Anmerkungen zum Vortrag WMSDSLM Drucken

Nach einem Vierteljahrhundert — früher hätte man sagen können: einer Generation — auf einen eigenen Text zurückzublicken, hat, jedenfalls für mich, etwas Überraschendes. Ich vergesse leicht, was ich einmal geschrieben habe, und bin, wenn ich später wieder darauf stoße, oft überrascht, wie dumm oder wie klug ich war, wie wohlgeraten oder wie wenig durchdacht meine Formulierungen mir heute vorkommen. Zum Glück verändert man sich im Laufe der Zeit, verändert sich auch im Denken, in den Auffassungen und Überzeugungen, aber eben auch im Vermögen oder Unvermögen, diese je nach Gelegenheit auszusprechen. Es ist darum nicht Selbstverliebtheit, wenn ich einen alten Text von mir wieder zu Hand nehme, sondern Versuch der Selbsterkenntnis. Ich bin mir selbst fremd geworden und betrachte mich nahezu von außen. Was wusste ich früher schon, was nicht, was meinte ich damals zu wissen, das ich heute nicht mehr weiß, welche Mittel wandte ich an, was kam dabei heraus? Da überrascht es mich manchmal, wie sich gewisse Dinge von damals bis heute durchhalten (immerhin fast über die Hälfte meines Lebens) und wie anders manches geworden ist. Ich entdecke an meinem damaligen Text (und damit an mir als seinem Autor) gewisse Manierismen und Marotten, aber auch einiges an bemerkenswertem Vermögen, bin von manchem beschämt, von anderem amüsiert, von einigem sogar erfreut. Das ist nicht so belanglos, wie man meinen könnte. Die Beschäftigung mit einem alten eigenen Text hilft mir womöglich, mich selbst besser zu verstehen. Und da ich meine, dass Philosophie nichts anderes ist als der Versuch, das eigene Verständnis der grundlegenden Dinge anderen verständlich zu machen — und was wäre für einen grundlegender als sein Selbstverständnis? —, verstehe ich meine Auseinandersetzung mit mir selbst (in Gestalt eben des besagten alten Textes) als etwas, das auch andere interessieren könnte, wenn sie sich denn überhaupt für mein Denken zu interessieren vermögen.

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Die äußeren Umstände, wie es zu dem Vortrag „Wie man sich denkt, so liebt man“ kam, sind rasch erklärt. 1993 hatte ich vor dem Sommer zum ersten Mal an einem Filmabend der „LesBiSchwule Gewi-Gruppe“ teilgenommen. (Die Kontraktion „LesBiSchwul“ war eine Vorläuferin von LGBTIQ*. Gewi die Abkürzung für „Geisteswissenchaftliche Fakultät der Universität Wien“; an der Fakultät, an der ich damals Philosophie studierte, der grund- und integrativwissenschaftlichen, oder irgendeiner anderen gab es keine Entsprechung, weshalb die Gewi-Gruppe Anlaufstelle für Studierende der verschiedensten Studienrichtungen war.) Ab dem Herbst nahm ich dann an den Treffen der Gruppe teil. Gleich am ersten Abend war ich von dem Reflexionsniveau unangenehm überrascht. Ich erinnere mich vor allem an zwei anscheinend konsensfähige Behauptungen, nämlich einmal, dass Männer, die Klappen aufsuchten (also Sex mit anderen Männern in öffentlichen Toiletten suchten und fanden) ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Homosexualität hätten, zum anderen, dass man, wenn man in einer festen Beziehung sei, keinen anderen mann mehr ansehen, geschweige denn attraktiv finden dürfe. So viel Spießertum fand ich entsetzlich, nahm es aber hin, weil ich abwarten wollte, ob in einer solchen Gruppe nicht doch auch andere Diskussionen, reflektiertere, wissenschaftlich und politisch avanciertere stattfinden könnten. Leider musste ich rasch feststellen, dass das Interesse der allermeisten Teilnehmer und Teilnehmerinnen an den Gruppentreffen eher und nahezu ausschließlich den sozialen Aspekten des Studierens galt und nicht, wie ich gehofft hatte, dem Bemühen um eine wie auch immer geartete Bezugnahme der jeweiligen Studieninhalte auf den Themenkomplex Homosexualität. Ich unternahm noch den Versuch, durch einen von mir geschriebenen, aber auf mehrere Leser zufällig verteilten Text über „Homosexualität und Wissenschaft“ eine Diskussion über eben diese beiden Themen und deren Verhältnisse anzustoßen, scheiterte aber. Schließlich nahm ich immer seltener an Treffen teil. Zuletzt aber, schon 1994, schlug ich, gleichsam als letzten Versuch einer akademischen Aktivität der Gruppe, den anderen vor, ob man nicht eine Vortrags- und Diskussionsreihe organisieren könnte, um der Gruppe an der Universität Aufmerksamkeit zu verschaffen. Erstaunlicherweise wurde der Vorschlag angenommen. Zwar richtete sich dann die meiste Energie auf die Frage, wo man die Abschlussfeier veranstalten und ob es zur Eröffnung eine Cocktailparty geben solle, aber zusammen mit einem Studenten aus Berlin gelang es mir doch, einige Vortragende einzuladen, Vorträge zu vereinbaren und Veranstaltungsorte (meistens Hörsäle) zu organisieren. Und wenn ich schon dabei war, setzte ich mich selbst auf die Liste. Warum mein eigener Vortrag nicht in Räumen der Universität stattfinden sollte, sondern im sogenannten Galerieraum des Café Berg, der den Übergang zur Buchhandlung Löwenherz bildete, weiß ich nicht. Vielleicht erwartete man wenige Zuhörer. Es kamen allerdings dann mehr, als der Galerieraum fassen konnte.
