Theologische Skizze II (Fastenzeit) Drucken

1. Die grundlegende Bedürftigkeit des Menschen ist nicht zu leugnen. Er muss haben, um sein zu können, und er muss bekommen und behalten, um am Leben zu bleiben. Auch darum sind Menschen aufeinander verwiesen. Doch dem gedeihlichen Zusammenwirken sind Grenzen gesetzt, denn statt dass alle für jeden einzelnen sorgen, kümmert sich fast jeder vor allem um das, was er für das Seine hält. Was du hast, habe ich nicht, denkt man, und was ich habe, hast du nicht. Deine Bedürfnisse sind also die Feinde meiner Bedürfnisse.
An den Grenzen gemeinsamer und wechselseitiger Versorgung ist allerdings nichts „natürlich“. So wenig wie meine Freiheit dort aufhört, wo deine beginnt — weil vielmehr die Freiheit des einen die Freiheit des anderen ermöglicht —, so wenig schränken dein Bedarf und deine Bedürfnisse meinen Bedarf und meine Bedürfnisse prinzipiell ein. Zusammenarbeit wäre hier allemal fruchtbringender als Ressourcen vernichtendes Gegeneinander.
Die modernen Herrschaftstechniken, ja vielleicht Herrschaftstechniken überhaupt, beruhen darauf, die Bedürftigkeit der einen gegen die der anderen auszuspielen. Die Gesellschaft wird als so strukturiert gedacht, dass die einen die anderen in ihrer Bedarfsdeckung und Bedürfnisbefriedigung bedrohen, woraufhin dann die Lösung allein in der Anerkennung einer übergeordneten Macht bestehen soll, die alle in Schach hält. Es geht uns gut, es könnte uns schlechter gehen, also soll alles bleiben, wie es ist. Das ist der Trick.
Man muss nun aber sehr vielen etwas vorenthalten, um ganz wenigen sehr viel zu verschaffen. Und um vielen etwas vorzuenthalten, muss man einige gut versorgen. Das gilt auch in globaler Dimension. Es darf freilich nicht so sein, dass die einen nichts und die anderen alles haben, zumindest nicht nebeneinander, denn zu große sichtbare Unterschiede drohen zu gewaltsamem Ausgleich zu führen. Also muss einerseits für ein kompliziertes Gegeneinander, andererseits für Ablenkung und Zerstreuung gesorgt werden. Abhängigkeit, Komplizenschaft, Amüsement und Verdblödung regieren die Welt.
Was dagegen zu tun wäre, ist offensichtlich: den Verblödungszusammenhang durchbrechen, den schalen Spaß verderben, die aktive und passive Konformität aufkündigen und sich von angeblichen Sachzwängen und vermeintlichen Notwendigkeiten emanzipieren. Kurzum: sich um das Wesentliche kümmern. Bloß wie? Wenn unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen materielle Unabhängigkeit nicht wirklich erreichbar scheint, so könnte doch immerhin mit geistiger Unabhängigkeit begonnen werden. Bedürftigkeit mag Voraussetzung sein, aber das macht sie nicht unreflektierbar. Bedürfniskritik wäre also ein guter Anfang. Was brauche ich wirklich? Was habe ich aus falschen Gründen? Warum will ich, was ich will? Wer will das?
Der Mensch ist kein Tier, er ist dem, was man für seine Instinkte halten möchte, nicht widerstandslos ausgeliefert. Er kann, aber er muss nicht. Seit Urzeiten ist darum der bewusste Verzicht gerade auf das, was unabdingbar scheint — Nahrung etwa —, den Menschen wesentlich, um sich dem Alltäglichen, Gewöhnlichen, Vorherrschenden zu entziehen und ihre Freiheit zurückzugewinnen. Der moderne Mensch scheint das vergessen zu haben. Die vorösterliche Fastenzeit wäre eine gute Gelegenheit, es ihm wieder in Erinnerung zu rufen.
