Anmerkungen zur „Theodizeeverweigerung“ Drucken

1. Heißt denn, sich mit Argumenten einer Theodizee zu verweigern, nicht gerade doch, sie zu betreiben? Es gar nicht zu einer Verhandlung in der Sache kommen zu lassen, sondern die Unzulässigkeit der Klage und die Unzuständigkeit des Gerichts (nämlich des menschlichen Urteilsvermögens) zu behaupten und nachzuweisen — das ist Theodizeeverweigerung. Aber sind die Argumente, die gegen die Berechtigung eines solchen Verfahrens sprechen, nicht notwendig auch solche, die für die Unschuld des Angeklagten oder seine grundsätzliche Schuldunfähigkeit plädieren?

2. Die Argumentation meiner „Kleinen Theodizeeverweigerung“ soll sowohl philosophisch („Gott übersteigt das menschliche Urteilsvermögen“) als auch theologisch sein („Wir glauben an und hoffen auf Gott“). Beides in einem milden, heiteren Sinne.

3. „Theodizee“ ist ein philosophisches Konzept (das Wort wurde bekanntlich von Leibniz eingeführt), kein theologisches. Theologie geht von der Erfahrung und damit vom Begriff der Güte und Allmacht Gottes aus, sie setzt diese beiden „Eigenschaften“ und ihre Widerspruchsfreiheit voraus und stellt sie so wenig in Frage wie das Dasein Gottes überhaupt. (Täte sie es, entzöge sie sich ihre eigene Grundlage: Ohne Offenbarung sinnvollerweise kein Glaube als Antwort darauf.)

4. Die philosophische Theodizee, die Gründe sucht, warum Schlechtes doch gut ist, und wie Gott zu rechtfertigen ist, wenn er zulässt, was nicht sein soll, da sie schon im Ansatz verfehlt ist. Gutes und Schlechtes, Sein und Sollen werden verrechnet, in der Hoffnung eine positive Bilanz zu bekommen. Aber der Mensch, der endliche menschliche Verstand hat keinen Einblick in Gottes „Buchhaltung“ und weder Möglichkeit noch Berechtigung einer Prüfung. Darum gilt es, sich jeglicher Theodizee zu verweigern. Alles andere wäre unvernünftige Anmaßung.

5. Man könnte auch einfach feststellen: Gott kann sich nicht rechtfertigen und kann auch von niemand anderem gerechtfertigt werden, weil es kein Maß gibt, an dem er gemessen werden könnte, weil es keine Norm gibt, der er zu entsprechen hätte, weil es keine Instanz gibt, vor der er angeklagt werden und die über ihn ein Urteil sprechen könnte. Gott ist das Maß, die Norm, die Instanz von allem anderen, aber er untersteht niemandem. Warum ist das so? Es kann nicht anders sein. Es ist schlechterdings mit dem Begriff Gottes gegeben.

6. Die Klage über Gottes Unzulänglichkeit („Warum lässt Gott das zu?“) setzt einen Begriff von Gott voraus, zu dem Güte und Allmacht gehören. Sonst gäbe es ja auch den von manchen behaupteten Widerspruch zwischen den beiden nicht („Wenn Gott das Übel verhindern kann, aber nicht will, ist er nicht gut, wenn er es verhindern will, aber nicht kann, ist er nicht allmächtig.“). An diesem Begriff ist sowohl philosophisch wie theologisch anzusetzen.

7. Theologie muss von einem bestimmten Begriff Gottes ausgehen, genauer gesagt: Sie muss eine Begrifflichkeit ausarbeiten, die als rationale Explikation des Glaubens die Erfahrung des unbegreiflichen Gottes dem Denken nachvollziehbar macht. Jeder Begriff von Gott verfehlt Gott, wie auch jede Vorstellung von ihm ihn verfehlt. Gott ist unfassbar. Trotzdem muss Gott vorgestellt werden, wenn man an ihn denken will, und man muss Begriffe von ihm verwenden, wenn man von ihm reden will. Solche Begriffe grenzen ab, womit man es zu tun hat, wenn man es mit Gott zu tun hat, und womit nicht. In diesem Sinne kann man sagen, dass Gott gut ist und der Urheber alles Guten, auch wenn der menschliche Verstand nie ganz erfassen kann, was das heißt. Ebenso ist kann man sagen, dass Gott die Welt geschaffen hat und erhält und dass bei ihm nichts unmöglich ist, auch wenn der menschliche Verstand nie ganz erfassen kann, was „Allmacht“ bedeutet. Güte und Allmacht gehören zum Begriff Gottes, das heißt, wenn man von Gott spricht, spricht man von dem unbedingt Guten und unbedingt Allmächtigen.

