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Abi-Rede 1985 PDF Drucken E-Mail

Wenn ich ehrlich bin, freue ich mich schon seit mindestens zwei Jahren darauf, eine Abi-Rede zu halten. Na klar, denkt man zunächst, eine unwiederbringliche Gelegenheit, endlich mal vor breitem Publikum so richtig vom Leder zu ziehen, mal ein paar harte, aber treffende Worte über das sogenannte Erziehungssystem zu verlieren, über die Bonzen, die kleinen Rädchen, überall die Käuer und Wiederkäuer. Und da gäb’s ja auch wirklich ein paar hübsche Stories zu erzählen.
Aber dann fragt man sich: „Junge, was soll’s? Wenn Du bisher deiner Biolehrerin nicht die Meinung gesagt hast, hat’s jetzt auch keinen Zweck. Und wenn Du’s hast, warum nochmals die unnütze Mühe, der pädagogische Effekt ist doch gleich null!“
Also habe ich für diese Rede die zur gewohnheit gewordene Antihaltung aufgegeben und mir alle Bosheiten versagt. Schließlich bleiben ja, selbst wenn man von vornherein alle beschönigende Heuchlerei ausschließt, noch immer genügend Themen: von der unermüdlichen Arbeit der Putzfrauen, über die Unfähigkeit, den Alu-[Abfall]-Behälter auch wirklich mit Aluminium zu füllen, bis hin zu tiefschöpfenden psychologischen Studien über die verschiedensten Spezies von Lehren, Eltern und Schülern – die aufopferungsvollen Sekretärinnen und den imposanten Hausmeister nicht zu vergessen.
Das alles wäre zwar dankbares Material für die Dissertation eines angehenden Soziologen oder Psychiaters, sprengte aber in seiner Vielfalt den Rahmen dieser Rede, und für bloß einen Aspekt ist mir diese Gelegenheit zu schade.
Was also bleibt nach so vielen Ausschließungen, worüber kann man sprechen in dieser schicksalsvollen Stunde vielleicht letzten Zusammenseins und einer ungeahnten Zukunft?
Man merkt, jetzt werde ich sentimental.
Wenn man in diesen Tagen oder Wochen, in denen man zwar keinen Unterricht mehr genießt, aber immer noch Schüler dieses Institutes ist, im trauten Freundeskreis zusammenkommt, wenn man dann vielleicht des süßen Weines (es kann auch Flaschenbier sein) genießt, gerät man vielleicht in wehmutsvolle Stimmung. Mir, lieber Mitschüler, ist es zumindest so ergangen. Dann kann es wohl auch schon mal sein, dass man einen Blick zurückwirft, mit einem lächelnden und einem feuchte Auge.
„Weißt du noch, heißt es dann“, „könnt ihr euch noch erinnern, damals als wir noch zur Schule gingen …“ Das graue Gebäude, sein miefiger und doch so vertrauter Geruch, der einen morgens begrüßte, Lehrersprüche, Schülerrepliken, das Zählen der Klassenbucheintragungen, Schlachten mit dem Tafellappen, Aktionen wie die Besetzung des allerheiligsten, des Lehrerzimmers, am 11. 11. in der 11 Klasse, der heiß umfehdete Deutsch- und der bohrend interessante Biologie-Unterricht … - all das und viel, viel mehr fällt einem dann wieder ein. Ganz besonders Schwermütigen aber erscheint die eben zuende gegangene Schulzeit als eine Kette versäumter Möglichkeiten.
Ich meine damit nicht die Einsicht, die es sicherlich auch gibt, daß man hätte mehr lernen können oder müssen. Ich meine all die ungenützten Gelegenheiten des Kennenlernens, all die unnützen und unvermeidlichen Antipathien.
Nach dem offiziellen Teil dieses Vormittages wird man wohl wieder ein interessantes Phänomen beobachten können. Ich meine nicht die Anhäufung von Menschen am kalten Buffet. Ich meine die durch ein Spannungsfeld aus Sym- und Antipathien erzeugte Gruppenbildung. Wie Eisenfeilspäne in einem Magnetfeld werden sich Schüler, Eltern und Lehrer zusammenfinden, scheinbar zufällig, tatsächlich aber nach den Grundsätzen eines mehr oder minder ausgeprägten Gruppenbewußtseins.
„Gruppenbildung“, werden Sie sagen, „das gibt’s doch überall.“ Aber wie lächerlich sind die Gründe, aus denen immer mehr Minderheiten und immer weniger Toleranz entstehen. Nicht die Zensuren sind es etwa, wie Außenstehende meinen könnten, die Schüler von Schülern trennen (wiewohl es auch da Anfeindungen gibt), eher schon scheiden sich die Leisungsorientierten von denen, die mit geringstmöglichem Aufwand (auf die billige Tour, wie manche Lehrer es nennen) ihr schulisches Auskommen finden wollen.
Es scheiden sich die Gesellschaftsbejaher von den Gesellschaftsveränderern und den Gleichgültigen. Körnerfresser von Dosenbiertrinkern. Neurotiker von Psychotikern. Sportlern von Bewegungschaoten. Die Dummen von den Häßlichen. Und so weiter und so fort.

