. Die folgenden Jahrzehnte hingegen scheinen dem Biographen offensichtlich weniger interessant, vielleicht sind sie aber auch einfach noch weit weniger gut erforscht. Für die Wiener Jahre zum Beispiel, immerhin fast die Hälfte von Anders Leben, bleibt nur ein knappes Viertel des Buches.
Freilich will „Leben und Denken im Wort“ ohnehin keineswegs bloß eine nüchterne Aneinanderreihung von Daten und Fakten sein. Wer je Raimund Bahr über Günther Anders sprechen gehört hat, kennt die Leidenschaft, mit der sich da ein Leser mit einem Autor, dessen Texten und eben auch dessen Lebensgeschichte befasst. Diese Leidenschaftlichkeit ist auch die Stärke der vorliegenden Biographie — und bedingt deren Schwächen. Er stelle keinen philosophischen Kontext her, hatte Bahr schon 2009 ankündigend erklärt, das interessiere ihn nicht, er sei kein Philosoph. Man muss leider sagen, dass man das dem fertigen Text auch anmerkt. Nicht alles kann nun aber damit gerechtfertigt werden, der Biograph sei von seiner Ausbildung her Historiker und nicht Psychologe oder Philosoph. Die Biographie enthält nämlich sehr wohl einige psychologisierende und viele philosophierende Abschnitte. Und die gehören nun eher zu den schwächeren Passagen des Textes.
Denn auch wenn man Bahrs Darstellung von Günther Anders „Leben und Denken im Wort“ vor allem als Dokument einer persönlichen Auseiandersetzung versteht, fallen nebst einigen stilistischen Unebenheiten auch gewisse sachlichen Mängel ins Auge — die übrigens mit Hilfe eines guten Lektorat, das unbedingt auch ein philosophisch Fachlektorat hätte sein müssen, vermutlich zum größeren Teil hätten beseitigt werden können. Leider wird durch sie der Gesamteindruck nicht unwesentlich getrübt.
Drei Beispiele von mehreren möglichen: „Hannah Arendt wird nachgesagt, sie wäre nur aus Trotz die Ehe mit Günther Anders eingegangen, um Martin Heidegger zu überwinden. Dieser Mythos hält sich nach wie vor und wird von Buch zu Buch als Legende weitergesponnen und auch von ihr selbst und von ihren Aussagen über die Beziehung heftig befeuert. Natürlich war Hannah Arendt nach der Beziehung mit Martin Heidegger aus der Bahn geworfen, natürlich suchte sie nach einem Ausweg, aber daß sie in Günther Anders nur einen Notnagel sah, ist mir sehr schwer vorstellbar. Wie auch immer.“ (S. 137) Hier wäre es zweifellos ratsam gewesen, Quellen anzugeben und deren Angaben mit Sachargumenten zu kritisieren. Wenn nämlich außer der Kompetenz der Arendt-Forscher auch Arendts Selbstdarstellung in Zweifel gezogen werden soll, so doch wohl durch mehr als den Verweis auf die Grenze des Vorstellungsvermögens eines unbeteiligten Nachgeborenen — und ein anschließendes Schulterzucken.
„[…] die Kernthesen dieses Vortrags [von Günther Anders 1929 in Frankfurt am Main] fanden über den Umweg Jean Paul Sartre (auch er hatte Heidegger genau studiert) und den von diesem und anderen französischen Intellektuellen entwickelten Existentialismus Eingang in die literarischen und philosophischen Debatten der fünfziger und sechziger Jahre.“ (S. 151) Soll man das wirklich so verstehen, dass eigentlich Anders den Existenzialismus begründet hatte und Sarte nur bei ihm abschrieb? Wenn man schon die durchaus interessante These vertritt, dass Sarte von Anders angeregt worden sei, hätte man dann nicht entweder nachweisen müssen, dass Sarte bei dem besagten Vortrag anwesend war oder zumindest die französische Fassung von 1937 jemals las?
„[Es] wird dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama applaudiert und sogar der Friedensnobelpreis verliehen, wenn er sich gegen Rüstungspläne des Iran stellt. Dabei wird jedoch übersehen, daß Barack Obama als Oberbefehlshaber einer der potentesten und gewaltbereitesten Armeen weltweit agiert.“ (S. 285) Was derlei in einem Buch über Günther Anders eigentlich zu suchen hat, ist nicht recht erfindlich. Solch halbgare Gedanken pflegt man eigentlich eher in privatem Rahmen zu äußern und sie, wenn sie einem in einen zu veröffentlichen Text gerutscht sind, beim nächsten Durchlesen wieder zu eliminieren. — Drei Beispiel von, wie gesagt, mehreren möglichen.
Gerade als mit dem Autor und seinem Engagement für Günther Anders sympathisierender Leser hätte man sich also manches an „Leben und Denken im Wort“ anders gewünscht. Zu oft setzt Bahr persönliche Einschätzungen an die Stelle auf Quellen bezogener und damit von anderen nachprüfbarer Argumente. Er entwirft auf diese Weise einen sehr speziellen Günther Anders, seinen Privat-Anders sozusagen, den er sich im Lauf mehrerer Jahre erarbeitet hat und den er so präsentiert, wie er ihn verstehen will. Das ist sein gutes Recht. Inwiefern auch andere damit etwas anfangen können, wird jeder Leser selbst entscheiden müssen. Allen Anders-Kundigen und allen Interessierten, die nach einem biographischen Zugang zu Günther Anders suchen, sei das Buch jedenfalls zur kritischen Lektüre empfohlen.

