Ethik ohne Gewalt. Drucken

„Was würde es angesichts der Gewalt bedeuten, diese Gewalt nicht mit Gegengewalt zu beantworten?” — Judith Butler (Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a. M., 2003)

Das Unbehagen nach der Lektüre von Texten Judith Butlers, sagen manche, hänge damit zusammen, dass von der lieben Dame nie klar gesagt werde, was denn nun eigentlich zu tun sei. Besonders für viele in politischen Traditionen Wohleingerichtete hat ja Theorie die Funktion, gesichertes Wissen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit zu enthüllen, das über das bloße Meinen und Reden der Leute hinausgeht. Theorie soll die eigene Position definieren und absichern, bestimmte Vorhersagen erlauben und Argumente bzw. rhetorische Tricks bereitstellen, um den Gegner in Schach zu halten und die eigenen Leute zu motivieren und zu mobilisieren. Theorie ist so verstanden eine Bedienungsanleitung für die Wirklichkeit, mittels derer gesellschaftliche Auseinandersetzungen organisiert und dirigiert werden können.
Tatsächlich pflegen die Arbeiten Judith Butlers solche Erwartungen stets zu enttäuschen. Doch statt es als Defizit zu sehen, dass einem nicht gesagt wird, was man zu tun hat, könnte man es als „poststrukturalistische” Errungenschaft begreifen, sich vom Projekt einer alles überbietenden Letztbegründung und einer daraus abzuleitenden einheitlichen Normativität nachhaltig verabschiedet zu haben.
Individuelle Prozesse und soziale Dynamiken finden nämlich sowieso statt, die Aufgabe der Theorie besteht nicht darin, sie gängeln und in ihrem Ausgang festlegen zu wollen, sondern darin, ihre komplexe Struktur nachzuvollziehen, Zusammenhänge und Widersprüche herauszuarbeiten, Möglichkeiten und Risiken zu erörtern und es schließlich den auf diese Weise über sich und die Welt vielleicht etwas aufgeklärteren Subjekten selbst zu überlassen, wie sie sich, sofern sie können, dazu verhalten wollen.
Emanzipierte und emanzipatorische Theorie hat nicht Vorschriften zu machen, sondern die Herkünfte, Hintergründe und Folgen des Vorschriftenmachens zu beschreiben. Keine Handlungsanweisungen zu geben, heißt ja gerade nicht, alles als unvermeidlich und darum Handeln als unmöglich zu behaupten; vielmehr werden durch nicht-normative Theorie die tatsächlichen Handelnden samt der Unvertretbarkeit ihrer Entscheidungen respektiert und ihnen bestenfalls Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt, die ihnen sonst durch ihre eigene Bereitschaft, sich unhinterfragter Normativität zu beugen, verstellt blieben.
„Der Intellektuelle hat die Aufgabe, Gewißheiten zu zerstören und anerkannt Vertrautes aufzulösen, aber nicht, den politischen Willen anderer zu formen und ihnen zu sagen, was sie zu tun haben. Mit welchem Recht täte er das?” (Michel Foucault)
Eine solche ausführliche Vorbemerkung scheint notwendig, wenn man hier zur Lektüre von Judiths Butlers jüngstem auf Deutsch erschienenem Buch, der „Kritik der ethischen Gewalt” einladen will. Denn auch diese Besprechung wird keine Handlungsanweisungen aus Butlers Text herausarbeiten — es wird ihr nicht einmal gelingen, diesen Text auf den Punkt zu bringen; nur ein paar Eindrücke können hier wiedergegeben werden, um so vielleicht zum selbständigen Nachlesen und Nachdenken anzuregen.