(Auch die Ereignisse in Japan können gerade in dieser Hinsicht zu denken geben. Es ist ja der maßlose „Energiehunger“ des modernen Wirtschaftens, der in den Aberglauben der verlustlosen Beherrscharkeit der Nukleartechnologie hineingetrieben hat — falls diesen Glauben wirklich jemals jemand hatte und ihn nicht nur Interessierte anderen aufzuerlegen versuchen. Gewiss sind Erdbeben und Flutwellen unverfügbare äußere Einwirkungen, doch so, wie der Mensch lebt, so wird er auch von den Naturgewalten erreicht. Schlagartig kann alles wegbrechen, woran man eben noch sein Herz gehängt hatte, und so erschreckend viele sind jetzt schon froh, wenn sie halbwegs davon gekommen sind und ein Dach über dem Kopf, ausreichend Nahrung, trockene Kleidung und dringend benötigte Medikamente haben. Wenn es Situationen gibt, in denen der kostbarste Besitz schon eine Decke ist, warum glaubt der Mensch dann eigentlich sonst sehr oft, so vieler irdische Güter zu bedürfen?)
2. Nein, selbstverständlich bedarf es nicht des Fastens, auch nicht des rituellen, und nicht der Fastenzeit, um sich der eigenen Bedürftigkeit bewusst zu werden und die eigenen Bedürfnisse im Hinblick auf ihre Manipuliertheit zu kritisieren. Aber die Fastenzeit steht so schön quer zum Strom der Zeit, dass es eine Schande wäre, nicht ihre Partei zu ergreifen und ihre Fahne gegen die konsumistische Gleichgültigkeit hochzuhalten.
Was hat der Mensch und was davon braucht er wirklich? Was fehlt ihm? Die Welt besteht nicht nur aus Elend, sondern auch aus Not. Was aber ist wirklich nötig und wofür?
Gesetzt, man entbehrte nichts von dem, was die Welt zu geben hat, es fehlte nicht an Hab und Gut, nicht an Freude und Freundschaft, nicht an Kurzweil und Bildung, nicht an Leidenschaft und Muße, nicht an Ruhm und Macht. Wäre das alles?
Das letzte Hemd hat keine Taschen. Wenn einer auch alles gehabt und alles genossen hätte, er nähme nichts mit über den Tod hinaus. Der Weise mag sich damit beruhigen, dass er nicht tot ist, solange er lebt, und wenn er tot ist und nicht mehr lebt, es ihn auch nicht mehr sorgen muss, dass ihm nichts bleibt. Hinterbliebene sollte das nicht trösten können. Der Andere ist tot und ich lebe. Sein Verlust ist mein Verlust. Schal wirkt der Versuch, sich mit dem Gerede vom Weiterleben in der Erinnerung darüber hinwegzuschwindeln, dass der andere tot ist und ich das weiß.
Erbarmungsloserweise endet das Leben mit dem Tod. Der Tod ist das Kriterium des Lebens. Die einen sagen, es komme darauf an, was man im Leben gehabt habe. Die anderen sagen, es komme darauf an, was man im Tod verliere. Ich glaube, es kommt auf das an, was man nie besitzen und nie verlieren kann.
Das Leben ist das Kriterium des Todes. Das Leben muss weitergehen. Aber nicht im Sinne der Vertröster, der Beschwichtiger, der Abwiegler. Sie zerreden den Tod, als ob sie nicht richtig zugehört hätten. Das Leben muss weitergehen, weil der Tod des Anderen nicht hinnehmbar ist. Besonders dann nicht, wen er immer noch geliebt wird.
Das Leben muss weitergehen. Hienieden kann es das nicht oder nur bis zum nächsten Sterben. Es muss weitergehen, wenn es je Sinn gehabt haben soll. Daran hängt alles, aber nichts, was man hat und woran man hängt, kann das ermöglichen. Der Tod, nämlich der Tod des anderen, der totale Weltverlust, den ich erleide, weil er ihm widerfahren ist, ist die unstillbare Not, aus der sich die Notwendigkeit einer Lösung ergibt.