Ich kann Begriffe wie Klassengemeinschaft o. ä. nicht ausstehen, aber die Ausgrenzung von Minderheiten, die zuweilen nur aus einem oder einer einzigen bestehen, ist eine überflüssige Erscheinung und spricht weder für unser Erziehungs-, noch für das zugehörige Gesellschaftssystem.

Wenn ich darum eine Botschaft an die uns nachfolgenden Jahrgänge zu richten hätte, so wäre es die des 1. Johannesbriefes: Wir sollen einander lieben. Das gehörte in den Grundstein geritzt und nicht eine mathematische Formel.
Wir sollen einander lieben und ich sollte jetzt langsam ein ende finden. Immerhin diese rede kein ausgeklügeltes Kunstwerk, sondern das zusammengeschusterte Produkt eines langen Nachmittages, einer halben Kanne überstarken Tees und des nachdrücklichen Wunsches von Hans-Henning [Schmidt], die Abi-Zeitung vollzukriegen. Wer aber könnte schon die Gedanken aus dreizehn Schuljahren in einer einzigen rede von akzeptabler länge vereinigen? Ich nicht.
Dreizehn Jahre. Über den Daumen gepeilt ergeben alle erlebten Schulstunden zusammen ungefähr ein Jahr, ein Jahr von null bis vierundzwanzig Uhr Schule. Wer vierzehn oder gar fünfzehn Jahre hinter sich hat, holt das meist mit Fehlstunden wieder rein.
Dreizehn Jahre. Folgen sind noch unabsehbar. Kollektive und individuelle Spätschäden. Wer in Zukunft um 9.34 Uhr oder 12.29 Uhr auf sein Handgelenk blickt, wird wohl noch oft denken. „Ah, gleich Pause!“
Das Schlimmste aber ist, daß man in fünf oder zehn Jahren alles vergessen haben wird, daß dann die eigenen Kinder manchen von uns in die Rolle der unwissenden Eltern drängen werden. Und dann diejenigen von uns, die die aller Erfahrung, allem Wissen zum Trotz Lehrer werden wollen: Gott vergebe ihnen.
Wie wird das sein, wenn wir erst sagen: mit dem Typen bin ich zur Schule gegangen.
Aber wiewohl diese dreizehn Jahre immerhin so nützlich waren, mir überflüssige Illusionen zu nehmen, hege ich zwei starke Hoffnungen. Zum einen, möglichst viele von euch in ein paar Jahren wiederzusehen. Zum anderen, daß ihr, liebe Mitschüler, und Sie, werte Pädagogen, denen ich hiermit öffentlich verzeihe, mich dahin in angenehmer Erinnerung behaltet.
Ich danke für die allgemeine Aufmerksamkeit.
(Tosender, kaum enden wollender Beifall.)

Diese Rede wurde 1985 bei der Verleihung der Abitur-Urkunden an Schülerinnen und Schüler des Albert-Einstein-Gymnasiums zu Buchholz uin der Nordheide gehalten.

 
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