Über Edward Saids „Am falschen Ort“ Drucken

Vielleicht ist dieses Buch denen, die eine umfangreichere und gründlichere Kenntnis des Werkes von Edward Said haben als ich (wozu nicht viel gehört), eine Handreichung zum besseren Verständnis seiner Texte. Mir hingegen ist, bei aller Faszination des „Exotischen“, im Verlauf der Lektüre nicht immer einsichtig geworden, warum eigentlich diese Darstellung einer Kindheit und Jugend veröffentlicht wurde. Dass Said seine Erinnerungen aufschrieb (womit er begann, nachdem er von seiner Krebserkrankung wusste, an der er auch starb), mag eine persönliche Berechtigung haben. Aber was gehen sie welche Leser an? Etwa neun Zehntel des Buches scheinen mir von ganz privaten Dingen zu handeln, der Rest ist sozial- und zeitgeschichtlicher Kontext und Selbstanalyse. Letzteres mag das Interessantes an dem Text sein, das worauf alles hinausläuft. Doch was geht es mich denn an, wie behütet, reglementiert, von der Welt abgeschottet Saids Kindheit war? Wen interessiert es, mit wem er wann wo zur Schule ging? Welche seiner Verwandten wann wo wohnten? Wie sein Verhältnis zu seiner Mutter, seinem Vater, seinen Schwestern war oder ist?
Das alles wird immer wieder recht ausführlich erzählt — wie wohl stets diskret und unaufgeregt und nie exhibitionistisch —, ist aber, so scheint mir, nur reichliches Beiwerk. Das eigentliche Thema (oder vielmehr Motiv) dieser autobiographischen Erzählung ist schon im Titel gegeben: Out of place. Das bedeutet, meine ich, nicht ganz dasselbe wie „Am falschen Ort“. (Wie denn überhaupt die Übersetzung zuweilen Schwächen hat.) Nicht der Ort ist falsch, sondern der, der sich dort befindet, gehört nicht hin. Wie ein in Jerusalem geborener Protestant palästinensisch-libanesischer Herkunft nicht nach Kairo oder Beirut zu gehören scheint oder ein zum Teil britisch erzogener Araber trotz amerikanischem Pass nicht nach Amerika.
Diese Erfahrung einer grundsätzlich und unaufhebbaren Fremdheit und Unzugehörigkeit ist wohl der Grund, warum das Buch geschrieben wurde, eben weil sie auch ein wesentliches Motiv des wissenschaftlichen wie politischen Schreibens Edward Saids überhaupt sein dürfte. Er selbst spricht von „Anti-Autoritarismus, dem Wunsch, ein aufgezwungenes Schweigen zu durchbrechen, vor allem jedoch dem Bedürfnis, sich auf eine Art Urzustand alles miteinander Unversöhnlichen zurückzuziehen und dabei eine ungerechte etablierte Ordnung zu zerschlagen und zu verjagen“.
Fehl am Platz zu sein ist dabei eine zunächst wohl schmerzliche, schließlich aber auch höchst produktive Erfahrung. Said schreibt: „Heute scheint es mir nicht wichtig oder gar wünschenswert, am ‘richtigen’ Ort zu sein (etwa zu Hause). Besser ist es, fehl am Platz durch die Welt zu wandern, kein Haus zu besitzen und sich nirgends allzu sehr zu Hause zu fühlen (…).“
So ergibt sich für mich am Ende der Lektüre ein anderer Eindruck als mittendrin: Was in der Breite eine private Erzählung ist, verweist im Weiteren auf politische und erkenntnismäßige Dimensionen und bekommt schließlich sogar eine ganz besondere philosophische Tiefe: „Gelegentlich erlebe ich mich selbst als ein Gewirr fließender Strömungen. Ich ziehe das der Vorstellung eines festen, stabilen Ichs vor, jener Identität, der so viele so viel Bedeutung beimessen. Diese Strömungen fließen wie die Themen eines Lebens durch die wachen Stunden und bedürfen im besten Fall keinerlei Versöhnung und Harmonisierung. Sie sind ‘abwegig’ und vielleicht am falschen Ort, aber zumindest sind sie immer in Bewegung — in Zeit und Raum, in allen nur möglichen eigenartigen, veränderlichen Kombinationen, die sich nicht unbedingt vorwärts bewegen und manchmal auch gegeneinander gerichtet sind —, kontrapunktisch, aber ohne zentrales Thema. Ich würde das gerne als eine Art von Freiheit verstehen, obwohl ich keineswegs wirklich davon überzeugt bin, dass es sich darum handelt. In meinem Leben gab es so viele Dissonanzen, dass es mir inzwischen lieber ist, am falschen Ort zu sein.“
Das sind die letzten Worte des Buches und seine schönsten. Für sie allein hätte sich schon die Lektüre gelohnt; die über 400 Seiten davor scheinen mir vor allem nötig zu sein, um einen Eindruck davon zu bekommen, was Said mit den Dissonanzen meint. Vielleicht würde das noch deutlicher, wenn es eine zweiten Teil seiner Erinnerungen gäbe, in denen der streitbare und einflussreiche Literaturwissenschaftler von den wissenschaftlichen Kontroversen und politischen Konflikten seiner zweiten Lebenshälfte hätte erzählen können. Dazu ist es nicht gekommen. Doch auch so scheint mir die zitierte Passage wie eine Skizze von Edward Saids persönlich unterlegtem intellektuellem Vermächtnis.

Edward W. Said: Am falschen Ort. Autobiografie, Berlin 2000 (im Original: Out Of Place. A Memoir, New York 1999)