Die Fastenzeit arbeitet auf den Tod hin. Einer wird sterben, darum geht es. Er ist schon gestorben — und auferstanden. Das ist der Mythos der Christen. Man mag an ihn glauben oder nicht, am Ende ist man, ob man’s schon weiß oder nicht, vor die Wahl gestellt, sich der äußersten Not zu stellen. Gott ist tot. Wer lebt?
3. Gott ist tot, heißt es, und wir haben ihn getötet. Aber nicht das ist die bemerkenswerte Botschaft, dass Gott tot ist — hierin irrte Nietzsche —, denn das Sterben eines Gottes ist von alters her fester Bestandteil der Lehren vieler Religionen. Vielmehr verdient das, was viele Religionen ebenfalls verkünden, die eigentliche Aufmerksamkeit: Er starb und stand von den Toten auf. Wenn das wahr ist, gibt es Hoffnung. Wenn nicht …
Mir selbst ist es, wenn ich dies persönliche Bekenntnis wagen darf, nicht verständlich, wie man leben kann ohne Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Ich meine damit nicht den egomanischen Wunsch nach einem eigenen Weiterexistieren. Ob es mich gibt oder nicht, ist mir nicht so wichtig. Ich klammere mich nicht an mein Dasein und fürchte mich nicht vor dem Tod. Ich habe das eigene Totsein nie erlebt und kann darum nicht sagen, ob ich dafür oder dagegen bin. Was ich aber erlebt habe, ist das Sterben und Totsein anderer. Und da nun tut sich für mich die Notwendigkeit der Hoffnung auf.
Ich kann nicht nachvollziehen, dass es Menschen gibt, die von einem anderen Menschen, den sie angeblich geliebt haben und der gestorben ist sagen können: Jetzt existiert er nicht mehr. Mir ist die Vorstellung, der geliebte Mensch sei ein Nichts, völlig unerträglich. Wie weiterleben, wenn er nicht mehr lebt?
Selbstverständlich kann man nun einwenden: Es geht dir nur um deine Gefühle, du willst die Realität nicht wahrhaben, kannst sie nicht ertragen und flüchtest dich darum in eine Illusion.
Dem kann ich nichts entgegensetzen als meine Wahrnehmung der Wirklichkeit: Ich kann nun einmal nicht anders, ich kann die Endgültigkeit des Todes nicht anerkennen. Und ich verstehe nicht, wie das irgendjemand können kann.
Wirklichkeit ist für mich das, was ich nicht beliebig so oder so verstehen kann, sondern unter den und den Bedingungen also so und so seiend hinnehmen muss. Ich mag es verändern können, aber zunächst einmal setzt es meinem Wunsch und Willen Widerstand entgegen. Real ist, was Grenzen zieht. Insofern ist mein Unvermögen, mit der Endgültigkeit des Todes des geliebten Anderen zu leben, Bedingung meiner Wirklichkeit.
Das begründet noch keine Religion. Aber es hält zumindest offen für Transzendenz. Dass das, was immanent erfahrbar ist, was erklärbar und gewiss scheint, nicht alles sein kann, ist selbst eine Erfahrung innerhalb der Immanenz. Man könnte sagen, Immanenz ist ohne Transzendenz nicht denkbar. Und schon gar nicht erträglich.
4. Wenn also der Tod — nicht so sehr der eigene, als vielmehr der des geliebten Anderen — alles zu entwerten, alles in einen Abgrund der Sinnlosigkeit zu reißen droht; und wenn andererseits gerade aus der existenziell erfahrenen Nichthinnehmbarkeit des endgültigen Nichts die Notwendigkeit eines den Tod überwindenden und Leben garantierenden Erbarmens folgt — das freilich nicht zwingend bewiesen, sondern nur gehofft und geglaubt werden kann: Was heißt das dann für die eigene Lebensführung?
Zum einen können die irdischen Freuden und Leiden nicht ganz ernst genommen werden. Nicht, dass nicht wirklich gelitten und genossen, erfreut und betrauert werden könnte, aber Trauer und Freude, Genuss und Leid haben nicht das letzte Wort. Glaube und Hoffnung gehen darüber hinaus und haben Wesentlicheres zu sagen.
