Zuletzt veröffentlichte Texte
Über Klaus Berndls „Feindberührung“ PDF Drucken E-Mail

Zwei jungen Soldaten, ein Deutscher und ein Russe, werden in einer vom Krieg völlig verwüsteten Gegend in einem Keller verschüttet. Aus Feinden werden Liebhaber, die ihr Zusammensein verteidigen, auch mit Gewalt. Am Ende kommen sie um. Das ist, knapp zusammengefasst, die in „Feindberührung“ erzählte Geschichte. Doch selbstverständlich ist nicht entscheidend, was, sondern wie erzählt und beschrieben wird
Um nun die Eigenart des Textes näher bestimmen zu können, muss man zunächst einmal ganz deutlich sagen: Es handelt sich bei „Feindberührung“ nicht, wie der Untertitel behauptet, um einen Roman, denn das epische Moment fehlt fast völlig. (Das Etikett „Roman“ hat der Verlag vielleicht nur deshalb hinzugesetzt, weil die Leute nicht gerne Literatur kaufen, die nicht so betitelt ist.) Es handelt sich auch nicht um eine Novelle, obwohl der Text durchaus deren bekannter Definition — „unerhörte Begebenheit“ — zu genügen vermöchte. Ja, es stellt sich die Frage, ob es sich bei „Feindberührung“ überhaupt um Prosa handelt oder nicht vielmehr um eine Art Gedicht.
Dafür spricht manches: Der Gestus des Textes ist höchst expressiv. Oft werden bloß Satzfetzen und Wörter aneinander gereiht, syntaktische Regeln gelten zuweilen nicht viel, worum es geht, ist die Intensität des Ausdrucks. Erzählt und beschrieben wird nicht aus epischer Distanz, sondern der Leser wird hineingetrieben in eine an alle Sinne appellierende Erfahrung. Zwar erscheint der Text, der ja doch einer narrativen Linie folgt, durchaus realistisch und will nicht vordergründig „poetisch“ sein. Doch die ungeheure Dichte vieler Stellen macht zu schaffen. — Woher der sprachmächtige Autor im Übrigen die Vorstellungskraft nimmt, die Wirklichkeit des Krieges vorzuführen, um sie nachvollziehbar zu machen, bleibt rätselhaft, denn aus eigenem Erleben kann derlei kaum stammen, er ist Jahrgang 1966.
Der starke Text gibt auch sonst Rätsel auf. Zum Beispiel könnte man sich fragen, welcher Krieg da eigentlich stattfindet. Zunächst wird man wegen der Erwähnung von Grabenkämpfen und von Deutschen und Russen (statt Deutschen und Sowjets) an den Ersten Weltkrieg denken wollen. Dann wiederum spricht manches, etwa das Vorkommen von Panzern, für den Zweiten Weltkrieg. Die eingestreute Jahreszahl 1937 scheint das zu bestätigen, aber dann wird auch 1953 genannt und der Leser verliert völlig den historischen Boden unter den Füßen. Die Uniforn des Russen weist einen Doppeladler auf, die des Deutschen den Bundesadler. Geht es also um einen russisch-deutscher Krieg der Zukunft? Oder will der der Autor das Geschehen einfach in unbestimmter Zeit ansiedeln, wie ja auch der Ort geographisch unbestimmt bleibt?

Weiterlesen...
 
Anders, Heidegger, Gott PDF Drucken E-Mail

Über Theologisches und Atheistisches bei Günther Anders und Martin Heidegger

I.

Meinem Vortrag möchte ich jene von Günther Anders wohl im Jahre 1984 notierte Anekdote voranstellen, die auch den von Gerhard Oberschlick 2001 aus dem Andersschen Nachlass herausgegebenen Band „Über Heidegger“ eröffnet. Sie lautet:

„Persönlich habe ich Heidegger kaum gekannt. Einmal hab’ ich in Marburg — wie es dazu kam, ist mir entfallen — bei H[eideggers]s übernachtet. Die Unterhaltung ließ sich nach dem sehr einfachen Nudel-Abendessen sehr gut an. Denn ich zitierte, erst einmal ohne den Autor zu nennen, Voltaires herrliches Wort: ‘Es genügt nicht zu schreien, man muß auch Unrecht haben’, das sogar ihn [Heidegger], den total Humorlosen, amüsierte. Als ich aber erklärte, daß das Wort von Voltaire stamme, machte zuerst sie, daraufhin auch er ein schiefes Gesicht. Völlig war der Abend aber dadurch verdorben, daß ich in harmlosestem Tone fortfuhr, natürlich gelte symmetrisch auch das Wort: ‘Es genügt nicht zu murmeln, man muß auch recht haben.’ Während sie natürlich überhaupt nichts verstand, blickte er mich einen Moment lang haßerfüllt an. Er fühlte sich durchschaut. Denn es war ja seine tägliche Taktik, durch nahezu unhörbares Murmeln eine totale Stille im Saal zu erzwingen und dadurch den Hörern einzureden, daß alles, was sie mindestens akustisch mitkriegten, auch ‘unverborgen’, also wahr, nein: die Wahrheit, sein müßte.“ (Anders 2001, S. 11)

Diese Anderssche Heidegger-Anekdote finde ich in mehrfacher Hinsicht interessant und charakteristisch. Sie gewährt nicht nur einen winzigen Einblick ins Private zweier Gestalten der Philosophiegeschichte. Sie ist auch nicht nur auch deshalb interessant, weil in ihr außer Heidegger und Anders auch Frau Heidegger eine Rolle spielt — auf Elfride Heidegger will ich nämlich später in einem kleinen Exkurs noch zurückkommen. Sondern die Notiz aus dem Jahr 1984, aufgeschrieben also rund sechs Jahrzehnte nach der darin skizzierten Begebenheit, ist also solche auch sehr bezeichnend für Günther Anders und seine Art, sich und andere zu präsentieren. Da meines Wissens keine Darstellung der Szene durch Martin oder Elfride Heidegger bekannt ist, muss man der Andersschen Darstellung Glauben schenken, wenn man das Ereignis nicht von vornherein als erfunden abtun will. In seiner prägnanten Schilderung ist nun Anders selbst die dominierende und souveräne Figur. Er agiert, die anderen reagieren. Er kommt gut weg, die anderen schlecht. Denn während sie humorlos, verständnislos und hasserfüllt sind, ist er witzig und kritisch. Seine geschickte Rhetorik bringt die persönlichen Schwächen der anderen zum Vorschein. Dabei beobachtet er nicht nur, wie sie sich verhalten, er weiß auch, und zwar ganz genau, was sie fühlen und denken. Er triumphiert, während die anderen sozusagen menschlich und sachlich widerlegt sind.

Im Ganzen ist also, so scheint mir, die Ankekdote weniger eine über Herrn und Frau Heidegger, sondern eine über Günther Anders, der lebenslang in eine Auseinandersetzung mit Martin Heidegger und seinem Denken verwickelt war. Dabei ist es gewiss kein Zufall, dass der Vielschreiber Anders zu Lebzeiten nur wenig über Heidegger publizierte und stattdessen viel Unfertiges hinterließ, dessen postume Herausgabe zwar erfreulich sein mag, das aber in seiner Skizzenhaftigkeit und argumentativen Löchrigkeit sehr viele Fragen offen lässt, die ein vom Verfasser selbst zur Veröffentlichung vorbereiteter Text besser gestellt und zum Teil vielleicht sogar beantwortet hätte. Doch dazu kam es eben nicht. Man darf wohl vermuten, dass Anders mit Heidegger nicht fertig wurde. Und das, obwohl er sich mit ihm nicht nur diskursiv, sondern, wie die Anekdote zeigt, auch narrativ auseinandersetzte. Doch um das Bonmot Voltaires nochmals zu paraphrasieren: Es genügt nicht, Geschichten zu erfinden, man muss auch jemanden finden, der sie glaubt.

Meine Damen und Herren, ums Glauben und Nichtglauben wird es in meinem Vortrag gehen. Anders, Heidegger, Gott — diese Reihenfolge der drei Eigennamen ist selbstverständlich nicht zufällig, sondern damit ist auch der Aufbau meiner Ausführungen grob bezeichnet. Ich beginne mit Anders, wie es sich gehört für einen Beitrag, der schon im Mai dieses Jahres bei den Günther-Anders-Tagen in Marburg vorgetragen wurde, aber im Mittelpunkt steht Heidegger, was sich vielleicht nicht gehört, aber im Zusammenhang mit Anders gewiss weder schadet noch eine thematische Verfehlung darstellt. Der wichtigste Gesichtspunkt ist dabei Gott oder, falls das zu direkt gesagt ist, das Religiöse oder das Theologische. Ich spreche also weder über Anders als solchen noch über Heideggeer als solchen noch gar über Gott als solchen, sondern mein Thema sind im Wesentlichen, ausgehend von Andersschen Gedanken zu Heideggersche Gedanken, einige Überlegungen zu Heideggers Überlegungen zu Gott, Religion, Theologie.

Vorausschicken möchte ich, dass ich weder ein Anders-Experte noch ein Heidegger-Spezialist bin. (Und übrigens auch weder Andersgläubiger noch Heideggergläubiger.) Meine Ausführungen verstehe ich schon deshalb nicht im mindesten als abschließende Abhandlung, sondern lediglich als eher skizzenhafte Aneinanderreihung von Andeutungen, die Sie, die Sie mir freundlicherweise etwas von ihrer Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, dazu anregen sollen, sich selbst zu diesem oder jenem jetzt oder später vertiefende Gedanken zu machen.


II.

Wie bereits erwähnt, ist die Auseinandersetzung mit Martin Heidegger und seinem Denken ein lebenslanges Thema für Günther Anders gewesen. Diese Auseinandersetzung findet in den Andersschen Texten manchmal offen, öfter noch verdeckt statt. Selten geht es dabei um Zustimmung, immer um Kritik, meist um Ablehnung, nicht selten um Polemik. Am prominentesten erscheint die Anderssche Beschäftigung mit seinem großen Gegenspieler selbstverständlich in dem ebenfalls bereits erwähnten Band „Über Heidegger“, der einige ausgearbeitete Texte, aber vielfach auch bloße Notizen aus mehreren Jahrzehnten enthält. Wer immer sich für Günther Anders als Philosophen interessiert, ist gut beraten, sich durch diesen Band durchzuarbeiten und sich ein eigenes Bild zu machen. Ich meinerseits werde hier freilich weder eine (vermutlich ohnehin völlig unmögliche) Gesamtdarstellung der Andersschen Kritik an Heidegger versuchen, noch werde ich hier auf allzu viele Details eingehen. Was mich für meine Zwecke interessiert, sind die Stellen, an den Günther Anders Martin Heidegger im Hinblick auf dessen Atheismus oder Theismus kritisiert. Man könnte, einen Befund vorwegnehmend, auch sagen: Im Hinblick auf unzureichenden Atheismus und ungehörigen Theismus.
Was die Kritik von Günther Anders an Martin Heidegger im Allgemeinen betrifft, so ist wohl vor allem die Zurückweisung der „Pseudo-Konkretheit von Heideggers Philosophie“ bekannt, so ja auch der Titel einer 1948 im New Yorker Exil verfassten Abhandlung. Woran lässt sich, kurz gesagt, diese Pseudo-Konkretheit festmachen?