Leider konnte ich, weil ich meinen eigenen Vortrag vorbereiten musste, nur an wenigen Veranstaltungen der „LesBiSchwulen Aktionstage 1994“ (oder hießen sie „Uni-Woche“?) teilnehmen. Ich erinnere mich noch an einen unterhaltsamen Workshop über Safer Sex mit einem reizenden Medizinstudenten und an einen Vortrag von Frank M. Amort. — Zu den Treffen der Gruppe ging ich übrigens danach nicht mehr. Einmal mehr hatte sich für mich erwiesen, dass ich nicht gruppenkompatibel bin. Es war mein letzter Versuch, mich in (schlecht) organisierter Form innerhalb dessen zu engagieren, was man im weitesten Sinne als „Homosexuellenbewegung“ nennen könnte; danach beschränkte ich mich aufs geschriebene und gesprochene Wort.

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Zur Vorbereitung meines Vortrages ging ich auch einmal mehr in die Buchhandlung Löwenherz und fragte dort Andreas Brunner, Jürgen Ostler und den aus dem Café Berg herbeigeholten Leo Kellermann (und ich meine, auch Hannes Sulzenbacher sei dabei gewesen, bin mir aber nicht sicher) nach Texten über Homosexualität, die weder belletristisch, noch historisch, noch soziologisch, noch psychologisch, noch literaturwissenschaftlich seien. Solche Texte kannte ich ja in recht großer Zahl. Ich hätte aber gern „etwas Philosophisches“ gehabt. Ein großes Nachdenken und Suchen hub an, leider ohne das gewünschte Ergebnis. (Andreas Brunner gab mir später die Fotokopie der in „Lettre international“ erschienenen Übersetzung von Leo Bersanis „Is The Rectum A Grave?“; von da datiert mein Interesse an Bersani.) Ich erwähne das, um zu zeigen: Selbst hochkompetente Vielleser und versierte Buchhändler hatten damals (1993/94) anscheinend noch nichts von „Queer Theory“ gehört. Judith Butlers „Gender Trouble“ war zwar schon 1991 auf Deutsch als „Unbehagen der Geschlechter“ erschienen, wurde vermutlich eher als Beitrag zum Feminismus betrachtet. (Ich selbst hatte das Buch erst 1993 entdeckt. Butler hielt dann übrigens am 17. Mai 1994 einen Vortrag in Wien, dem ich zuhörte.) Wenn ich mich richtig erinnere, kaufte ich den berühmten „Gay and Lesbian Studies Reader“, den „blauen Ziegel“, wie ich ihn nannte, zu reduziertem Preis beim ersten Abverkauf der Buchhandlung Löwenherz; die eröffnete 1993, der Abverkauf der Ladenhüter kann also wohl nicht vor 1994 geschehen sein. Mit anderen Worten: Obwohl ich damals einiges an literarhistorischer und allgemeinhistorischer und auch an sozio- und psychologischer Literatur rezipiert hatte, fühlte ich mich bei dem, was ich vorhatte, nämlich einem explizit philosophischen Nachdenkern über (männliche) Homosexualität ziemlich alleingelassen und auf mich selbst verwiesen. Das heißt nicht, dass ich dem bis dahin Gelesenen nichts verdanke, im Gegenteil, aber die Schlüsse, die ich aus dem zog, was ich verstanden zu haben meinte, erschienen mir als ganz und gar meine eigenen.