Zum anderen können im Gegenteil Freud und Leid, Trauern und Genießen, gerade weil sie unter dem Vorbehalt ihrer Endlichkeit und Nichtendgültigkeit stehen, ganz und gar ernst genommen, ganz und gar angenommen, ganz und gar erlebt werden, denn wer glaubt und hofft, das mit dem Kontigenten nicht alles vorbei ist, kann Freude und Genuss als Vorfreude und Vorgenuss erfahren, auf das, was vielleicht noch kommt.
Und all das Leid, das eigene und das fremde? Mir hat da immer eine Notiz Franz Kafkas zu denken gegeben: „Nur hier ist Leiden Leiden. Nicht so, als ob die, welche hier leiden, anderswo wegen dieses Leidens erhöht werden sollen, sondern so, dass das, was in dieser Welt leiden heißt, in einer andern Welt, unverändert und nur befreit von seinem Gegensatz, Seligkeit ist.“
Ich verstehe das so: In dieser Welt besteht ein notwendiger Gegensatz zwischen dem, was sein soll, und dem, was nicht sein soll. Leiden ist Erfahren dieses Gegensatzes. Wie sollte man denn auch nicht unter Unrecht, unter Missgeschick, unter Mangel leiden? Niemand soll hungern oder krank sein, niemand soll bestohlen, betrogen und belogen werden, niemand soll entwürdigt, entrechtet, verfolgt, gequält, verletzt, getötet werden, niemand soll von Bildung und Unterhaltung ausgeschlossen werden — aber all das passiert und zwar, im Wesentlichen deshalb, weil Menschen es Menschen antun. Wie aber sollte man nicht darunter leiden, wenn es einem widerfährt? Widerfährt einem aber nicht das, was nicht sein soll, sondern das, was sein soll und wie es sein soll, dann ist das — vom „Gegensatz befreit“ — letztlich Seligkeit.
Streng genommen ist also nicht das Leiden das Üble, das nicht sein soll, sondern das, woran gelitten wird, soll nicht sein. Schlechtes soll nicht sein; was nicht sein soll, aber erfahren wird, ist schlecht. Leiden als Erfahrung dessen, was nicht sein soll, ist das Gegenstück zur Freude, die die Erfahrung dessen ist, was sein soll. Ja, für den, der an das Gute, Wahre und Schöne glaubt und seine Unvergänglichkeit erhofft, ist Leiden eigentlich Freude, nur eben noch nicht befreit vom Gegensatz, sondern in diesen eingespannt und ihm verfallen. Leiden ist Leiden am falschen Endlichen. Freude ist Freude am ins Unendliche reichenden Endlichen. Denn was je sein sollte, wird immer gewesen sein. Und was nie sein sollte, wird nie gewesen sein.
5. Dass man sich und alle anderen in letzte Instanz der Barmherizgkeit Gottes anheimstellen muss, ist keine Einladung zu ethischer Indifferenz oder selbstgenügsamem Quietismus. Man mag zurecht das Konzept von Lohn und Strafe als allzu geschäftsmäßig in Frage stellen und darauf verweisen, dass kein menschliches Verdienst die ewige Seligkeit gleichsam erkaufen kann. Gleichwohl ist der urprotestantische Aberglaube vom „Glauben allein“, der die verächtliche Verwerfung der Heilsnotwendigkeit guter Werke bedingt, eine völlige Pervertierung des Evangeliums. Denn worin besteht ein solches Geglaube, das ohne praktische Dimension auskommen zu können vermeint? Doch bloß in einem letztlich selbstgefälligen Fürwahrhalten. „Glaube“, der nur irgend ein Vermeinen ist und nicht Vollzug, im Zweifelsfall also Tat, ist kein ernstzunehmender Glaube.
Im Evangelium nach Matthäus wird das (25,31-46) deutlich gesagt (und weil’s so schön ist, sei es in voller Länge zitiert: Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken. Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen? Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben.
Von wegen also, der „Glaube allein“ genüge! Vom Glauben ist hier gar nicht die Rede, jedenfalls nicht vom theoretischen. Wer Gutes tut — und das meint: für andere da ist —, der glaubt, auch wenn er vielleicht nicht weiß, dass er glaubt: Sein Glaube ist Praxis.