Anders notiert dazu schon 1946: „Was nicht in seine [also Heideggers] Philosophie einging, war die Tatsache der Industrialisierung, der Demokratie, der Weite der heutigen Welt, der Arbeiterbewegung — denn Heidegger war ein provinzieller Mittelständler. Was dagegen zusätzlich dem Ganzen seine eigentümliche Düsterkeit und Feierlichkeit verleiht, ist Heideggers Herkunft aus der katholischen Theologie, die seiner atheistischen Lehre die Farbe einer Religion mitteilt.“ (Anders 2001, 42 f.)

Was also Anders zufolge bei Heidegger nicht vorkommt, ist mit einem Wort die Moderne, und das erklärt sich, Anders zufolge, mit dem vormodernen sozialen und antimodernistischen ideologischen Herkunftsmilieu. Diese Herkunft, diese Situierung in konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen wirkt sich bei Heidegger also unverkennbar aus, wird aber in seinem Philosophieren ebenso wenig zum Thema wie die konkrete Leiblichkeit. Anders schreibt: „’Das Dasein’ [bekanntlich sozusagen Heideggers Ersatzbegriff für „Mensch“, St. B.] hat keine Eltern, denn es ist ‘geworfen’; es zerfällt nicht in Geschlechter; es zeugt nicht weiter; es hat keinen Leib. Weder ist es beherrscht noch herrscht es; es ist unpolitisch; es kennt keine Rechte, keine Pflichten; weder Kultur noch Natur; es freut sich nicht; es liebt niemanden und nichts; mit keiner Gruppe solidarisiert es sich; es hat keinen Freund, kurz: es ist ein hoffnungslos amputiertes Dasein, das die wirklichen Fragen, d. h. die wirklichen Schwierigkeiten unseres Daseins schon deshalb nicht beantworten kann, weil es sie gar nicht fragt.“ (Anders 2001, S. 50)

Ich gestehe, ich kann dieser Anderschen Kritik an Heidegger einiges abgewinnen. So beeindruckend die Heideggerschen Daseinsanalysen (vor allem in „Sein und Zeit“) sein mögen, sie sind doch oft erschreckend begrenzt, einseitig und unvollständig. Anders legt mit seiner vergleichsweise frühen Kritik sozusagen die Finger in die Wunden des Heideggerschen Diskurses. Was bei Heidegger fehlt, ist eine Befassung mit der grundlegenden Beschaffenheit des Menschen, der eben nicht autark ist, sondern auf andere angewiesen und auch umgekehrt einer, auf den andere angewiesen sein können. Heidegger spricht zwar von der „Sorge“, aber Anders hält ihm zu Recht vor, dabei die allem Sorgen vorausliegende „Bedürftigkeit“ des Menschen zu übersehen. Hier ist also der Anderssche Einspruch richtig und angemessen. Leider bewegt sich aber dann das, was Anders Heidegger an Konkretisierung entgegenhält, nicht immer auf ernstzunehmendem philosophischem Niveau. So etwa, wenn Anders den Begriff der „Intentionalität“ auf die „Verfolgung eines Beutestückes“ (ebd., S. 82) zurückführen möchte oder „Zeit“ kurzerhand als „Gefälle zwischen Bedürfnis und Befriedigung“ (ebd., S. 85) definiert wissen will. Das ist denn doch ein etwas forcierter Vulgärmaterialismus. Anders hat Recht, wenn er polemisch gegen Heidegger vorbringt, dass dessen „Dasein […] keine Zahnschmerzen“ habe, aber es wäre lächerlich, nur solche philosophische Begriffe zuzulassen, deren Gehalt sich auf Zahnschmerzen, Durchfall oder Fußpilz reduzieren ließe. Wenn Anders 1950 notiert: „Erst kommt das Fressen, dann die Ontologie“, ist das lediglich eine etwas billige Brecht-Paraphrase, zwar halbwegs prägnant, aber eben noch kein philosophisches Argument.
Allerdings bilden die Leiblosigkeit, Ungeselligkeit und mangelnde Konkretheit des menschlichen Daseins gemäß Heideggers Interpretation ja nur einen Teil der Vorwürfe, die Anders gegen Heidegger vorbringt, sozusagen die Kritik des Versagens am Diesseitigen. Anders kritisiert an Heidegger jedoch auch den Ausgriff auf Jenseitiges.
So schreibt er etwa 1950: „Was er [Heidegger] bietet, ist weder Wissenschaft noch Religion, sondern eine ontologische Veränderung unserer selbst und des Seins selbst — und der Weg dorthin ist gewiß ein Ritual des Andenkens, ein Ritual, das noch nicht festgelegt ist — alle seine Schriften sind gewissermaßen Versuche, den Weg eindeutiger zu machen. Sub specie dieses letzten Anliegens H.s sind seine Schriften gewissermaßen Theologie praenumerando; Theologie, die von der Philosophie hinführen soll zur ontologischen Religion. […] Mit all dem will ich nicht sagen, daß H. eine wirkliche Religion stiftet. Ich hoffe nicht: es wäre eine lieblose und bei aller Religiosität ihres Vokabulars defaitistische, die auf eine Parousie des unbekannten Gottes, ins Nichts hinein- und an-denkend hoffte. Aber dem Anspruch nach ist H.s Anliegen eine Religion. Und insofern kann man mit ihr nicht diskutieren; höchstens mit ihren theologischen Vorarbeiten […].“ (Anders 2001, S. 305)

Und an anderer Stelle: „Die Auseinandersetzung mit Heideggers Position gehört nicht mehr der Philosophie an, vielmehr ist sie, wenn sie aufgenommen wird, ein Kampf gegen eine neue Religion, und zwar ein Religionskampf, wie er in den letzten Jahrhunderten nicht mehr existiert hatte.

Bei Heidegger […] handelt es sich weder um eine Variante des Christentums, noch um eine kulturelle Verwässerung religiösen Erbgutes, noch um Materialismus, noch um eine politische Bewegung, sondern um etwas heute ganz Ungewohntes: nämlich um eine, ein neues Zeitalter apokalyptisch weissagende Seinsvergottung, ausgesprochen von einem, der sich anmaßt, Sprachrohr des Absoluten, nämlich des Seins selbst, zu sein, also dem Typ nach, auch wenn Heidegger das Wort selbst nicht verwendet, um eine neue Religion.“ (ebd., S. 357)

Anders meint zwar: „Vermutlich würde Heidegger die Behauptung, das Sein sei bei ihm an die Stelle Gottes getreten, als Unterstellung abweisen. (ebd., S. 327) Dennoch hält Anders fest: „Heidegger Mystiker zu nennen, hat […] einen historisch legitimen Sinn.“ (ebd., S. 336) Und Anders fasst den Denkweg Heideggers so zusammen: „Von einem Atheismus, der kein Atheismus ist, schwenkte Heidegger zu einem Seins-Theismus, der nicht Theismus ist.“ (ebd. S. 283 f.)

Dies, so scheint mir, bildet den Kern der Anderschen Kritik an Heidegger, dass dessen Atheismus ungenügend ist und schließlich wieder in eine Art Quasi-Theismus übergeht. An keiner Stelle begründet Anders jedoch, warum es schlecht ist, dass Heideggers Philosophie eine, wie er meint, Religion oder Mystik oder etwas derlei zumindest Nahekommendes ist. Es genügt ihm festzustellen, dass dem so ist. Religionskritik betreibt Anders, jedenfalls im Zusammenhang mit Heidegger, nicht. Im Gegenteil, er empört sich darüber, dass eine solche „nach Feuerbach“ (vgl. ebd., S. 185) überhaupt noch nötig sein soll.

Nicht, dass Heidegger also mit seinem Seinsdenken etwa eine falsche Religion verkündete, macht Anders ihm zum Vorwurf; und auch nicht, dass diese Religion unecht sei und nur einen verschleierten Atheismus darstelle. Vielmehr stört Anders an Heidegger, dass er zu wenig und auf die falsche Weise Atheist ist. Er schreibt:

„Sich Atheist zu nennen, weigert er sich wiederholt nicht nur, weil diese Klassifizierung unbequem wäre, sondern weil auch der Atheist noch fixiert sei an das Modell eines Seins-zu-Gott, das er — selbst negierend — aufgegeben habe. Also nennt er sich angeblich gerade deshalb nicht Atheist, weil er sich bereits jenseits der Verneinung fühlt. — Das klingt außerordentlich radikal, ist aber eigentlich die Position der gesamten positiven Wissenschaft, deren Vertreter gar nicht auf den Gedanken kommen, Gott zu leugnen, da sie in ihrem Betrieb auf gar nichts zu Leugnendes mehr treffen. Sie betonen freilich schon längst nicht mehr, daß sie Atheisten sind; und wenn sie, etwa in Amerika, am Sonntag in die Kirche gehen, so weil sie schon gar nicht mehr auf den Gedanken kommen, daß das mit ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit auch nur in der Beziehung des Widerspruchs stehen könnte.“ (ebd., S. 371)
Anders gesagt, für Anders ist Heideggers nicht-atheistischer Atheismus, der sich nicht so nennen will, keineswegs radikal, sondern vielmehr oberflächlich und konformistisch. Wie aber verhält es sich mit Anders eigenem Atheismus?

 

III.