Adorno & Co.
Die Einladung durch das Frankfurter Institut für Sozialforschung an Judith Butler, im November 2002 die ersten Theodor-W.-Adorno-Vorlesungen zu halten, stellt nach der großen Frankfurter Foucault Konferenz im Herbst 2001 und der Verleihung des Adorno-Preises an Jacques Derrida im selben Jahr den dritten Höhepunkt einer Versöhnungspolitik dar, mit der sich die Nachfahren der Frankfurter Schule, und damit ein nicht unbedeutender Teil des deutschen philosophischen Establishments, nach Jahren und Jahrzehnten der Ablehnung und Verteufelung am Ende doch mit dem Einfluss abgefunden oder gar angefreundet haben, den gewisse französische und amerikanische Theoriebildungen auf das zeitgenössische Denken ausüben.
Judith Butler ist, daran besteht kein Zweifel, die einflussreichste feministische Autorin der Gegenwart. Ihre Stärke hat schon immer auch darin bestanden, Kritik nicht zu ignorieren oder zu verwerfen, sondern mit KritikerInnen den Dialog zu suchen und die Auseinandersetzung mit Vorbehalten, Missverständnissen und Zurückweisungen, aber eben auch mit Präzisierungen, Erweiterungen und Verweisen auf Lücken und Schwächen in neue eigene Texte einzuarbeiten. Auf diese Weise gelingt es, einerseits immer wieder auf dieselben oder doch sehr ähnliche Themen zurückzukommen, andererseits diese doch immer wieder anders zu behandeln.
Butler lehrt in Berkley bekanntlich nicht Philosophie, sondern Rhetorik. Ihre Texte überlassen nichts dem Zufall, sind voller einander anspielungsreich variierender Sätze und verflechten auf oft schwierig zu verstehende Weise das, was sie als Aussagen von ihr angeführter AutorInnen präsentiert, mit dem, was sie selbst zu sagen hat. Doch im Vergleich zu den meisten ihrer bisherigen Veröffentlichungen sind die drei Adorno-Vorlesungen „Rechenschaft von sich selbst”, „Gegen die ethische Gewalt” und „Verantwortung”, die zusammen keine hundertfünfzig Seiten umfassen, sehr viel zugänglicher.
Selbstverständlich erweist Butler dem Namensgeber der Veranstaltung, Theodor Adorno, ausgiebig und durchaus glaubwürdig ihre Reverenz, doch sie unterzieht dessen moralphilosophischen Reflexionen einer anregenden Relektüre — indem sie sie mit Gedanken anderer Autoren (Foucault, Levinas, Hegel, Cavarero) versetzt.

Ethische Gewalt
Schon den Begriff der „ethischen Gewalt” entwickelt sie, obwohl er sich so bei ihm nicht findet, mit Hilfe Adornos. Einerseits geht es darum, dass wenn ein „kollektives Ethos”, also ein bestimmtes Ensemble von moralischen Vorstellungen, in einer bestimmten historischen Situation nicht mehr allgemein geteilt wird, sich dieses Ethos gewaltsam aufzuzwingen versucht, „um den Schein der Allgemeinverbindlichkeit aufrechtzuerhalten” — was auf das Gewaltsame aller Universalitätsansprüche verweist.
Andererseits, und damit in engem Zusammenhang, findet ethische Gewalt dann statt, wenn im Sinne allgemeinverbindlicher moralischer Ansprüche von den Einzelnen verlangt wird, sich selbst zwecks Rechenschaftsablegung völlig durchschaubar zu werden. „Ethische Systeme oder Moralcodes, die von der Selbstransparenz des Subjekts ausgehen oder die uns die Verantwortung für eine uneingeschränkte Selbsterkenntnis zuschreiben, neigen dazu, fehlbaren Geschöpfen eine Art ‘ethischer Gewalt’ anzutun. Wir müssen uns zwar um Selbsterkenntnis bemühen und Verantwortung für uns übernehmen, wir müssen zwar mit Einsicht über unser Tun und Lassen entscheiden, aber ebenso wichtig ist, dass wir verstehen, dass all unser Bemühen, einen Einklang mit uns selbst zu erreichen, stets durchkreuz werden wird.”
Anders gesagt: Der Mensch ist endlich, er verfügt nicht souverän über seinen eigenen Ursprung und seine eigene Geschichte. Butler zufolge muss aber gerade die Hinnahme der Begrenzungen, die das Menschliche definieren, Teil jeder Erklärung moralischer Verantwortlichkeit sein. „Leugnen wir unsere Beschränkungen, so verleugnen wir, was an uns menschlich ist.”
Gerade die Einsicht, dass man nicht jederzeit ganz der sei, der man zu sein glaube, könne umgekehrt zu einer gewissen Geduld gegenüber Anderen führen, so dass wir zunächst einmal von der Forderung abließen, dass der Andere jederzeit selbstidentisch zu sein habe. „Manchmal fassen wir das Leben eines anderen allzu schnell zusammen und gehen davon aus, dass die ethische Haltung diejenige ist und auch sein muss, die nicht nur ihre Urteilsfähigkeit unter Beweis stellt, sondern die gefällten Urteile auch rechtfertigen kann.”
Butler teil Adornos Erkenntnis, „daß das wahre Unrecht eigentlich immer genau an der Stelle sitzt, an der man sich selber blind ins Rechte und das andere ins Unrecht setzt.” Sie will darum die „Bedingungen einer Kultur der Ethik neu durchdenken” und dabei nicht außer Acht lassen, dass sich nicht alle ethischen Beziehungen auf Urteilsakte reduzieren lassen. „Ein Weg zur Verantwortlichkeit und Selbsterkenntnis liegt nun eben darin, Urteile aufzuschieben, denn die Verdammung, die Anprangerung, die vernichtende Kritik fungieren als Arten und Weisen, sehr rasch eine ontologische Differenz zwischen Urteilendem und Beurteiltem herzustellen, ja, sich selbst vom Anderen zu reinigen.”