Das Gegenstück zu Mt 25,31-46 findet sich in Mt 7, 21: Nicht jeder der zu mir sagt: Herr, Herr! wird eingehen in das Königreich des Himmels, sondern wer den Willen meines Vaters in den Himmeln tut. Dies geht zusammen mit Lk 13,25 wohl auf die sogenannte Logienquelle zurück, für die man rekonstruiert hat: Was nennt ihr mich: Herr, Herr!, und tut nicht was ich sage? (Q 6,46). Der frühchristliche 2. Clemensbrief bringt die Fassung: Nicht jeder, der zu mir „Herr, Herr“ sagt, wird gerettet werden, sondern wer das Gerechte tut.
Kurzum, das „Religiöse“ im Sinne dieser oder jener Folklore und dieses oder jenes Fürwahrhaltens ist völlig untergeordnet (mitunter sogar entgegengesetzt) dem Tun dessen, was Gott will. Und was das ist, was Gott will, darüber besteht kein Zweifel: Das Beste für jeden Einzelnen. Die detaillierten Kriterien dafür mögen in dieser oder jener Situation problematisch scheinen und werden diskutiert werden müssen. Im Prinzip aber ist alles einfach und klar: Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten. (Mt 7,12) Diese so genannte Goldene Regel setzt keinerlei religiöse Doktrin voraus. Im Unterschied zum deutschen Sprichwort „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“, ist sie positiv formuliert. Und im Unterschied zu Kants kategorischem Imperativ („Handle, wie du sollst“) ist sie unkompliziert, unprätentiös und unmittelbar einsichtig. Keine Ethik kann ihr widersprechen oder wesentlich über sie hinausgehen. Mit ihr kommt man durchs ganze Leben. Und, wenn das Evangelium wahr ist, noch weiter.
6. Wenn aber nun also, wie an den vorangegangen Sonntagen argumentiert wurde, zum einen die Goldene Regel eine ausreichende Grundlegung der Ethik darstellt und zum anderen nicht das Fürwahrhalten von Glaubenssätzen, sondern der Vollzug eines (zumindest impliziten und unter Umständen gar nicht bewussten) bejahenden Gottesverhältnisses in tätiger Nächstenliebe genügt, um der ewigen Seligkeit für würdig befunden zu werden — wozu dann noch die verschiedenen Christentümer?
Tatsächlich hat Jesus Christus, auf den die Christentümer sich berufen, selbst keine Konfession namens „Christentum“ begründet (und erst recht nicht, wie es modisches Vorurteil will, eine Art „Reformjudaismus“), sondern er hat das Evangelium vom kommenden Gottesreich verkündet, er hat Jünger zur Nachfolge aufgerufen und er ist, wie es heißt, gestorben und auferstanden. Und damit ist der entscheidende Punkt berührt, an dem Logos und Mythos einander kreuzen.
In der Liturgie gibt es die Frage nach dem mysterium fidei (dem Geheimnis des Glaubens), die so beantwortet wird: Mortem tuam annuntiamus, Domine, et tuam resurrectionem confitemur, donec venias. (In deutscher Fassung: Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.)
Hier sind wesentliche Glaubensaussagen verdichtet. Nach kirchlicher Lehre ist in Jesus Christus Gott erschienen, denn nur er, der ganz Gott und ganz Mensch ist, kann Gott und Mensch versöhnen, die durch die Sünde entzweit sind. Was aber wäre die schlimmste aller Sünden, das größte aller Verbrechen, wenn nicht der Mord an Gott selbst? Indem nun der Sohn Gottes sich von den Menschen hinrichten ließ, also den Tod, der ja nach christlicher Lehre nichts Natürliches, sondern Lohn der Sünde ist, auf sich nahm, so der zentrale christliche Mythos, kaufte er, der einzige Unschuldige, die wahren Schuldigen los („loskaufen“ ist bekanntlich die wörtliche Übersetzung von „erlösen“) und überwand den Tod, nicht nur für sich selbst, sondern ein für alle mal für alle. Darum wird von der Kirche die Taufe (also wörtlich das „Eintauchen“ im Sinne eines symbolischen Ertrinkenmachens) als Hinneinnahme in den Tod Christi und damit auch als Verheißung der Auferstehung vollzogen.