In seinem Buch „Ketzereien“ schreibt Günther Anders: „Der Gedanke, daß auch nur ein einziger meiner Lehrer hätte gläubig gewesen sein können oder es hätte in Kauf nehmen können, von einer Offenbarung oder gar vom Thesensystem einer Kirche auszugehen, dieser Gedanke ist einfach absurd. Heidegger hat Thomas zwar auswendig gekannt — ich habe, ohne ein Wort zu verstehen, an einem Seminar über die ‘Summa’ in Marburg teilgenommen —, aber ein Thomist ist er nun wahrhaftig nicht gewesen. Scheler hat in den Jahren vor seinem Tode, in denen ihn fast ausschließlich Wissensoziologie interessierte, seine frühe religiöse Phasse offenkundlich [sic] verspottet […] Und Cassirer? Und Husserl? Hat es nicht zu ihrer ‘philosophischen Kultur’, abgesehen davon, daß sie ‘natürlich’ asketisch war, gehört, daß sie ihre religiöse Indifferenz verschwiegen und selbst dieses Verschweigen vor sich selbst verschwiegen hat?“ (Anders 1996, S. 111)

Das nun kann man Günther Anders ganz gewiss nicht vorwerfen, dass er je etwas verschwiegen hätte, seinen Atheismus jedenfalls nicht, den hat er im Gegenteil immer mal wieder laut herausposaunt. Eben zum Beispiel in den „Ketzereien“. Und doch gemahnen solche lauthalsigen Bekenntnisse an ein Pfeifen im Walde, wirken wie ein Versuch, das Unbehagen am eigenen Ungenügen durch Gerede über die Unverständlichkeit und Unverständigkeit anderer zu bannen. Wer sich ungefragt so nachdrücklich über seinen Unglauben verbreitet, darf sich nicht wundern, wenn er von manchen als religiöser Mensch oder zumindest als Mensch mit religiösen Problemen erkannt wird.

„Glauben definiert nicht den Menschen“, dekretiert Anders trotzig und nimmt seine Zuflucht zum Paradoxon, wenn er bekennt: „Ich glaube nicht, dass es Glauben gibt.“ (Anders 1996, S. 9) Anders ist also nicht nur ungläubig, er will auch auf keinen Fall glauben. Er ist nicht nur Atheist, er will es auch unbedingt sein, mehr noch, er will — weil ja jeder Atheismus noch unwillkürlich auf Theismus verweist —, sozusagen ein post-atheistischer Atheist sein.
„Denn mein Nichtglauben besteht nicht nur in Zarathustras Formel ‘Gott ist tot’, nicht nur in der bloßen, heute schon trivial gewordenen Bezweiflung der Existenz Gottes, nicht nur in einer Ableugnung, die die Möglichkeit anderer Credos noch offenließe, sondern darin, daß ich nicht mehr ans Glauben glaube, nicht mehr verstehen kann und auch nicht mehr verstehen zu können wünsche, was mit dem Wort ‘Glauben’ heute noch gemeint sein könnte. (Anders 1966, S. 282)

Mit anderen Worten, Anders möchte, dass sein Atheismus unbedingt ein ganz besonderer ist, nicht zu verwechseln mit irgendeinem Allerweltsatheismus. Er glaubt nicht nur nicht, er will auch nicht glauben, er versteht angeblich nicht nur nicht, was glauben überhaupt bedeutet, sondern er will es auch nicht verstehen können. Eine Abwehr, die nicht mehr zu überbieten sein möchte. Originellerweise kommt Anders mit diesem seinem selbstgebastelten Überatheismus einerseits der Position seines Gegenspielers Heidegger sehr nahe, dem er selbst ja (wie vorhin zitiert) zuschreibt, nicht einmal mehr Atheist sein zu wollen, weil auch das noch einen Gottesbezug bezeichne. Andererseits deckt sich die forcierte Haltung von Anders mit der ganz ungezwungenen Praxis vieler in den säkularisierten westlichen Industriegesellschaften, die sich in ihren alltäglichen Lebensvollzügen keinen Deut um irgendwelche religiösen Begriffe, Vorstellungen oder Normen scheren. Selbst dort, wo religiöse Versatzstücke noch vorkommen, herrscht allenfalls ein religiöser Subjektivismus — zuweilen auch in fundamentalistischer Ausprägung —, öfter aber gedankenlose Indifferenz.

Daran, dass er mit seinem forcierten Atheismus den Zeitgeist nur intensiviert, aber nicht kritisiert, scheint Anders sich nicht zu stoßen. Er kann und will ja auch keine Begründung für seinen Atheismus, für sein Nicht-verstehen-können-wünschen des Glaubens angeben. Wenn er, wie in den „Ketzereien“ Gott vorwirft, wenn er existiere, „dann ist er einer, der Auschwitz und Hiroshima nicht verhindert hat“ (S. 33), hält dieser scheinbar so gewichtige Einwand näherer Betrachtung nicht stand. Ich kann und will hier nicht auf die theologische Diskussion eingehen, wie sich Gottes Güte und Allmacht einerseits mit menschlichem Leiden und menschlicher Freiheit andererseits vertragen. Warum Gott menschliche Handlungen zulässt und zulässt, dass sie Folgen, auch böse haben, ist ein schwieriges Problen, dessen Erörterung den Rahmen meines Vortrages sprengte. Hier begnüge ich mich damit, darauf zu verweisen, dass die Wahl der Chiffren „Auschwitz“ und „Hiroshima“ mehr über Anders besagt als über Gott. Wenn von großen Verbrechen, großem Leid die Rede sein soll, warum nicht vom Dreißigjährigen Krieg, von der Großen Pest des 14. Jahrhunderts, von den verheerenderen Kriegszügen Tamerlans oder dem Einfall der Hyksos in Ägypten? Warum überhaupt so große Dimensionen? Wenn einer an Krebs stirbt oder von einem Auto überfahren wird, warum lässt Gott das zu? Wenn ich Zahnschmerzen habe oder mir beim Einschlagen eines Nagels in die Wand mit dem Hammer auf den Finger schlage, warum lässt Gott das zu?

Wohlgemerkt, indem ich die Andersschen Megathemen „Auschwitz“ und „Hiroshima“ in ihrer diskursiven Bedeutung zu relativieren versuche, erkläre ich die theologische oder philosophische Diskussion keineswegs für beendet. Ich möchte eher darauf hinweisen, dass sie so, wie Anders sie angeht, nicht zu führen ist. Indem er von seinen Lieblingsereignissen „Auschwitz“ und „Hiroshima“ redet, würgt Anders jedes Gespräch ab. Er will gar keine Diskussion, weil er ja, wie er selbst bekennt, eine andere Auffassung als seine eigene gar nicht verstehen will. Mit einem solchen ebenso rabiaten wie selbstgenügsamen Rhetoriker ist im Grunde keine Verständigung möglich. Der Wütende wünscht sie nicht und sein Gegenüber dränge nicht durch.

IV.

In seinem Erinnerungsbuch „Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933“ schreibt Karl Löwith über seinen einstigen Lehrer Heidegger: „Jesuit durch Erziehung, wurde er Protestant aus Empörung, scholastischer Dogmatiker durch Schulung und existenzieller Pragmatist aus Erfahrung, Theologe durch Tradition und Atheist als Forscher, Renegat seiner Tradition im Gewande ihres Historikers.“ (Löwith, S.45). Günther Anders war also bei weitem nicht der einzige, dem auffiel, was man mit Hans-Georg Gadamer die „religiöse Dimension“ (Gadamer 1981, S. 308) des Heideggerschen Philosophierens nennen könnte. Ganz im Gegenteil. Die Sekundärliteratur, die zu Heidegger insgesamt längst nahezu unüberschaubar geworden ist, ist auch unter diesem Aspekt ausgesprochen reichhaltig.

Ich möchte hier allerdings nicht viel Verschiedenes, sondern nur Weniges, aber besonders Instruierendes zitieren. In seiner Monographie über Heidegger schreibt George Steiner:
„Heidegger war als Theologe ausgebildet und ist einer geblieben. […] Wenn Heidegger den Menschen als ‘Hirten des Seins’ bezeichnet, wenn er Wahrheit als eine Erleuchtung, eine Epiphanie und Selbstoffenbarung in der ‘Lichtung’ der Existenz sieht, so variiert er seit langem etablierte theologische und gnostische Themen. […] Was wir wirklich in Heideggers Werken finden, ist daher eine post-doktrinäre, post-systematische Theologie unter vielen. Das richtige Vergleichsgebiet läge nicht in den aristotelischen Kategorien des Existentiellen oder bei Husserls Suche nach wissenschaftlicher Gewißheit, sondern bei Kierkegaards ironischer Eschatologie oder dem neuen Evangelium von Also sprach Zarathustra. Daher kommt es, daß die Theologen die ersten waren, die Sein und Zeit aufnahmen, und daß Theologen und die, die (wie gewisse Psychiater und Dichter) theologisch metaphorisieren, diejenigen sind, auf die Heidegger bisher die einschneidendste Wirkung ausgeübt hat. / Heidegger protestiert heftig gegen diese Einordnung. Er erklärt unermüdlich, daß aus seinen Sätzen über das ‘Sein’ absolut nichts über die Existenz oder Nichtexistenz Gottes folgt.“ (Steiner, S. 114)

Steiner betrachtet als „erste und radikale ‘Kehre’ in Heideggers Haltung […] die vom Theologischen zum Ontologischen. Sein und Zeit und die Werke, die folgten, stellen jeden theologischen Bezug in Abrede. Sie stellen eine unversöhnliche Kritik der Transzendenz im theologischen und neuplatonischen Sinne dar. Am strengsten verwirft Martin Heidegger das, was er ‘das Onto-Theologische’ nennt, das heißt, die Versuche, eine Philosophie des Seins oder eine Erkenntnistheorie des Bewußtseins auf einer rational oder intuitiv postulierten theologischen Basis zu begründen. Die Ableitung jeder derartigen Basis, wie wir sie vornehmlich bei Kant oder verdeckter im Hypostasieren des Geistes in Hegels teleologischem Historizismus finden, ist für Heidegger ganz und gar unzulässig. Eine eigentliche Ontologie, wie er sie entwickelt, ist ein Denken menschlicher existentialer Immanenz, dessen Bezugnahme auf das Sein, auf die ursprüngliche, nackte Tatsache und Wahrheit der Essenz keine theologische Dimension hat. Immer wieder macht Heidegger diese Unterscheidung für sein Unternehmen und für unser Verständnis der Conditio humana zwingend. In noch drastischerer Weise als eine ‘Überwindung der Metaphysik’ (deren theologische Grundlagen jedenfalls in der abendländischen Tradition ständig durchscheinen) ist Heideggers Denken eine ‘Überwindung der Theologie’ oder, präziser und entscheidender, eine Verdrängung der theologischen Gespenster, die hartnäckig die abendländische Philosophie selbst in ihrer am ausdrücklichsten agnostischen oder atheistischen Form (der Philosophie Nietzsches) bewohnen. Heideggers Anspielungen auf die Theologie, auf den Gebrauch, den Theologen in Marburg und anderswo von seiner Ontologie machten, wurden in zunehmendem Maße ironisch. Die Distanz zwischen ihm und den Theologen mußte völlig unmißverständlich gemacht werden.“ (ebd., S. 20)
Steiner meint, dass Heideggers philosophischer Beitrag „zu den größten Taten in der Geschichte des Denkens und der Sprache gehört. Die Herausforderung, die Provokation und der Einfluß, die davon ausgehen, sind gewaltig und werden es weiter sein. Doch ein Eindruck eines letztlichen Scheiterns läßt sich schwer leugnen. Bekanntlich war Heidegger selbst unfähig, zu einer Defintion des Seins zu gelangen, die nicht entweder eine reine Tautologie oder eine metaphorische Kette ist, die sich in einen regressus ad infinitum verliert. Er selbst räumt diese Tatsache ein und schrieb der menschlichen Sprache selbst eine grundlegende Unzulänglichkeit angesichts des Seins zu. In der Tat gibt es direkt im Kern von Heideggers Unternehmung etwas grundsätzlich Unbeständiges, ja Widersprüchliches. Im Nachwort zu Was ist Metaphysik? aus dem Jahre 1943 heißt es, ‘daß das Sein wohl west ohne das Seiende, daß niemals aber ein Seiendes ist ohne das Sein’. In der 5. Auflage des Buches wird dieser Kernsatz einfach umgekehrt. Wir erfahren jetzt, ‘daß das Sein nie west ohne das Seiende’. Innerhab von sechs Jahren ist das ganze ontologische Postulat ins Gegenteil verkehrt worden. Gadamer schließt zu Recht auf das ‘eschatologische Pathos’, das sich in diesen Jahren über Heidegger und Deutschland entlud. Doch die Verworrenheit liegt tiefer. Wie überall sonst bei Heidegger erweist sich das Denk- und Sprach-Experiment, das verlangt wird, um unabhängig vom Seienden, von dem, was wirklich und existentiell ist, ‘Sein zu denken’, als Fehlschlag. Oder, was von noch größerer Bedeutung ist, das Experiment selbst stellt eine unbeabsichtigte Rückkehr zum Theologischen dar. Ersetzt man ‘Sein’ in allen Schlüsselpassagen durch ‘Gott’, so wird ihre Bedeutung klar. Ein ‘Sein ohne Seiendes’, wie Heidegger es postulieren muß, wenn der Anti-Metaphysik und Anti-Theologie seiner Lehren treu bleiben will, ist auf genau dieselbe Weise undenkbar und unsagbar, wie der deus absconditus [der verborgene Gott]., der unbewegte Erste Beweger des aristotelischen und augustinischen Transzendentalismus undenkbar und unsagbar ist. Die Gleichwertigkeit ist das, was Heidegger fast verzweifelt zu vermeiden bemüht ist.“ (ebd., S. 24 f.)