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Der Stil des Vortrages ist, wenn ich ihn heute wiederlese, um das mindeste zu sagen: eigenartig. So schreibt man nicht, wenn man sich im akademischen Feld bewegt (wozu hier ausnahmsweise auch einmal der damals noch bestehende Galerieraum des damals noch existierenden Café Berg gezählt sei), schon gar nicht, wenn man darin reüssieren will. Mir war das egal. Ich hatte nichts zu verlieren und erwartete nicht, etwas zu gewinnen. Darum nahm ich mir die Freiheit, Inhalt und Form auf neue Weise aufeinander zu beziehen. Ich versuchte damals, Theorie und, wie ich sie verstand, Literatur zu verbinden: Theorie mit literarischen Mitteln sozusagen. Anstelle argumentativer Diskursivität sollte ein Mosaik von assertorischen Fragmenten entstehen. Man könnte auch von einer kaleidoskopischen oder sogar stroboskopischen (Gedankenblitze!) Textform sprechen.
Diese wählte ich nun nicht, weil ich keine Argumente hatte, sondern weil ich auf langwierige Herleitungen verzichten wollte: Behauptung, nicht Begründung, Präsentation von Resultaten an Stelle des Weges dahin war mein Anliegen. Ich wollte anscheinend eher überfallen als überzeugen, wohl auch auf Grund der Erfahrung, noch selten überzeugt zu haben mit dem, was ich mir so denke.
Ich erarbeitete also eine Form der Organisation des Textes, die diesen in thematische Serien zerlegte, deren Einzelteile dann in einer chaotisch scheinenden, aber bestimmter Regel folgenden Reihenfolge dargeboten wurden: 17 Abschnitte der Reihe A, 16 der Reihe B, 15 der Reihe C usw. bis zu einem Abschnitt R, insgesamt 153, so aufeinander folgend, dass in jeder Reihe die Abstände je nachdem größer oder keiner wurden. Ähnliche Modelle verwendete ich später immer wieder, verwende sie bis heute. Texte so zu organisieren, erlaubt es, die Anordnung ihrer verschiedenartig Bestandteile willkürlich erscheinen zu lassen, obwohl sie mathematischen Regeln folgt: Der Leser erlebt Unordnung, der Verfasser hat ein System, das Zahlenspielereien und Zahlenmystik gestattet. (Die Zahl 153 stammt aus dem Johannesevangelium: Kapitel 21, Vers 11.)
Beim Schreiben des Textes war es freilich nicht so, dass erst ein ganzer Text oder eine Textreihe entstand und dann zerlegt wurde. Vielmehr entstanden die Textstücke in unregelmäßiger Folge im Hinblick auf die Vorgaben des Verteilungssystems. Was ab und zu dazu führte, dass mehr absichtliche Bezugnahme aufeinanderfolgender Stücke gibt, als es die Regeln eigentlich verlangten.
Dass der Vortragstext einige Zitate bietet, ohne jede genau Quellenangabe, ist übrigens selbstverständlich eine Parodie des akademischen Wahns, nur das mit Zitaten abgestützte Denken sei berechtigt.

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Was aber nun das betrifft, was ich damals sagte, so bin ich nicht völlig unzufrieden. Schon damals war ich offensichtlich gegen Identitätswahn und Zerebralismus, für ein körperliches Denken und freie Orientierung. Bemerkenswert finde ich den Untertitel: Zur metaphysischen Konstruktion sexueller Orientierung. Vielleicht löste ich mit meinem Text das damit Versprochene nicht ein, dass ich aber überhaupt von Metaphysik, Konstruktion und sexueller Orientierung (und eben nicht bloß sexueller Identität) sprach, damals schon, erstaunt mich. Meinen Begriff der Metaphysik meinte ich erst später erarbeitet zu haben: Die Beschäftigung mit dem Grundlegenden, das dem Denken und Handeln vorausliegt und es daher bestimmt. Indem ich aber 1994 schon von metaphysischer Konstruktion, und nicht etwa bloß von sozialer, sprach, meinte ich genau das: Welche Voraussetzungen hat der Gedanke der sexuellen Orientierung, was wird implizit mitgedacht, wenn von Homo- und Heterosexualität geredet wird? (Dabei sind Homo- und Heterosexualität allerdings zwei Ausdrücke, die im Vortrag ostentativ nicht vorkommen.)