Überwindung des Todes bedeutet selbstverständlich nicht, dass niemand mehr stürbe, sondern dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Das letzte Wort überhaupt ist nach Überzeugung der Jünger Christi dasselbe wie das erste Wort, also das Wort Gottes — womit eben nicht irgendwelche von Menschen verfasste Schriftstücke gemeint sind, sondern der Sohn Gottes selbst, der auferstandene Menschensohn.
Dass dieser wiederkehren wird, ist unaufgebbarer Teil des christlichen Bekenntnisses. Die Welt ist nicht ewig, die Geschichte ist nicht endlos, sondern alles Endliche strebt seinem Abschluss und seiner Vollendung im Unendlichen zu. Es gibt ein Ende der Zeiten: Aus zeitlicher Sicht wird es erst kommen, sub specie aeternitatis aber ist es „immer schon gewesen“.
Diese Wiederkehr des Auferstandenen — um die Lebenden und die Toten zu richten, wie es in den Glaubensbekenntnissen heißt — beendet den historischen Prozess und ist sozusagen der letzte Akt der Erlösung, die mit der Menschwerdung begann, mit Tod und Auferstehung ihren Höhepunkt hatte und mit der Himmelfahrt Christi eine Art Verzögerung einleitete, die dann ihr ersehntes Ende haben wird. Das ist es, was am Palmsonntag als Tag der Erinnerung an den Einzug Jesu Christi in Jerusalem gefeiert wird: Die Hoffnung auf die Wiederkehr des Erlösers und den Abschluss der Erlösung.
Ich habe diese Geschichte als Mythos bezeichnet, keineswegs, um sie abzuwerten (zumal für mich ist das Mythische nicht minderwertig ist), sondern um anzudeuten, dass es eine Erzählung ist, die erst im Glauben zur Wahrheit wird. Die Goldene Regel und ihre Folge, das richtige Tun, kann als vernünftig behauptet und von jedem Gutwilligen eingesehen werden, unabhängig von religiöser und sonstiger Einstellung. Die Behauptung von Tod, Auferstehung und Wiederkehr aber ist eben ein mysterium fidei, das sich nur dem erschließt, der es annimmt.
Dazu hatten alle vor Christus Lebenden keine Chance und auch die nicht, die aus anderen Gründen nie etwas von ihm gehört haben oder nur Unzureichendes oder die ein Christentum vorgelebt bekommen, das sie abstoßen muss. Soll man nun annehmen, alle diese seien vom Heil ausgeschlossen? Manche Theologen haben das behauptet. Doch wie bereits [unter 5.] erwähnt wurde, lehrt Jesus etwas anderes. Nimmt man dieses Evangelium ernst, kommt es nicht darauf an, dass der zu Erlösende Christ ist (im Sinne einer Konfessionszugehörigkeit), sondern nur darauf, dass Christus der Erlöser ist. Die verwirklichende Annahme der Erlösung von Seiten des Einzelnen geschieht nicht als Erwerb einer Vereinsmitgliedschaft, sondern als Vollzug eines — wie gesagt möglicherweise unbewussten — Gottesverhältnisses, also des Bejahens des Guten. Wer demnach so lebt, dass er das tut, was er von anderen an Gutem erwartet, wer also unter anderem die Hungernden und Dürstenden, die Flüchtlinge und Obdachlosen, die Armen, Kranken und Gefangenen wie seine Brüder behandelt, der hat es richtig gemacht und muss kein Gericht fürchten, auch und gerade nicht das Jüngste. Und auch der, der weiß, dass er fehlbar ist und nicht immer alles richtig gemacht hat, muss sich nicht fürchten, sondern er kann sich vertrauensvoll der Barmherzigkeit des Ewigen überlassen. Na, dann kann der Richter und Erlöser ja kommen …