Für Steiner stellt sich die Frage, welche Rolle in Heideggers Denken […] die Ablehnung und die Zurückweisung des Theologischen spielen. Und seine Antwort lautet: „In Heideggers Denken gibt es eine Fülle erkenntnistheoretischer, phänomenologischer und ästhetischer Einsichten. Dieses Denken fordert zu einer Neubewertung gewisser Aspekte der aristotelischen und scholastischen Logik und Rhetorik auf. Es ist nach eigenem Bekunden die umfassendste Argumentation zur Ontologie, zur Faktizität des Existentiellen, die wir haben. Aber es enthält keine Ethik und impliziert auch keine. Heidegger selbst war in diesem Punkt kategorisch. Er verwarf völlig die Versuche, die vor allem von den Marburger Theologen und von gewissen humanistischen Existentialisten in Frankreich gemacht wurden, aus seinen Werken ethische Prinzipien oder Methodologien abzuleiten. Er definiert die Ethik […] als etwas, was überhaupt nicht zu seinem eigenen streng ontologischen Unternehmen gehörte. Das ‘Denken des Seins’ ist von einer Art, die total anders ist als das präskriptive, normative oder heuristische ‘Denken des Verhaltens’. In der gewaltigen, von Wiederholungen durchzogenen Masse der Schriften Heideggers ist der markante Mangel ganz genau der des Begriffs des Bösen […]. Weit über Nietzsche hinaus denkt […] Heidegger in Kategorien jenseits von Gut und Böse. […] Hätte Heidegger danach gestrebt, das Böse des Nazismusund seiner Rolle darin zu verstehen, hätte er sich bemüht, in einer Tiefe, die dem Erforderlichen wenigstens nahekommt, ‘Auschwitz zu denken’ […], so wäre die Sphäre des ethischen unentbehrlich gewesen. Es ist, so möchte ich behaupten, diese Sphäre, die er in seiner Ablehnung der Theologie ausgeschlossen hatte, und diese Ausschließung verkrüppelte seine Menschlichkeit.“ (ebd., S. 40 f.)

 

V.

Bei der Vorbereitung zu diesem Vortrag stieß ich recht spät auf ein Buch, das mich trotz mancher Einwände einigermaßen beeindruckt hat und das ich Ihnen hier, weil es mir allzu wenig rezipiert worden zu sein scheint, vorstellen möchte. Es handelt sich um „Martin Heidegger — der gottlose Priester. Psychogramm eines Denkers“ von Anton M. Fischer, einem mir sonst nicht weiter bekannten Schweizer Psychoanalytiker, Paartherapeuten und Unternehmensberater. Fischer bietet eine Art Psychobiographie des Menschen und Philosophen Heidegger und kommt dabei zu allerhand interessanten Einsichten. Ich will freilich nicht verhehlen, dass bei aller Wertschätzung für dieses oder jenes Detail ich gegen Fischers Ansatz und Umsetzung doch auch wichtige Bedenken habe. Zum einen halte ich es für fraglich, ob eine solche postume Psychoanalyse statthaft, möglich und sinnvoll ist. Hinzu kommt für mich, dass ich den Jargon der Psychologie, in den Fischer insbesondere in den jedem Kapitel nachgestellten Betrachtungen verfällt, schwer ertrage. Und dann muss ich leider auch noch feststellen, dass Fischer weder von Theologie noch von Religionsphilosophie allzu viel Ahnung hat, was seiner Auseinandersetzung mit Heidegger gerade unter dem Gesichtspunkt des Religiösen zuweilen abrupt den Boden entzieht und viele seiner Urteile als bloße Vorurteile und wissenschaftlich kaschierte Ressentiments erweist.

All diesen Einwänden zum Trotz halte ich Fischers Buch für unbedingt lesenswert. Falls sich der eine oder andere nun wundert, warum ich so lange Zitat eines einzigen Autors, der zudem weder Anders noch Heidegger heißt, in meinen Vortrag aufnehme, so darf ich das damit rechtfertigen, dass ich die Klarheit und Schärfe der Fischerschen Formulierungen (wie die der Steinerschen vorhin) schätze und das Gesagte, sofern wir in der Sache übereinstimmen, nur anders, aber schwerlich besser hätte sagen können.

Anton M. Fischer also schreibt: „Der Heidegger der 1950er Jahre erweist sich immer mehr als der Kleriker, der er ursprünglich hätte werden sollen. […]“ (S. 624) Damit spielt Fischer darauf an, dass Martin Heidegger nach dem Schulbesuch erst Mitglied der Societas Jesu werden wollte, aber von den Jesuiten bald aus dem Noviziat nach Hause geschickt wurde. Danach wollte Heidegger bekanntlich immerhin wenigstens Weltpriester werden, musste aber auch diesen Plan nach einiger Zeit aufgeben. In beiden Fällen wurden gesundheitlich Gründe angegeben, die den Kandidaten für den priesterlichen Dienst untauglich gemacht hätten, aber die Möglichkeit steht im Raum, und Fischer spürt ihr nach, dass es auch Heideggers menschliches Ungenügen war, das die kirchlichen Instanzen veranlasste, den angehenden Gelehrten zurückzuweisen. Diese zweifache Ablehnung durch die Kirche wird Heidegger niemals verwinden, und das, was er selbst den „Glauben der Herkunft“ nennt, wird er zeitlebens mit Hass verfolgen und denkerisch zu übertrumpfen wünschen.
Fischer schreibt: „Ursprünglich hatte er sich, damals noch angehender Theologe, im Besitz der ewigen Wahrheit gewähnt, aber den mußte er mit Millionen Gläubigen teilen. Jetzt beansprucht er allein den direkten Zugang, es ist aber nicht mehr der Gott der Bibel, der sich ihm offenbart, sondern eine Instanz, die noch über diesem steht; eine Art Metagott. der nicht so angreifbar ist wie das Original […].“ (S. 552)

Fischer konstatiert, Heidegger schaffe sich „eine neue Religion, die Seinsreligion, die seine religiöse Leerstelle ausfällt, ohne daß er hinter den von Nietzsche proklamierten Tod Gottes zurückfällt.“ (S. 728)

Fischer gibt folgende Gesamtschau: „Der pseudoreligiöse Charakter dieser Unternehmung ist offensichtlich. Von den positiven Religionen hält Heidegger zwar nichts: Alle bisherigen ‘Kulte’ und ‘Kirchen’ und solches überhaupt kann nicht die wesentliche Breitung des Zusammenstoßes des Gottes und des Menschen in der Mitte des Seyns werden. Das kann nur sein neuer Kult, der Seinskult. […] Auch wenn Heidegger wie Nietzsche den durch den Tod Gottes verlassenen Thron leer lassen will, erinnert seine Idee vom Sein an den alten ‘deus absconditus’. Der Unterschied liegt darin, daß das Sein an gar nichts erinnert, also auch nicht an den Menschen, während im Christentum Gott an die Menschen erinnert: Der Mensch ist theomorph — und Gott anthropomorph. Sonst ist alles auffällig ähnlich […] Der Thron Gottes ist nur Etage höher gerutscht und hat sich einen neuen Namen zugelegt, aber sonst finden sich in der Seinsgeschichte alle Elemente der christlichen Theologie wieder: die Einzigartigket und Verborgenheit des Seins, die Offenbarung (es verhüllt sich und zeigt sich nach Belieben), die Schöpfung (es wirft Seiendes in sein Da), eine komplette Heilgeschichte (Seinsgeschick) mit Sündenfall (Seinsvergessenheit), Erlösung (die Beendigung der Seinsvergessenheit) und einem Erlöser, dessen Rolle Heidegger gleich selber übernimmt. […] Dem christlichen Kulturgut entstammen auch die restlichen Bestandteile: die Vorbestimmung (der Mensch vermag nichts gegen das Seinsgeschick), Reue und Rückgewinnung des Verlorenen, Entscheidung, Vorbereitung auf das Kommende, Gnade, Hingebung, Dank. […] Heideggers Götter bleiben aus und kommen zugleich wieder, denn gerade in ihrem Ausbleiben ereignet sich die Ankunft. Gott bleibt zwar tot, wie Nietzsche verkündet hat, aber vielleicht verspricht uns ein neuer Gott Rettung vor dem Nihilismus, dem wir verfallen sind.“ (S. 402)
Fischer stellt schon für den frühen Heidegger etwas fest, was sich meiner Meinung nach auch vom späteren sagen lässt: „Heideggers Gott ist kein lieber Gott. Seine Geschöpfe finden bei ihm weder Barmherzigkeit noch Trost, weder Geborgenheit noch Wärme. Spaß versteht er ohnehin keinen [,] und ihre fleischliche Lust ist ihm ein Greuel. Er ist ein gemütsarmer Gott, und so ist auch die Beziehung seiner Geschöpfe zu ihm. Seiner Anwesenheit fehlen die positiven väterlichen Qulaitäten, und der Unterwerfung unter seinen Willen die positive Motivation und der positive Gewinn. Er ist bedrohlich, extrem gefährlich, neidet [sic] seinen Geschöpfen die Autonomie und duldet niemanden neben sich und richtet mit brutaler Hand zugrunde, wer sich ihm widersetzt.“ (S. 62)