Die metaphysische Konstruktion liegt der sozialen noch einmal voraus (nicht zeitlich, sondern der Sache nach). Sozial konstruiert, anders gesagt: im Miteinander der Menschen als Erfahrbares bewirkt, ist alles, was nicht als „naturwüchsig“, als außergesellschaftlich erfahren wird; damit ist streng genommen alles sozial konstruiert, denn der Mensch ist immer in Gesellschaft (wie ich auch schon damals sagte), und auch das, was er auf den Begriff der Natur oder des Natürlichen bringt, widerfährt ihm nur als gesellschaftliches Wesen. In der Natur gibt es keinen Begriff der Natur. Und auch wenn nicht alles vom Menschen gemacht (und insofern „natürlich“ ist), so ist doch die Art und Weise, wie das so Gegebene und Gebrauchte verstanden wir, niemals außergesellschaftlich. Schon weil Denken und Reden der von anderen erlernter Sprache bedarf.
Metaphysische Konstruktion verweist nun darauf, dass die (produktiven) sozialen Praktiken, die und deren Effekte als soziale Konstruktion beschrieben werden können, zugleich Implikationen haben, die außerhalb ihrer philosophischen Analyse niemals explizit werden müssen, aber dennoch als der am meisten allgemeine Rahmen des Verstehens, diesem seine Form geben.
In diesem Sinne kann, um Beispiel zu geben, das Vorhandensein von Samen- und Eizellen und die Erfordernis, diese zusammenzubringen, wenn ein neues Lebewesen entstehen soll, als natürliche Gegebenheit betrachtet werden. Man darf da den Beschreibungen der Biologie durchaus vertrauen, solange man bedenkt, dass Biologie nichts Natürliches ist, sondern als Wissenschaft menschliche, nämlich gesellschaftlich organisierte Praxis. Sexualität in dem genannten Sinne mag natürlich sein, wie in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit darüber gedacht wird, was Männer ausmacht, was Frauen ausmacht und was jemand entsprechend seiner Geschlechtszugehörigkeit tun (und fühlen) darf oder muss, ist nicht natürlich, sondern durch ineinandergreifende, Regelmäßigkeiten ausbildende menschliche (und also näher gesellschaftlich organisierte) Praktiken bestimmt. Anders gesagt: durch soziale Konstruktion.
Einmal mehr soll hier nebenbei gegen das Vorurteil vorgegangen werden, „sozial konstruiert“ bedeute als „lediglich sozial konstruiert“ so viel wie: „nicht richtig real“ und „jederzeit wieder veränderbar“. Mein Gegenbeispiel ist da stets der Eiffelturm. Dieser ist mit Sicherheit nicht natürwüchsig, nämlich irgendwann einfach aus dem Boden gewachsen. Er wurde vielmehr zweifellos von Menschen in komplex aufeinander bezogenen Handlungen beschlossen, geplant und gebaut. Er ist damit eindeutig ein soziales Konstrukt. Und gerade deshalb eben sehr real, man kann sich sogar den Kopf daran stoßen. Ihn abzubauen wäre sehr aufwändig, und es ist ziemlich unwahrscheinlich dass es passiert. Er gehört heute zu Paris als dessen Wahrzeichen und ist fester Bestandteil der Realität von Bewohnern und Touristen.
Zurück zur metaphysischen Konstruktion. Während die soziale Konstruktion also Wirklichkeit erzeugt, betrifft die metaphysische Konstruktion sozusagen die Bedingungen der Möglichkeit solchen Konstruierens. Wie muss Wirklichkeit verstanden werden, damit es möglich und sinnvoll erscheint, etwas Bestimmtes zu tun? Etwa ein riesiges Stahlgerüst mitten in eine Stadt zu setzen. Welche Konzepte von Stadt, von technischer Schönheit, von menschlicher Leistungsfähigkeit usw. liegen dem zu Grunde? Oder, da ja nicht historisch (ideengeschichtlich) gefragt werden soll, sondern metaphysisch: Welche Konzepte müssen derlei zu Grunde liegen, damit es als überhaupt als machbar und wünschenswert gelten kann?
Mein Begriff der Metaphysik nähert sich, vielleicht vermittelbar über den Begriff des historischen Apriori, den foucaldischen Begriffen Archäologie und Genealogie an. Während aber Foucault seine Empirie im Archiv sucht, um das Zustandekommen bedingten Wissens innerhalb von Wahrheit produzierenden Diskursen zu untersuchen, sind die Erfahrung, von der ich ausgehen will, die real existierenden Diskurse selbst, und zwar in ihrer zum Teil widersprüchlichen Mannigfaltigkeit, nicht nur als wissenschaftliche. Mich interessiert nicht so sehr, wie etwas, das aktuell als richtig gilt, zu dieser Geltung gekommen ist (obwohl ich mich darüber gern belehren lasse), sondern was es bedeutet, wenn es gilt, was vorausgesetzt werden muss, damit es gelten kann, und was das für Folgen hat, was dann also noch gilt.