Raimund Bahr: Günther Anders. Leben und Denken im Wort, Wien 2010 (Edition Art Sience)

 
Die Liebe zum Großen Bruder PDF Drucken E-Mail

George Orwells „1984” und die Frage nach der Macht

Seit anderthalb Jahrzehnten* ist es eigentümlich still geworden um George Orwells berühmten Roman „Nineteen Eighty-Four“(1). Es ist, als hätte das Verstreichen des Jahres 1984, ohne dass es zur weltweiten Machtergreifung totalitärer Parteien und zur endgültigen Aufteilung der Welt unter drei Superstaaten gekommen wäre, den vermeintlichen Prophezeiungen Orwells jeden Reiz und jede Relevanz genommen. Ein halbes Jahrzehnt später tat dann der Untergang des osteuropäischen Realsozialismus ein Übriges, um jede Warnung vor der Bedrohung von Freiheit und Menschenwürde durch „oligarchischen Kollektivismus” als obsolet erscheinen zu lassen.
Allerdings bekommt es dem Orwellschen Text durchaus, wenn er nicht mehr als die Schreckensvision einer unvermeidlich eintretenden Zukunft gelesen wird, als die er nie gedacht war, sondern als zeitbedingte Auseinandersetzung mit bestimmten Entwicklungen einerseits und als grundsätzliche Analyse dessen, was es heißt, ein Mensch unter den Bedingungen einer Totalisierung des Politisch zu sein, andererseits. Wenn es sich bei „1984“(2), wie sein Autor(3) meinte, um „eine Utopie in Romanform“(4) handelt, dann gewiss nicht im Sinne einer präzisen Prognose oder eines futurologischen Schauermärchens. Vielmehr ging es George Orwell, dessen Anspruch es stets war, „in künstlerischer Form politisch zu schreiben“(5), bei der Niederschrift von „Nineneteen Eighty-Four” nach eigenem Bekunden darum, „die geistigen Implikationen des Totalitarismus mit den Mitteln der Parodie aufzuzeigen“ (nach Crick, S. 738).
Bevor ich mich nun näher mit dem, was Orwell die „geistigen Implikationen” nennt, befasse, scheint es mir ratsam, auf das Reizwort „Totalitarismus“ näher einzugehen, um zu verhindern, dass manche Leser oder Leserinnen dieser marxistischen Zeitschrift* spätestens an dieser Stelle die Lektüre meines Textes abbrechen.

Weiterlesen...
 
<< Start < Zurück 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Weiter > Ende >>

Seite 9 von 11
Joomla template by a4joomla