Fischer mach deutlich, dass dieses defiziente Gottesbild einem defizienten Menschenbild korrespondiert: „Heideggers Existenzanalyse umfaßt generell nur einen Teil der menschlichen Möglichkeiten und Stimmungen — und zwar vor allem derjenigen, die er an sich selbst kennt: Angst, Sorge, Langeweile. Was er nicht kennt, kann oder will, sich freuen, lieben, mitfühlen, sich solidarisch anderen verbunden fühlen, das bleibt draußen vor der Türe der Ontologie. Er konnte kaum je etwas auf die leichte Schulter nehmen — und daher steht der Lastcharakter des Daseins von vornherein fest, die Begründung dazu fehlt ebenso wie für die Behauptung, aus dem Aufsichnehmen dieser Last bestehe das eigentliche Seinkönnen. […] bereits ein naiver Blick auf den bunten Kosmos menschlicher Wirklichkeiten genügt, um die Einseitigkeit seiner Existenzialanalyse zu erkennen. Im Gewand eines sich fundamental gebärdenden Objektivismus triumphiert ein extremer Subjektivismus. Dementsprechend kann Heidegger letztlich gar nicht begründen, warum er nicht die Freude, die Liebe, die Lust oder, mit Nietzsche, den Willen zur Macht als Lackmusprobe der Eigentlichkeit erkoren hat. Es ist keineswegs zwingend, den Sinn von Sein von der Gestimmtheit der Angst zu erschließen. Andere Gestimmtheiten wie Freude oder Liebe ignoriert er, obwohl er zuerst begründen müßte, warum sie nicht als Ausgang der Entschlossenheit in Frage kommen. Gerade die Liebe wäre als Begründung der Sorge vorstellbar.“ (S. 187)

Den aufmerksamen Zuhörern wird wohl nicht entgangen sein, wie nahe Fischer mit seiner kritischen Sicht der von Günther Anders kommt. Dies gilt vielleicht auch, wenn Fischer mit der Ontologie kurzen Prozess macht und schreibt: „Die Wahrheit des Seins, von allem Brimborium entkleidet, ist die nackte Tatsache, daß etwas ist und nicht vielmehr nichts ist. Den Menschen aus dem Sein denken heißt, wenn man alles esoterische Seinsgeraune wegläßt, ihn auf sein bloßes Dasein zu reduzieren.“ (S.554)

Fischer befasst sich ja aber nicht bloß mit Heideggers Werk, sondern nimmt dieses vor allem als Ausdruck der Persönlichkeit, die es verfasst hat. Hier zeigt er mit einiger Plausibilität die Disposition für den Nationalsozialismus auf, die in Zusammenhang mit Heideggers religiösem Übertrumpfungsanspruch steht: „Der Wunsch, den sein Über-Ich nicht dulden kann, ist seine eigene Machtgier: die total entfesselten Allmachtsphantasien, der Wunsch, selber an die Stelle Gottes zu treten, der extreme Drang, alle zu übertrumpfen und seine Rivalen in Grund und Boden zu stampfen.“ (S. 425) Und weiters: „Indem er nun vorgibt, daß ihm das Sein seine Wahrheit direkt ins Ohr flüstere, stellt er den Anspruch, im Besitz einer Privatoffenbarung zu sein, und hebt sich endgültig über die gewöhnlichen Sterblichen empor.“ (S. 427)
Fischer stellt eine Art Diagnose: „Fast alle Charaktereigenschaften, die Heidegger für den Nationalsozialismus anfällig machen, sind bereits beim Studenten erkennbar: der riesige Ehrgeiz, der Fanatismus, die Faszination durch die Macht, die Verachtung für Weichheit und Schwäche, die narzißtische Kränkbarkeit, die Egozentrik, die Unfähigkeit zu lieben und Freundschaften einzugehen, die Instrumentalisierung anderer zu eigenen Zwecken, das Mißtrauen, die Neigung zu Projektionen, der Haß auf die, die ihm etwas vorenthalten, die Verächtlichmachung der Gegner.“ (S. 250)

Das hat politische Folgen. Fischer skizziert das so: „Sein Denken und Handeln ist völlig frei von jeglicher Ethik. Er kennt keine Hemmungen mehr, kein Schamgefühl, keine Schranken, keine Rücksichten. Nichts ist ihm zu peinlich, zu primitiv, zu brutal, zu ungerecht, wenn es der ‘großen Sache’ dient. Er läßt in der Aula das Horst-Wessel-Lied singen, läuft in kurzen Hosen herum und biedert sich der SA an.“ (S. 323)

Heideggers Philosophieren schrumpft zu einer Variante des Nationalsozialismus zusammen, er bewundert den sogennanten Führer und vergöttert ihn geradezu und entblödet sich auch nichts, die Nazi-Parole „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ pseudophilosophisch zu paraphrasieren: „Der Einzelne, wo er auch stehe, gilt nichts. Das Schicksal unseres Volkes in seinem Staat gilt alles.“ (GA 16, S. 221)

Fischer fasst diese Verstrickung und ihre Gründe so zusammen: „Heideggers Philosophie hat keine Dämme gegen die Flut errichtet. Er hat sich selber der Kategorien beraubt, die ihm den Widerstand gegen die Barbarei erlaubt hätten, und sich ihn so schutzlos ausgeliefert. Aber das widerspiegelt lediglich eine Persönlichkeitsstruktur, in der sich ebensowenige Anteile finden, die ihm eine Resistenz gegen die totalitäre Versuchung ermöglicht hätten. Ursprünglich zum Hüter ewiger Wahrheitsschätze berufen, ist er gleichsam kontraphobisch ins Gegenteil verfallen, der restlosen Destruktion jeglicher Werte. Nur Konkretes vepflichte, Werte verpflichten niemals, hat er gesagt, und dabei vergessen, daß hinter den Werten immer auch Menschen stehen, die durch sie geschützt oder auch verfolgt werden können. Wer sich ganz naiv fragen konnte: Stimmt das, was diese Nazis behaupten, und ist das auch gerecht, was sie wollen, der war viel besser beraten als der große Philosoph Heidegger.“ (S. 253)

 

VI.

Meine Damen und Herren, man könnte wohl, ein bekanntes Wort Max Horkheimers paraphrasierend, sagen: Wer über Heidegger sprechen will, darf vom Nationalsozialismus nicht schweigen. Ich will das sogar noch weitertreiben und behaupte: Wer über Martin Heideggers Nationalsozialismus sprechen will, darf vom Nationalsozialismus seiner Frau Elfride nicht schweigen. Darum hier der angekündigte kurze Exkurs über Elfride Heidegger.
Rüdiger Safranski geht die Sache wohl etwas zu harmlos an, wenn er in seiner meisterhaften Heidegger-Biographie schreibt, dass Hannah Arendt — bekanntlich zeitweise Heideggers außereheliche Geliebte — sich täusche, wenn sie in der Ehefrau „nur den bösen Dämon im Leben Heideggers“ sehe. Safranski stellt klar: „Tatsächlich war Elfride für Heidegger eine gute Frau und treue Lebensgefährtin. Sie hatte ihn geheiratet, als es noch keine Anzeichen für seine spätere Berühmtheit gab. Während seiner Privatdozentenjahre hatte sie die Familie ernährt, in dem sie an der Schule unterrichtete. Sie war eine emanzipierte, selbstbewusste Frau, der seltene Fall einer studierten Nationalökonomin. Sie war für Heidegger ein Rückhalt, als er sich von der katholischen Kirche entfernte, als der Ruhm über ihn hereinbrach, und in der Zeit der Verfolgung nach dem Krieg. Sie sorgte für Lebensumstände, die es Heidegger ermöglichten, ruhig zu arbeiten. Auf ihre Initiative hin wurde die Hütte in Todtnauberg gebaut. Es ist wahr, früher als Heidegger wurde sie zur Nationalsozialistin. Aber Heidegger hat seine eigenen Gründe für seinen ‘Machtrausch’. Bei ihr spielten die Ideen der Frauenemanzipation eine große Rolle, Fortschritte auf diesem Gebiet versprach sie sich von der nationalsozialistischen Revolution. Aber anders als Heidegger, der ihr darin nicht folgte, teilte sie auch die rassistische und antisemitische Ideologie der Nazi-Bewegung. Sie hing dem Nationalsozialismus länger an als ihr Mann.“ (S. 418 f.)

