Über Raimund Bahrs „Günther Anders. Leben und Denken im Wort“ Drucken

Der biographische Essay zu Günther Anders, den Raimund Bahr nach langjähriger Forschungs- und Schreibarbeit vorgelegt hat, wird denen, die etwas Einblick in die Entstehungsgeschichte haben, wohl vor allem als persönliches Dokument der Annäherung, der Aneignung, der weiterdenkenden Verarbeitung erscheinen. Hier hat jemand einen Autor für sich entdeckt, den er sehr schätzt und dem er sich so sehr verbunden fühlt, dass er seinen Lebensgeschichte nacherzählen möchte. Insofern hat das Buch sozusagen zwei Protagonisten, einmal den Biographierten, aber eben auch den Biographierenden.
Allerdings erzählt der Text keineswegs die Geschichte von Bahr mit Anders, sondern will zunächst durchaus im Stil einer klassischen Biographie den Andersschen Lebenslauf rekonstruieren, wozu manches an Literatur und Archivalien ausgewertet wird. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Kindheit und Jugend, die Eltern und sogar die beiden Schwestern bekommen eigene Kapitel. Die folgenden Jahrzehnte hingegen scheinen dem Biographen offensichtlich weniger interessant, vielleicht sind sie aber auch einfach noch weit weniger gut erforscht. Für die Wiener Jahre zum Beispiel, immerhin fast die Hälfte von Anders Leben, bleibt nur ein knappes Viertel des Buches.
Freilich will „Leben und Denken im Wort“ ohnehin keineswegs bloß eine nüchterne Aneinanderreihung von Daten und Fakten sein. Wer je Raimund Bahr über Günther Anders sprechen gehört hat, kennt die Leidenschaft, mit der sich da ein Leser mit einem Autor, dessen Texten und eben auch dessen Lebensgeschichte befasst. Diese Leidenschaftlichkeit ist auch die Stärke der vorliegenden Biographie — und bedingt deren Schwächen. Er stelle keinen philosophischen Kontext her, hatte Bahr schon 2009 ankündigend erklärt, das interessiere ihn nicht, er sei kein Philosoph. Man muss leider sagen, dass man das dem fertigen Text auch anmerkt. Nicht alles kann nun aber damit gerechtfertigt werden, der Biograph sei von seiner Ausbildung her Historiker und nicht Psychologe oder Philosoph. Die Biographie enthält nämlich sehr wohl einige psychologisierende und viele philosophierende Abschnitte. Und die gehören nun eher zu den schwächeren Passagen des Textes.
Denn auch wenn man Bahrs Darstellung von Günther Anders „Leben und Denken im Wort“ vor allem als Dokument einer persönlichen Auseiandersetzung versteht, fallen nebst einigen stilistischen Unebenheiten auch gewisse sachlichen Mängel ins Auge — die übrigens mit Hilfe eines guten Lektorat, das unbedingt auch ein philosophisch Fachlektorat hätte sein müssen, vermutlich zum größeren Teil hätten beseitigt werden können. Leider wird durch sie der Gesamteindruck nicht unwesentlich getrübt.
Drei Beispiele von mehreren möglichen: „Hannah Arendt wird nachgesagt, sie wäre nur aus Trotz die Ehe mit Günther Anders eingegangen, um Martin Heidegger zu überwinden. Dieser Mythos hält sich nach wie vor und wird von Buch zu Buch als Legende weitergesponnen und auch von ihr selbst und von ihren Aussagen über die Beziehung heftig befeuert. Natürlich war Hannah Arendt nach der Beziehung mit Martin Heidegger aus der Bahn geworfen, natürlich suchte sie nach einem Ausweg, aber daß sie in Günther Anders nur einen Notnagel sah, ist mir sehr schwer vorstellbar. Wie auch immer.“ (S. 137) Hier wäre es zweifellos ratsam gewesen, Quellen anzugeben und deren Angaben mit Sachargumenten zu kritisieren. Wenn nämlich außer der Kompetenz der Arendt-Forscher auch Arendts Selbstdarstellung in Zweifel gezogen werden soll, so doch wohl durch mehr als den Verweis auf die Grenze des Vorstellungsvermögens eines unbeteiligten Nachgeborenen — und ein anschließendes Schulterzucken.
„[…] die Kernthesen dieses Vortrags [von Günther Anders 1929 in Frankfurt am Main] fanden über den Umweg Jean Paul Sartre (auch er hatte Heidegger genau studiert) und den von diesem und anderen französischen Intellektuellen entwickelten Existentialismus Eingang in die literarischen und philosophischen Debatten der fünfziger und sechziger Jahre.“ (S. 151) Soll man das wirklich so verstehen, dass eigentlich Anders den Existenzialismus begründet hatte und Sarte nur bei ihm abschrieb? Wenn man schon die durchaus interessante These vertritt, dass Sarte von Anders angeregt worden sei, hätte man dann nicht entweder nachweisen müssen, dass Sarte bei dem besagten Vortrag anwesend war oder zumindest die französische Fassung von 1937 jemals las?
„[Es] wird dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama applaudiert und sogar der Friedensnobelpreis verliehen, wenn er sich gegen Rüstungspläne des Iran stellt. Dabei wird jedoch übersehen, daß Barack Obama als Oberbefehlshaber einer der potentesten und gewaltbereitesten Armeen weltweit agiert.“ (S. 285) Was derlei in einem Buch über Günther Anders eigentlich zu suchen hat, ist nicht recht erfindlich. Solch halbgare Gedanken pflegt man eigentlich eher in privatem Rahmen zu äußern und sie, wenn sie einem in einen zu veröffentlichen Text gerutscht sind, beim nächsten Durchlesen wieder zu eliminieren. — Drei Beispiel von, wie gesagt, mehreren möglichen.
Gerade als mit dem Autor und seinem Engagement für Günther Anders sympathisierender Leser hätte man sich also manches an „Leben und Denken im Wort“ anders gewünscht. Zu oft setzt Bahr persönliche Einschätzungen an die Stelle auf Quellen bezogener und damit von anderen nachprüfbarer Argumente. Er entwirft auf diese Weise einen sehr speziellen Günther Anders, seinen Privat-Anders sozusagen, den er sich im Lauf mehrerer Jahre erarbeitet hat und den er so präsentiert, wie er ihn verstehen will. Das ist sein gutes Recht. Inwiefern auch andere damit etwas anfangen können, wird jeder Leser selbst entscheiden müssen. Allen Anders-Kundigen und allen Interessierten, die nach einem biographischen Zugang zu Günther Anders suchen, sei das Buch jedenfalls zur kritischen Lektüre empfohlen.

Raimund Bahr: Günther Anders. Leben und Denken im Wort, Wien 2010 (Edition Art Sience)