8. Der Vorwurf gegen Gott und den Abweisung dieses Vorwurfs sind sich also im Begriff Gottes insofern einig, als Gott als gut und allmächtig zu gelten hat. Allein damit wäre jedoch dem Vorwurf schon die Grundlage entzogen. Wer zugibt, dass Gott (seinem Begriff nach) gut und allmächtig ist, muss auch zugeben, dass Gottes Güte und Allmacht nicht im Widerspruch zueinander stehen können, sonst könnten sie ja nicht beide zu Gottes Begriff gehören. Der Begriff muss also entweder falsch sein — dann kann sich der Vorwurf nicht auf ihn stützen; oder er ist zwar richtig, aber ihm entspricht keine Realität, anders gesagt: Es gibt Gott gar nicht. Dann aber geht der Vorwurf erst recht ins Leere.

9. Die philosophische Argumentation unterschiedet sich davon nicht, nur dass die philosophischen Gottesbegriffe anders als die theologischen, die von der Erfahrung ausgehen, spekulativ sein können. Entscheidet man sich dafür, mit „Gott“ nicht einfach ein „höheres Wesen“, sondern das vollkommene Wesen schlechthin zu meinen, das unbedingt gut ist und für das nichts unmöglich ist, dann ist die philosophische Argumentation dieselbe wie die theologische: Ein solches Wesen kann nicht entweder gut oder allmächtig sein, es muss beides sein, oder es wäre nicht vollkommen. Oder aber ein solches Wesen existiert nicht, dann geht jeder Vorwurf an es ins Leere.

10. Allerdings stößt jede Abweisung einer Theodizee, so begründet sie theologisch und philosophisch sein mag, auf die Dringlichkeit der Verzweiflung derer, die Leid erfahren oder das Leid anderer miterleben. Ihr Unverständnis ist nicht primär intellektuell, kann also auch nicht primär rational überwunden werden. Aus seelsorgerischen Gründen muss die Theologie die Klage, die sie abweist, ernst nehmen. Der Klagende als am Übel in der Welt Leidender darf dabei nicht mit unverbindlichem Trost abgespeist werden („Für irgendetwas wird es schon gut sein“), sondern er muss gerade sein Leid als Verweis auf Gottes Liebe erfahren können.

11. Gerade aus seelsorgerischen Gründen ist jeder Vorwurf gegen Gott abzuweisen, jede Anklage zurückzuweisen. Um des Heiles seiner Seele willen muss der Zweifelnde und Verzweifelte begreifen, dass sein Leid (oder sein Mitleiden am Leid anderer) kein Argument gegen Gott ist, sondern gegen das Übel, das das Leid verursacht, und damit ein Argument für Gott, den allein Guten, der gegen das Übel ist. Jeder Versuch, sich zum Richter Gottes aufzuschwingen und ihm vorschreiben zu wollen, was er tun darf und lassen muss, muss scheitern. Nicht der Mensch ist Gottes Richter, sondern vor dem Ewigen und Barmherzigen, vor dem Allwissenden und alles zur Vollendung führenden muss sich der Mensch verantworten, auch für seinen Unglauben.

12. Welche Erfahrungen hat der, der angesichts von eigenem oder fremdem Leid, an Gott, an seiner Güte und Allmacht zweifelt, sonst mit Gott gemacht? Ist ihm Gott bisher nicht als beglückend, schützend, hilfreich erschienen? Sollte Gott sich gewandelt haben? Gerade angesichts negativer Erfahrungen gilt es, auf die positiven Erfahrungen zu vertrauen. Hält der Verzweifelnde jedoch jetzt seine frühere Erfahrungen für Täuschungen oder stellt er fest, dass er gar keine Erfahrungen mit Gott hat, die sich für unvereinbar mit seiner Verzweiflung erweisen, so ist zu fragen, von welchem Gott hier überhaupt die Rede ist, wem hier Vorwürfe gemacht werden sollen, wer hier angeklagt werden kann. Es scheint sich ja um einen bloß ausgedachten Gott zu handeln, der dann freilich ganz nach Belieben mal so, mal so verstanden werden kann. Zwischen der Verzweiflung darüber, dass einem unerträglichen Übel (etwa der tödlichen Krankheit eines Kindes) trotz inständigen Gebetes keine Abhilfe geschaffen wird, und der unverbindlichen Betrachtung über mögliche Inkohärenzen bestimmter Gottesbegriffe ist ein gewaltiger Unterschied. Der Gläubige hat es, hoffentlich, mit dem wirklichen Gott zu tun und dann eben auch damit, dass Gottes Wirklichkeit des Vermögen des Menschen übersteigt, sie zu fassen.

13. „Warum ist Gott nicht so, wie ich ihn gerne hätte?“ Wenn ich Gottes Tun und Lassen nicht verstehe, dann liegt das an mir, an meinem Unvermögen, meiner Beschränktheit, vielleicht sogar meinem Versagen, nicht daran, dass Gott an sich unverständlich wäre. Aber sein Sein übersteigt nun einmal meinen Verstand, und das muss ich annehmen, wenn ich es mit Gott (und nicht bloß einem Popanz, den ich als Gott ausgebe) zu tun haben will.