Dies ist, wie gesagt, die harmlose Variante. Anton M. Fischer formuliert da schärfer. Er schreibt über Elfride Heidegger, geborene Petri: „Ohne sie wäre Heidegger kaum Nazi geworden.“ (S. 60) „Im Gespräch mit seiner menschlich reiferen Frau, die […] an einer höheren Mädchenschule evangelische Religion unterrichtet, beginnt Heidegger sich endgültig vom anerzogenen Katholizismus zu befreien. […] Durch Elfride wird er zur Lektüre Martin Luthers und Friedrich Schleiermachers animiert.“ (S. 76) „Von der konfessionellen Enge befreit er sich […] nicht auf eigene Faust, sondern im Schlepptau der energischen Ehefrau, von der er inzwischen total abhängig geworden ist. Sie bildet generell für den im praktischen Leben Unbeholfenen die stärkere psychologische [sic] Realität. Weil er so rasch zum Atheisten und rabiaten Antiklerikalen mutiert und sich im Alter wieder von katholischen Theologen hofieren läßt, wird die wichtige protestantische Phase in der Regel kaum beachtet.“ (S. 80)
Fischer verweist auch auf die Folgen, die die Wendung Heideggers von Katholizismus über den Protestantismus zum Nationalsozialismus bzw. Atheismus hatte: „Mit dem ewigen Wahrheitsschatz der Kirche verschwindet das Gegengewicht ganz, das Heideggers Egoismus ohnehin nie richtig in Schach halten konnte: ‘Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’, das hatte er schon als Theologiestudent nicht richtig verstanden.“ (S. 83) „Wenn Heidegger […] Abschied vom System des Katholizismus nimmt, ist er im wesentlichen der Mensch geworden, den [!] er für den Rest seines Lebens auch bleiben wird: voller Ressentiment, unterwürfig und ehrgeizig, aber auch hochmütig, überheblich und ausbeuterisch; ein Mensch, der sich nie entspannt zurücklehnen kann, auch wenn er noch so große Erfolge feiert.“ (S. 84)
Dies alles ist nicht ohne den Einfluss Elfrides geschehen. Anders als Sanfranski sieht Fischer die Ehe der Heideggers nicht in rosigem Licht: „Heideggers Ehe hatte die hochfliegenden Pläne beider Partner sehr bald enttäuscht. Er hat nur sein Werk und seine Karriere im Kopf und überläßt Elfride die praktischen Dinge des Alltags. […] Heidegger verdiente wenig, so daß Elfride als Lehrerin die finanzielle Hauptverantwortung tragen musste.“ (S.130) „Kurz nach der Geburt [von Hermann, ihrem Kind aus der außerehelichen Beziehung mit mit Friedel Caesar] nimmt Elfride ihr Studium wieder auf, was Heidegger überhaupt nicht paßt. […] Schließlich muß sie den Plan, ihr Studium abzuschließen, endgültig aufgeben, weil die Mehrfachbelastung ihre Kräfte übersteigt. Damit bleibt ihr nur die Position der Frau im Hintergrund, die die Größe des Mannes überhaupt erst möglich macht.“ (S. 131) „Die Ehefrau hält seine Verbindung zur Welt aufrecht, besorgt ihm Wohnungen und Häuser, Stehlampen und Mäntel, 1933 auch ein Auto, füllt Steuererklärungen aus und beschafft das nötige Geld. Sie hält ihn sozusagen in der Welt […]. Der berühmte Philosoph steht privat unter dem Pantoffel der Ehefrau. Er wird kontrolliert und gelegentlich wie ein Schuljunge abgekanzelt und, auch vor anderen, bloßgestellt.“ (S. 145) Seinen auch brieflich gern vorgebrachten Liebesbeteuerungen zum Trotz "lebt er völlig an seiner Ehefrau vorbei, kümmert sich kaum um sie und übernimmt keine Verantwortung für die Familie. Er führt ein Junggesellen leben, das auf der Ausbeutung der materiellen Ressourchen der Ehefrau beruht. Seine Affären streitet er so lange ab, bis er sie nicht mehr leugnen kann und zerstört [so] das Vertrauen seiner Ehefrau unwiderruflich.“ (S. 146)

Fischer zu Folge hat Elfride ihren Martin nicht nur zum Protestantismus geführt: „Eindeutig ist, daß der große Philosoph im Schlepptau seiner Ehefrau zum Nationalsozialismus gelangt ist.“ (S. 236) „Von Anfang an übernahm sie die Rolle als Vermittlerin zur praktischen Alltagswelt und schirmte ihn willig von der Unbill konkreten Existierens ab, über das er so schön zu schreiben wußte. Die Enttäuschung über den liebesunfähigen Gatten verwandelte schließlich ihre erkaltete Liebe in Herrschsucht und das zwanghafte Bedürfnis ihn zu kontrollieren. Ihre Machtphantasien kann sie jedoch nicht allein und von sich aus verwirklichen, dazu braucht sie ihn als Delegierten, und diese Rolle übernimmt er willig. / Als politisches Instinktwesen hat sie vermutlich früh erkannt, daß sich die Ambitionen ihres Mannes für eine totale Umwälzung der deutschen Universität, wenn überhaupt nur im Nationalsozialismus erfüllen können. Die momentane Kongruenz beider Interessen nützt sie resolut aus.“ (S. 251)
Fischer fasst die Bedeutung Elfride Heideggers für Martin Heidegger so zusammen: „Heidegger war ein Leben lang ein ängstlicher Mensch ohne Zvilcouage, der niemandem in die Augen sehen konnte und sich immer wieder den Autoritäten unterworfen hat. Er hat nie einen Konflikt ausgetragen, war nie ein fairer Kämpfer, der der mit offenem Visier ficht, sondern ein Intrigant: Seine Stärke waren die Denunziationen. Nicht eine einzige Situation ist verbürgt, in welcher er Mut bewiesen hätte, aber sehr viele, in denen er gekniffen hat. […] Auch der Durchbruch seiner Gewaltphantasien unter der Ägide der nationalen Erhebung ändert nichts daran: Gefahren liebte er nur in der Theorie. Er braucht die Sicherheit, die er so verachtet, und seine energische Ehefrau garantiert sie ihm. Sie war die Starke und Mutige, sie gehört zum starken Geschlecht. […] Sie bleibt Nationalsozialistin, auch als dies niemand mehr gewesen sein wollte.“ (S.446)

 

VII.

Von Elfride Heidegger zurück zu Martin Heidegger — und vielleicht auch ein bisschen zu Günther Anders. Denn die besonders Feinhörigen unter Ihnen werden vielleicht immer dann, wenn von Martin Heidegger die Rede war, auch daraufhin hingehört haben, ob sich das Gesagte in irgendeiner relevanten Weise auch auf Günther Anders beziehen ließe. Tatsächlich sind die Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten von Lehrer und Schüler trotz allem Trennenden, das sich in den Vordergrund drängt, verblüffend. Man denke nur an die beherrschenden Themen der Geschichte als Verlustgeschichte und der Technik als Bedrohung des Menschseins. Was Anton M. Fischer dazu über Heidegger schreibt, lässt sich, so meine ich, ohne viel Schwierigkeiten auch auf Günther Anders anwenden: „Seine Kulturkritik erinnert allzu sehr an das Klagelied der Altersstarren, die mit dem Tempo der Veränderungen nicht zurechtkommen. Das reaktionäre Element schlägt aber dialektisch in ein geradezu avantgardistisches Bewußtsein der ökologischen Fragen um, indem er zugleich eine Hellsichtigkeit bezüglich der Folgen einer schrankenlosen Ausplünderung der Natur entwickelt, die damals einzigartig war.“ (Fischer, S. 608)

Nicht zuletzt aber ein auf je verschiedene Weise konzipierte und praktizierter Über-Atheismus ist es, der an beiden festgestellt werden kann. Für beide, Heidegger wie Anders, war nahezu jeder Gottesbegriff, besonders aber der der christlich-jüdischen Tradition, eine unerträgliche Zumutung. Beide, Heidegger wie Anders, waren konstitutionell unfähig, etwas oder jemanden anzuerkennen, der ihrer Grandiosität Grenzen hätte setzen und ihnen gar so etwas wie Demut hätte abverlangen können. Für beide, Heidegger wie Anders, hat das im Philosophischen erhebliche Konsequenzen. Beide, Heidegger wie Anders, scheitern im Ethischen.
Heidegger weigerte sich bekanntlich, eine Ethik zu schreiben, und man wird sagen dürfen (und hat es gesagt), dass aus seinem Denken auch keine abzuleiten wäre. Anders war zwar ein fanatischer Moralist, gestand aber zu, dass er seine Moral nicht begründen konnte.
Wohlgemerkt, hier soll nicht behauptet werden, dass Atheismus notwendigerweise ethisch defizient und von einer atheistischen Position aus keine Ethik zu formulieren oder zu praktizieren wäre. Ich möchte lediglich andeuten, dass die zunächst persönlichen, dann aber ins Philosophische spielenden Gründe, die Heidegger und Anders gar nichts anderes als Atheisten sein lassen konnten, auch Gründe dafür sind, dass sie ohne begründete philosophische Ethik auskommen wollten und auskommen mussten.

Ich will dies hier nicht weiter vertiefen — zumal ich Ihre Aufmerksamkeit schon sehr lange strapaziere. Aber ein Them möchte ich kurz noch anreißen, das Thema der Angst. Beide, Heidegger wie Anders, sind leidenschaftliche Angstliebhaber. Heideggers große Hymnen an die Angst in „Sein und Zeit“ und in „Was ist Metaphysik?“ sind berühmt und berüchtigt: „Angst offenbart das Nichts.“ (Heidegger 1978, S. 111) „In der hellen Nacht des Nichts der Angst ersteht erst die ursprüngliche Offenheit des Seienden als eines solchen: daß es Seiendes ist und nicht Nichts.“ (ebd., S. 113)

Auch Günther Anders ist ein großer Freund der Angst. Erklärtermaßen will er Hoffnung verhindern und Angst machen. Er verkündet: „Ich glaube Hoffnung ist nur ein anderes Wort für Feigheit. […] Nein, Hoffnung hat man nicht zu machen, Hoffnung hat man zu verhindern. Denn durch Hoffnung wird niemand agieren. Jeder Hoffende überläßt das Besserwerden einer anderen Instanz. […] Aber in der Situation, in der nur Selberhandeln gilt, ist ‘Hoffnung’ nur das Wort für Verzicht auf eigene Aktion.“ (in: Bissinger, S. 32f.) An anderer Stelle sagt Anders: „[…] was uns vor allem fehlt ist, ist ‘freedom to fear’, das heißt: die Fähigkeit, angemessene Angst, dasjenige Quantum an Angst aufzubringen, das wir leisten müßten, wenn wir uns von der Gefahr, in der wir schweben, wirklich frei machen, also die ‘freedom from fear’ wirklich gewinnen wollen. Worum es geht, ist also: to fear in oder to be free; Angst zu haben, um frei zu werden; oder um überhaupt zu überleben.“ (ebd., S. 258)
Es ist hier nicht die Gelegenheit, diese persönliche und philosophische Faszination durch Angst weiter zu verfolgen und ihre je besonderen Konsequenzen für das Denken von Anders und Heidegger zu analysieren. Wer aber über Anders, Heidegger, Gott spricht, so wie ich hier, wird, wenn er schon einmal auf diese merkwürdige Vorliebe der beiden atheistischen Angstmacher gestoßen ist, gut daran tun, im Gegenzug zuletzt auch ein Wort des Evangeliums nach Matthäus zu zitieren, das da lautet: „Fürchtet euch nicht!“ (Mt 28,10 et al.)

 

Vortrag am 15. Mai 2010 in Marburg und am 6. November 2010 in Wien.