Die ersten und letzten Dinge, die allgemeinen Prinzipien, die traditionell der Metaphysik als ihre Gegenstände zugedacht werden, sind, wie ich meine, immer nur im Hier und Jetzt gegeben. Ihre „Apriorizität“ findet jetzt statt, kann nur jetzt als Wirklichkeit erfahren werden. Der Zugang zu dem, was war (also auch die Historisierung des Apriori), muss von der Gegenwart aus gesucht werden (die im nächsten Augenblick selbst schon vergangen sein wird). Jede Geschichte über die Wirklichkeit wird nachträglich erzählt und ist somit nur als gegenwärtige Erfahrung verständlich.
Das alles war mir selbstverständlich 1994 noch weniger klar als heute, fünfundzwanzig Jahre später, wo ich offensichtlich immer noch um Klarheit ringe. Umso erstaunlicher, dass ich den Ausdruck „metaphysische Konstruktion“ in den Untertitel setzte; ich scheine etwas geahnt und gewollt zu haben, auch wenn von Metaphysik dann im Text gar nicht explizit die Rede ist.
Wovon aber die Rede ist, ist Denken, Orientierung, Identität, Gesellschaft, Herrschaft, Utopie, Moral usw. usf. Dabei gelingen mir, wie ich finde, durchaus knackige Formulierungen: „Man ist immer in Gesellschaft.“ (Ein Satz, der mir geblieben ist.)
„Die Gesellschaft, verstanden als die Gesamtheit der Beziehungen zwischen den Menschen …“
„Denken ist Abenteuer im Körper.“
„Individualität ist das am wenigsten Individuelle, da sie doch jedem Individuum zukommt, also allen gemeinsam ist. Eine individuelle Identität ist ganz und gar nichts besonderes.“
„Moralisch zu handeln heißt: so wie gedachte oder wirkliche andere zu handeln, so wie diese gehandelt haben oder handeln würden. Moral ist Gewohnheitssache. Sie besteht nicht so sehr aus Werten, Normen, Regeln – sondern aus dem erlernten Gefühl für das Zulässige.“
„Utopien sind Geschichten von Reisen an Orte, an denen niemand je war. Sie schildern Verhältnisse, die den hiesigen deshalb nicht gleichen, weil sie sie kritisieren.“
„Natur wird gedacht.“
Usw. Usf.
Ich finde in dem 25 Jahre alten und in vielem fremd gewordenen Text Themen wieder, mit denen ich bis heute umgehe: Wie geschieht Herrschaft, wie ist Freiheit möglich, was ist überhaupt Gesellschaft, wie ist andere Gesellschaft denkbar, wie kommt die Herrschaft ins Subjekt, was bedeutet Sexualität, was ist wünschbar (begehrenswert), wie kann das Denken gegen das Bestehende arbeiten, in welcher Sprache, mit welchen Texten? Meine Antworten sind heute nicht unbedingt die gleichen wie damals, aber sie stammen aus denselben Versuchen der Orientierung.
Was mir an dem Vortragstext fehlt, ist das Thema Religion und der Begriff der Person. Das hat wohl biographische Gründe, die hier nicht interessieren. Denselben Text heute verfassend, würde ich versuchen, von einer sehr ähnlichen Kritik an Identität und Individualität ausgehend, den Anderen, das personale Gegenüber, kurz: dich, zum Anlass zu nehmen, nach der Gesellschaft und ihren Verhältnissen zu fragen, die nichts als das wirkliche Verhalten aller sind, und mich ebenfalls an Begriffen wie Begehren, Utopie, Geschichte, Ordnung und Freiheit von Herrschaft abarbeiten und, die Schwierigkeit des Sagens thematisierend, Geschlechter und Geschlechtlichkeit in dem so entworfenen Feld situieren.
Im Grunde versuchte ich ungefähr das schon damals. Es scheint mir nicht besonders gut gelungen. Aber wer zuhören wollte (und auch heute müsste man den Text eher hören als lesen), wird schon den einen oder anderen Gedanken auf den einen oder anderen Gedanken bezogen und etwas von ihrem Zusammenhang erahnt haben. Damals ging nicht vielmehr, heute eigentlich auch nicht.