14. Welchen Gott hätten Sie den gerne? Wie müsste Gott sein, was müsste er tun, was müsste er unterlassen, damit sie mit ihm zufrieden sind? Wäre ein Gott, den Sie sich nach ihren Wünschen und (vermeintlichen) Bedürfnissen zurechtgelegt haben, wirklich ein Gott, an den Sie glauben könnten? Den Sie lieben würden, bedingungslos? Auf den sie all Ihre Hoffnung setzten, auf Gedeih und Verderb? Oder ist der wirkliche Gott nicht doch besser als ein ausgedachter, auch wenn so vieles an ihm unverständlich bleibt? Ist die Unfassbarkeit durch den Verstand nicht in gewisser Weise Garantin dafür, dass es sich nicht um einen ausgedachten, sondern um den wirklichen Gott handelt? Ein Gott, der in einer Welt voller Widersprüche und Sünde im Einklang mit dieser Welt wäre, ist kein Gott, sondern ein Popanz. Gottes Dasein widerspricht der Welt, wie sie ist, und dem, was die Leute so wollen. Gott stabilisiert nicht das Bestehende, sondern ruft zur Umkehr auf und bietet Erlösung an, ein Freiwerden von der Herrschaft der Sünde. Darum soll der Mensch Gottes Willen tun und nicht sich einen komfortablen Gott nach seinem Bilde schaffen.

15. Vielleicht kann man es als den Grundgedanken der „Theodizeeverweigerung“ bezeichnen, dass die Erfahrung des Leidens und die Erfahrung des Göttlichen insofern zusammengehören, als Leiden Erfahrung des Widerspruchs zwischen dem von Gott Gewollten und dem von Gott nicht Gewollten (aber „Zugelassenen“) ist. Gewiss erfährt der Gläubige Gott auch und vor allem in der Freude, in der Erschütterung, in der Zuversicht usw., aber er kann ihn eben auch in Leidem erfahren, im Schmerz des Widerspruchs von sein und Sollen.

16. Das Leiden als (mögliche) Gotteserfahrung zu denken, kann ein gefährlicher Gedanke sein, weil daraus der falsche Schluss gezogen werden könnte, es sei vom Gläubigen nach Leiden zu suchen, um darin Gott zu finden. Aber das Leiden als Ausdruck des Widerspruchs von Sein und Sollen soll wie dieser Widerspruch selbst nicht sein. Dass es ist, gehört zu dem, was Gott in der Vollendung aufhebt, wenn alles gut wird.

17. Auch das könnte in gefährlicher Gedanke sein, dass nach dem Ende der Zeiten von Gott alles von Gott vollendet und also gut gemacht wird. Dem ist zwar so, aber daraus darf nicht geschlossen werden, dass das Böse und das Leid nicht ernst genommen zu werden braucht. Es wird nur nicht das letzte Wort haben.

18. Wo war Gott in Auschwitz?, wird oft gefragt. Die Antwort scheint mir recht einfach: Er war beispielsweise in den Gaskammern. — Gott ist allgegenwärtig, aber sein „Platz“ ist inmitten seiner Geschöpfe, gerade auch dort, wo ihnen Unheil widerfährt. Gott, der Unveränderliche, leidet nicht in dem Sinne, wie Menschen leiden, aber man wird sagen dürfen, dass Gottes „Mitleiden“, seine Anteilnahme am Wohl und Wehe der Menschen, von denen er jeden einzelnen liebt, von Ewigkeit her zu seinem Wesen gehört. Gott ist also in Auschwitz gerade dort zu finden, wo Menschen gelitten haben, aber auch dort, wo sie ihr Gewissen ausgeschaltet hatten (oder Gewissensqualen litten). Der millionenfache Mord, für den der Name „Auschwitz“ steht, ist nicht nur ein Verbrechen an Menschen, sondern gerade deshalb auch eine Sünde gegen Gott. Ohne Gott ist das Monströse an Auschwitz gar nicht denkbar, er ist gegenwärtig in seiner Anrufung und im Vertrauen auf ihn, gegenwärtig in Verzweiflung, Schmerz und Todesangst, aber auch gegenwärtig in seiner Leugnung durch die böse Tat. Ohne den Widerspruch zwischen den, was sein soll, und dem, was nicht sein soll, zwischen Gottes Willen und Sünde, wären die grauenhaften Ereignisse einfach beliebige Vorgänge gewesen, weder gut noch böse. Ihre ungeheure Sinnwidrigkeit, die Maßlosigkeit des Verbrecherischen aber verweist auf die Verletzung einer höheren Ordnung als einer bloß von Menschen gesetzten Normativität. Dass Menschen einander Gutes und nicht Böses tun sollen, kann man auch glauben, ohne an Gott zu glauben. Überschreitet die Bosheit aber jegliches Maß, wird sie gleichsam absolut, so kann dem nur das absolut Gute entgegengehalten werden, genauer: der Glaube an den absolut Guten. Alles Andere überließe das Leiden der Menschen der Sinnlosigkeit. Ohne Gott gibt es keine Möglichkeit, dass das Leiden zwar war, aber nicht sinnlos, und dass alles gut gewesen sein wird.