Verwendete Literatur (Auswahl):

Adorno, Theodor W.: Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt a.M. 1964
Anders, Günther: Ketzereien, München 1996 [Originalausg. 1982]
Anders, Günther: Über Heidegger. Herausgegeben von Gerhard Oberschlick, München 2001
Bissinger, Manfred (Hg.): Gewalt — ja oder nein. Eine notwendige Diskussion, München 1987
Bourdieu, Pierre: Die politische Ontologie Martin Heideggers, Frankurt a. M. 1988 [frz. 1988]
Braun, Hans-Jürg (Hg.): Martin Heidegger und der christliche Glaube, Zürich 1990
Byung Chul-Han: Martin Heidegger, München 1999
Dries, Christian: Günther Anders, Paderborn 2009
Fischer, Anton M.: Martin Heidegger — der gottlose Priester. Psychogramm eines Denkers, Zürich 2008
Fischer, Norbert und Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hg.): Heidegger und die christliche Tradition, Hamburg 2007
Gadamer, Hans-Georg: „Die religiöse Dimension“ [1981], in: Gesammelte Werke 3, München 1999 [Originalausg. 1987], S. 308-319
Gadamer, Hans-Georg: „Heidegger und die Soziologie“ [1979/85], in: Gesammelte Werke 10, München 1999 [Originalausg. 1987], S. 46-57
Gethmann-Siefert, Annemarie und Pöggeler (Hg.): Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt 1988
Gethmann-Siefert, Annemarie: Das Verhältnis von Philosophie und Theologie im Denken Martin Heideggers, Freiburg 1974
Heidegger, Martin und Welte, Bernhard (hg. von Alfred Denker und Holger Zabrowski): Briefe und Begegnungen, Stuttgart 2003
Heidegger, Martin: „Was ist Metaphysik?“, in: ders., Wegmarken, Frankfurt a.M. 21978 [1.Aufl. 1967]
Löwith, Karl: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart 1986
Ott, Hugo: Martin Heidegger. unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt a.M. 1992 [urspr. 1988]
Steiner, George: Martin Heidegger. Eine Einführung, München 1989 [am. New York 1978]

 

 
Schwarz, weiß und grau PDF Drucken E-Mail

Im Jahre 1948 erschien in den Vereinigten Staaten von Amerika ein Buch mit dem Titel „Sexual Behavior in the Human Male”, wörtlich übersetzt: „Sexuelles Verhalten beim menschlichen Männchen”. Auf deutsch kam diese Studie 1963 unter dem Titel „Das sexuelle Verhalten des Mannes” heraus und wurde bekannt als „Der Kinsey-Report”. 1953 erschien dann „Sexual Behavior in the Human Female”, also „Der Kinsey-Report zum sexuellen Verhalten der Frau” (1964).
Als Autor beider Werke, an deren mehrjährigen Vorarbeiten viele Männer und Frauen beteiligt gewesen waren, firmierte Alfred C. Kinsey, ein Zoologieprofessor der Indiana University in Bloomington. Bevor er sich dem Thema der menschlichen Sexualität zugewandt hatte, war Kinsey auf das Studium der Gallwespe spezialisiert, „eines kleinen Insekts, von dem er auf ausgedehnten Reisen in den USA, Mexiko und Guatemala Hunderttausende von Exemplaren sammelte. In seinem Labor untersuchte er sie dann unter dem Mikroskop auf 28 verschiedene Merkmale, um ihre Entwicklungsgeschichte aufzuzeichnen. Diese jahrelange Arbeit machte ihn schließlich zur ersten Autorität auf seinem engen Gebiet. Er war aber auch ein geschätzter Dozent und publizierte ein erfolgreiches allgemeines Lehrbuch der Biologie.” (Haeberle, S. 230)
Privat war Kinsey stets eher still und unauffällig. 1894 in Hoboken, New Jersey geboren, hatte er 1920 an der renommierten Harvard University promoviert, ein Jahr später heiratete er und übernahm 1929 die Professur in Bloomington. Bei seinen Kollegen und anderen Bekannten recht beliebt waren Kinseys kleine Barbecue-Partys, bei denen der honorige Gelehrte es sich nicht nehmen ließ, selbst für die musikalische Unterhaltung zu sorgen, indem er mittels Plattenspielers ein sorgfältig ausgewähltes Musikprogramm hören ließ.
Als die Leitung der Indiana University Alfred Kinsey im Jahre 1938 darum bat, einen Kurs über „Ehe und Familie” (vgl. „Partnerschaft und Beziehungskrisen”) zu übernehmen, machte er sich so gewissenhaft, wie er nun einmal war, an die Arbeit. Die vorhandene Literatur zum Thema erschien Kinsey völlig unzureichend. Als Wissenschaftler wollte er sich nicht mit Meinungen und Vorurteilen begnügen, sondern bestand auf empirisch überprüften Tatsachenangaben. Er verwarf alle bisherigen einschlägigen Untersuchungen, weil sie auf viel zu kleinen und nicht-repräsentativen Stichproben beruhten, und machte sich selbst ans Werk.

Weiterlesen...
 
Abi-Rede 2010 PDF Drucken E-Mail

Liebe ehemalige Mitschüler, liebe ehemalige Mitschülerinnen!
Arschficken, Fußpilz, Abtreibung, Steuerhinterziehung mittels Schwarzgeldkonten in Liechtenstein oder der Schweiz: Es gibt Dinge, über die spricht man nicht. Jedenfalls nicht immer und überall, sondern nur an bestimmten Orten und bei bestimmten Gelegenheiten, also etwa nicht in geselliger Runde und nicht aus feierlichem Anlass.
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat einmal behauptet, wovon man nicht sprechen könne, darüber müsse man schweigen. Meine eigene Devise ist jedoch eine andere. Sie lautet: Was ich angeblich nicht sagen darf, darüber müssen wir unbedingt mal reden.
Zumal die Grenze zwischen dem in Gesellschaft Sagbaren und dem in Gesellschaft Unsagbaren auch die Grenze von Anstand und Unanständigkeit ist, von Normalität und Abweichung, von Konformität und Dissidenz. Ratet mal, wofür ich mich hier entscheide.

Weiterlesen...
 