Selbstgerecht oder verletzbar
„Was würde es angesichts der Gewalt bedeuten, diese Gewalt nicht mit Gegengewalt zu beantworten?” Vielleicht ist dies die zentrale Frage in Butlers Text. Der Versuch, sie zu beantworten, erweist sich als bedeutsam nicht nur für die ethische Praxis der Einzelnen, sondern auch als im engeren Sinne politisch. Denn wer könnte in den folgenden Formulierungen die Beschäftigung mit dem „War against Terrorism” nach dem 11. September 2001 überhören:
„Man kann immer sagen: ‘Mir ist Gewalt angetan worden, und deshalb darf ich mich verteidigen.’ Viele Gräueltaten werden im Namen der ‘Selbstverteidigung’ begangen, die an kein Ende kommt und die an kein Ende kommen kann, weil sie eine permanente ethische Rechtfertigung der Vergeltung liefert. Diese Strategie ermöglicht, die Aggression in erlittenes Leid umzubenennen und bietet damit eine unerschöpfliche Rechtfertigung der Aggression.”
Dem hält Butler entgegen: „Gewalt ist weder eine gerechte Strafe, die wir erleiden, noch eine gerechte Vergeltung für das, was wir erleiden. Sie beschreibt eine physische Verletzbarkeit, der wir nicht entrinnen können, die wir nicht abschließend im Namen des Subjekts auflösen können; diese Verletzbarkeit kann uns jedoch begreifen helfen, inwieweit wir alle nicht genau umgrenzt, nicht genau abgetrennt sind, sondern einander körperlich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, einer in der Hand des anderen. (...) Wir haben diese Lage nicht geschaffen, aber wir haben sie zu beachten.”
Verletzbarkeit und nicht Souveränität ist für Butler die Grundbedingung der Ethik. „Man will sich vor der Verletzung durch den anderen schützen, aber wenn man sich dagegen vollständig abschirmen könnte, würde man unmenschlich werden. (...) Ein Problem, wenn man Selbsterhaltung zur Grundlage der Ethik macht, liegt darin, dass die Ethik dann eine reine Ethik des Selbst, wenn nicht gar eine Form des moralischen Narzissmus wird. ‘Menschlich’ wird man, indem man am Schwanken zwischen dem Rechtsanspruch auf Unversehrtheit und der Abweisung dieses Anspruches festhält. (...) Menschlich sein scheint zu bedeuten, sich in einer Zwangslage zu befinden, die man nicht auflösen kann.”
Manche werden in dieser Vermutung den typisch postrukturalistischen Nihilismus erblicken, der Handeln unmöglich macht. Andere freilich werden bemerken, dass erst unter der Bedingung einer Unmöglichkeit das Handeln so richtig beginnt.

Dieser Text erschien in:  „Volksstimme“ (32 / 7. 8. 2003).