Abi-Rede 2005 PDF Drucken E-Mail

Hochverehrte ehemalige Lehrerinnen und Lehrer! Liebe ehemalige Mitschülerinnen und Mitschüler! Liebe Unbekannte! Liebe halbwegs Wiedererkannte!  Liebe eigentlich noch nie richtig Gekannte!  Liebe vielleicht irgendwann doch noch einmal Kennenzulernende!
Um ehrlich zu sein, auf diese Rede freue ich mich schon, seit ich zum ersten Mal davon erfahren habe, dass einige von uns es dankenswerterweise auf sich genommen haben, diese Feier und alles, was dazugehört, zu organisieren. Selbstverständlich dachte ich zunächst keineswegs daran, dass man mich wirklich auffordern werde, in Erinnerung an meine Rede zur Abi-Verleihung vor zwanzig Jahren, heute wieder zu euch zu sprechen. Aber auch nur mit dem Gedanken daran zu spielen und mir zu überlegen, was ich wohl zu sagen hätte, war für mich schon sehr reizvoll. Vor fünf Tagen nun hat mich das Organisationskomitee plötzlich von sich aus darum gebeten, dass ich heute eine Rede halte, und mir damit, ohne es zu wissen, meinen heimlichen Herzenswunsch erfüllt — wofür ich euch, liebe Organisatorinnen und Organisatoren, ebenso herzlich danken möchte, wie ich euch, wohl im Namen von uns allen, dafür danke, dass ihr all die großen und kleinen Mühen des Organisierens auf euch genommen habt.
Liebe Ehemalige! Ich finde es wunderbar, dass ich hier und heute zu euch sprechen darf und dass ihr mir zuhört. Denn das bedeutet ja zunächst vor allem, dass ihr heute hier seid, dass ihr also kommen konntet und vor allem auch kommen wolltet.
Denken wir an dieser Stelle mit Bedauern, vielleicht aber auch mit Zuversicht an die, die nicht kommen konnten, weil sie schon für immer von uns gegangen sind. Denken wir mit Freundlichkeit an die, die gerne gekommen wären, aber nicht kommen konnten. Denken wir mit Nachsicht an die, die nicht kommen wollten, obwohl sie hätten kommen können. Und denken wir mit ein wenig Unbehagen an die, von denen wir nicht wissen, ob sie kommen hätten können oder kommen hätten wollen, und von denen wir es einfach deshalb nicht wissen, weil sie nicht erreicht werden konnten, weil wir die Verbindung zu ihnen verloren haben.
Liebe Ehemalige! Dass ich zu euch sprechen darf und dass ihr mir zuhört, finde ich aber selbstverständlich nicht nur deshalb wunderbar, weil ihr mir zuhört, sondern sehr wohl auch, weil ihr mir zuhört. Ich denke nämlich schon, dass ich euch, dass ich uns etwas zu sagen habe.
Meine lieben ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschüler, ich habe nie aufgehört, einer von uns zu sein — und dass, obwohl ich, als wir noch miteinander zur Schule gingen, nie ganz einer von euch war. Ich war anders. Nun war zwar ganz gewiss jeder und jede von uns irgendwie anders. Aber mir kam und kommt es aus meiner Sicht eben doch so vor, als sei mein Anderssein ganz besonders anders gewesen.
Wenn es nicht so pathetisch klänge, könnte man sogar durchaus sagen, ich war ein Außenseiter. Das hatte verschiedene Gründe, aber keine Angst, ich werde uns allen nicht die Peinlichkeit antun, diese Gründe hier und jetzt zu erörtern. Sagen wir der Einfachheit halber nur rasch: Ich war Österreicher unter Norddeutschen, Katholik unter Protestanten, irgendwie Fremder unter irgendwie Einheimischen, ich war Einzelgänger unter Geselligen, Spielverderber unter Mitspielern, Fußgänger unter Radfahrern, ich war Bücherwurm unter Realitätstüchtigen, Querdenker unter Geradlinigen, heranwachsender Schwuler unter heranwachsenden Heterosexuellen. Nichts davon, oder fast nichts, war für sich genommen eigentlich etwas Besonderes, und auch alles zusammen wäre kein Grund gewesen, mich aus einem allgemeinen Wir auszuschließen. Und tatsächlich wurde ich auch gar nicht ausgeschlossen, sondern ich hielt mich vielmehr von selbst immer ein bisschen abseits und manchmal vielleicht sogar ganz schön weit abseits.
Liebe Ehemalige, ich finde es wunderbar, dass ihr mir hier und jetzt zuhört, denn ich erzähle euch von mir, um euch etwas über euch zu erzählen, insgesamt also doch etwas über uns. In meiner Rede vor zwanzig Jahren sagte ich (ich darf mich zitieren): „Ich kann Begriffe wie Klassengemeinschaft oder Ähnliches nicht ausstehen, aber die Ausgrenzung von Minderheiten, die zuweilen nur aus einem oder einer einzigen bestehen, ist eine überflüssige Erscheinung und spricht weder für unser Erziehungs-, noch für das zugehörige Gesellschaftssystem.“ (Ende des Zitats.)
Nun, ich habe auch heute noch eine entschiedene Abneigung gegen gewisse Kollektivbegriffe und ihre Ansprüchen auf Zuordnung, Einordnung und Unterordnung. Und das vorherrschende System von Mehrheiten und Minderheiten, von Toleranzen und Intoleranzen, von ängstlichen Abgrenzungen und freudigen Unterwerfungen ist mir heute möglicherweise noch mehr zuwider als vor zwanzig Jahren. Aber angesichts gewisser Entwicklungen in unseren Gesellschaften seither muss ich auch feststellen, dass wir damals wohl offenkundig das Glück hatten, geradezu in einem im Rückblick golden schimmernden Zeitalter eines wechselseitigen Geltenlassens aufwachsen zu dürfen.
Gewiss, auch wir hatten selbstverständlich unsere Sympathien und Antipathien, auch bei uns gab es Zugehörigkeiten und Ausgrenzungen. Wir unterschieden uns, wie ich es in meiner damaligen Rede nannte, in „Gesellschaftsbejaher“, „Gesellschaftsveränderer“ und „Gleichgültige“, in „Körnerfresser“ und „Dosenbiertrinker“, in „Neurotiker“ und „Psychotikern“, in „Sportler“ und „Bewegungschaoten“, in „Leisungsorientierte“ und solche, die mit geringstmöglichem Aufwand (auf die billige Tour, wie manche Lehrer es nannten) ihr schulisches Auskommen finden wollten. Diese und noch viel mehr Unterschiede also gab es und wir nahmen sie oft auch sehr wichtig.
Keineswegs war also alles Friede, Freude, Eierkuchen, aber mir scheint heute, es war auch noch keineswegs ein Konkurrenzkampf der kollektiven und pseudoindividuellen Identitäten auf Leben und Tod. Auch bei uns hat es, um konkret zu werden, durchaus eine Rolle gespielt, wer welche Klamotten anhatte, aber wir waren doch weit entfernt (wenn in Wirklichkeit wohl auch nur ein paar Jahrgänge weit) von dem Markenwahn und Konsumterror, mit dem heutige Jugendliche sich konfrontiert sehen. Auch bei uns gab es sehr wohl Wohlhabendere und weniger Wohlhabende, aber an allgemein ausgeprägten Klassendünkel kann ich mich nicht erinnern. Auch bei uns war in den politischen Diskussionen eine mehr oder minder deutliche Polarisierung nach dem Rechts-links-Schema zu erkennen, aber trotz der Präsenz rechtskonservativer Lehrer und Schüler waren unter uns zum Beispiel ausländerfeindliche Sprüche keineswegs gang und gäbe — übrigens zugegebenermaßen wohl auch deshalb nicht, weil es unter uns kaum Ausländer gab.
Verkläre ich mit dem, was ich hier skizziere, die Vergangenheit? Oder habe ich einfach nur nicht viel mitbekommen von dem, was wirklich abging? Wie gesagt, ich bin mir völlig bewusst, dass auch wir unsere Vorlieben und Abneigungen hatten und bereit waren, sie zu äußern und gegebenenfalls hart und ungerecht durchzusetzen. Aber wir waren, scheint mir, mitunter durchaus auch bereit, Anderes gelten zu lassen — zumindest eher dazu bereit, als es seither nicht nur unter Jugendlichen, sondern eben auch in der Gesellschaft insgesamt üblich geworden ist. Während heute oft bestenfalls die Gleichgültigkeit der einen die jeweils anderen davor schützt, etikettiert, diskriminiert und abqualifiziert zu werden, glaubten die meisten von uns damals noch an den Wert der Toleranz.
Meine lieben ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschüler, wenn ich, was ich gern tue, solchen, die damals nicht dabei waren, davon erzähle, was für ein im Grunde menschenfreundlicher Haufen wir, die wir dann 1985 unser Abi machten, doch eigentlich waren, erzähle ich zuweilen folgende Anekdote. Zu Beginn des Schuljahres 1983/84 wurden alle Schülerinnen und Schüler der elften Klassen in der großen Sporthalle versammelt und jeder und jede musste sich einem der angebotenen Sportkurse zuordnen. Es gab da Fußball, Volleyball, Basketball, Leichtathletik, manches was ich vergessen habe und selbstverständlich einen Tanzkurs. Für gewöhnlich bestand ein solcher Tanzkurs nur aus Mädchen. In jenem Jahr aber nahm ich, als der Kurs aufgerufen wurde, meinen Mut zusammen, stand auf, ging zu den Mädchen hinüber und schloss mich dem Kurs an. Das war selbstverständlich recht Aufsehen erregend und wurde auch durchaus mit Johlen quittiert. Aber ich habe diese Entscheidung nie bereuen müssen, und das aus zwei Gründen.
Zum einen war es für mich selbstverständlich sehr viel angenehmer, meine totale bewegungstechnische Inkompetenz im gemütlichen Kreis netter Mädchen, von denen ich im Übrigen nichts wollte, ausüben zu müssen als inmitten meiner oft erstaunlich konkurrenzgeilen und sich und einander unter Leistungsdruck setzenden Geschlechtsgenossen. Folgerichtig habe ich dann in den sechs Oberstufen-Halbjahren vier Tanzkurse absolviert (darunter sogar einen mit mexikanischer Folklore) und nur notgedrungen auch zwei Volleyballkurse besucht.
Der andere Grund, dass ich meine ungewöhnliche Wahl nie bereute, war der, dass ich nie ungut auf sie angesprochen wurde, dass mir nie Äußerungen über mich zu Ohren kamen, die mich deswegen als unmännlich oder gar weibisch qualifiziert hätten und erst recht keine, die explizit schwulenfeindlich gewesen wären. Vielleicht hat es derlei hinter meinem Rücken gegeben, das kann ich naturgemäß nicht wissen. Mein Eindruck war und ist aber, dass die allgemeine Einstellung zu dieser zugegeben nebensächlichen Angelegenheit mehr oder minder die war: „So ist das eben, der Stefan macht es sich leicht, soll er doch, er ist ja auch sonst niemand, der dauernd zwanghaft seine Männlichkeit beweisen will oder hartnäckig hinter den Mädels her ist, jetzt tanzt er eben mal ein bisschen mit ihnen rum.“ — Später folgten dann übrigens einige wenige Jungs meinem Beispiel.
Das Entscheidende an dieser von mir immer wieder gern erzählten Anekdote ist für mich, dass diese es einfach gelten lassende Einstellung einem ungewöhnlichen Verhalten gegenüber — wenn es sie denn wirklich gegeben hat — keineswegs selbstverständlich war. Nur ein Jahr später zum Beispiel wurde einem Jungen, der wie ich regelmäßig Tanzkurse an Stelle eines „normalen“ Sportunterrichtes belegt hatte, von seinen Jahrgangskollegen in der Abi-Zeitung 1986 ausdrücklich die Geschlechtsumwandlung empfohlen …
Liebe ehemalige Mitschülerinnen und Mitschüler, ich meine, wir waren da doch anders, denn zumindest ich war anders und irgendwie ein Außenseiter, aber zugleich eben auch nicht völlig ausgegrenzt oder abgewertet oder ignoriert. Auch deshalb freue ich mich ja, hier und jetzt zu euch sprechen zu dürfen, weil das daran erinnert, dass ich dasselbe schon vor zwanzig Jahren tun durfte. Dass ich damals als einziger Schüler von zwar nicht allen übrigen Schülerinnen und Schülern des Jahrgangs, aber doch immerhin vom verantwortlichen Organisationskomitee als Redner auserkoren wurde, verstand und verstehe ich als die bescheidene Ehrung meiner Person und ihrer Eigentümlichkeiten, die es wohl auch war. Im Laufe unserer gemeinsamen Schuljahre war ich gerne für euch Klassensprecher, Conférencier bei Bunten Abenden, Kurssprecher, einer der sieben Schulsprecher, Redner bei der Abitur-Verleihung und Bühnenkasper beim Abi-Ball. Nicht nur, weil derartige Funktionen meiner Eitelkeit schmeichelten, was sie naturgemäß auch getan haben und bis heute tun, sondern eben auch deshalb, weil es mich damals freute und bis heute freut, dass dadurch ein Außenseiter eben nicht bloß Außenseiter blieb, sondern, zumindest in Maßen, einer von uns wurde.
Meine lieben ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschüler, selbstverständlich habe ich hier und jetzt vor allem deshalb die Erinnerung an die Vergangenheit beschworen — mag sie nun von mir wahrheitsgetreu wiedergegeben oder mehr oder minder gut erfunden worden sein — um euch aufzufordern, heute und in Zukunft ebenso zu denken, zu empfinden und zu handeln, wie ich meine, dass ihr es damals getan habt, gern getan hättet oder immerhin hättet tun sollen. Ich schlage also vor: Lassen wir einander gelten!
Wir haben gute Gründe dafür. Rund um dieses zwanzigjährige Jubiläum unserer Reifeprüfung wird ja unter uns gewiss viel davon die Rede sein, was jeder und jede von uns so erlebt hat, was aus jedem und jeder geworden ist. Dann sollten wir, wenn möglich, daran denken, dass bekanntlich nicht Erfolg oder Glück oder auch nur Gesundheit das Wichtigste im Leben ist, sondern Liebe. Und weil es mit Sicherheit viel zu viel verlangt wäre, dass wir alle einander lieben, könnten wir uns vielleicht immerhin aber doch auf eine Annäherung an das Lieben verständigen: Lassen wir einander gelten!
Liebe Ehemalige, ich komme nun zum Ende meiner Rede, die ja fast ein bisschen eine Predigt geworden ist. Wahrscheinlich ist es damals kaum jemanden aufgefallen und heute wird sich wohl niemand mehr daran erinnern, aber meine Rede zur Abiturverleihung 1985 hatte ich ausdrücklich einem unserer Mitschüler zugeeignet, Sebastian Schupfner, der heute leider nicht hier sein kann. Auch diese Rede widme ich ihm — ihm und allen, die mich schon bisher in freundlicher Erinnerung behalten haben oder sich zumindest von heute an fest vornehmen, genau das zu tun.
Meine Lieben, ich danke euch für eure Aufmerksamkeit und wünsche uns allen einen schönen Abend, eine gute Nacht und dann irgendwann ein Wiedersehen — sei es in zehn Jahren, sei es früher, sei es später, sei es in diesem Leben oder sonstwo. Und als letzten Satz dieser Rede zitiere ich nun den letzten Satz meiner Rede von damals, genau genommen eine Regieanweisung: „Tosender, nicht enden wollender Beifall.“

Diese Rede wurde 2005 bei der Feier aus Anlass des 20-Jahre-Jubiläums des Abiturs von Schülern und chülerinnen des Albert-Einstein-Gymnasiums zu Buchholz in der Nordheide gehalten.

 
Weitere Beiträge...
<< Start < Zurück 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Weiter > Ende >>

Seite 10 von 11
Joomla template by a4joomla