Theologische Skizze III (Advent) Drucken

1.
War’s das schon oder kommt da noch was? Das kann doch noch nicht alles gewesen sein. Das Unbehagen demgegenüber, dass dieses Leben, das man bisher geführt hat und das man voraussichtlich so bis zum absehbaren Ende führen wird, das Gefühl des Ungenügens demgegenüber, dass diese Welt, in der man lebt und in der man irgendwann sterben wird, schon alles ist, was man berechtigterweise erwarten darf, das Unbehagen, mit anderen Worten, am sogenannten Diesseits, seiner Beschaffenheit und der eigenen Rolle darin, dieses Unbehagen mag es hie und da bei diesem oder jenem noch geben, im Großen und Ganzen jedoch sind die Gegenkräfte sehr bemüht, es den Leuten auszutreiben. Und diese Kräfte haben, wenn schon nicht die besseren Argumente, so doch sehr effiziente Instrumente auf ihrer Seite. Die ganze gewaltige Maschinerie der Ablenkung, Bespaßung und Infantilisierung, der die Insassen der westlichen Konsumgesellschaften unterworfen sind, läuft auf die eine Botschaft hinaus: Die Welt ist vielleicht nicht schön und die Verhältnisse sind vielleicht grauenvoll, aber was kümmert’s dich, du brauchst doch nichts anderes zu tun, als es dir gemütlich zu machen, dich in der wunderschönen Warenwelt einzurichten und von einem guten Leben zu träumen, und alles was dafür von dir verlangt wird, sind deine Arbeitskraft, deine Wünsche und Begehrlichkeiten und dein Gewissen. Und wenn einer zwischen Unterhaltungselektronik, Sommerurlaub, Kleinfamilienterror und Selbstvermarktungshektik doch noch Platz hat, darf er gerne auf die ideologischen Angebote zurückgreifen. Evolutionismus, Tiefenpsychologie, Hirnforschung, Genforschung usw. wissen alle dasselbe zu berichten: Du bist nicht schuld, du bist nicht verantwortlich, da kannste nichts machen. Das widerspricht zwar ein wenig dem sonstigen Imperativ, sich dauernd zu optimieren, sich marktkonform zu verhalten und die richtigen Kaufentscheidungen zu treffen, ist doch aber gerade dann, wenn’s dabei kriselt, so herrlich entlastend. Der Mensch ist auch nur ein Tier, das Ich nicht Herr im eigenen Hause, die Willensfreiheit eine Illusion, weil das Hirn alles für einen entscheidet, und die Gene haben einen auf all das programmiert, was man ist und was einem widerfährt. Und wenn du tot bist, bist du tot. Ja sicher, man lebt in den Erinnerungen der Menschen weiter, die einen geliebt haben, aber mal ehrlich, wie viele waren das schon, zumal gegen Ende? Nein, nein, der Tod ist das Ende, da kommt nichts mehr, alles andere ist Illusion, kindliche Tröstung, frommes Gerede. Derlei zu akzeptieren, muss umso leichter fallen, je diesseitiger das Leben vor dem Tode gelebt wurde. Wer sich vor allem um sich selbst gekümmert hat und um andere nur, sofern sie im Gefühlshaushalt eine produktive Rolle spielten; wer sich nicht für die herrschenden Verhältnisse interessiert hat und um das Leid, das sie für so viele bedeuten; wer sich nur darum gesorgt hat, was er außer dem, was er schon hat, noch haben kann, und sich nie ohne Not gefragt hat, worauf er verzichten könnte; wer nie das in dieser Welt nicht aufhebbare und nicht ausgleichbare Unrecht, das Leiden und den Tod als unerträgliche Zumutung erfahren hat; wer also, kurz gesagt, ein rein diesseitig orientierter Materialist und Egoist ist, bei dem ist klar, dass er von irgendeiner Transzendenz nichts wissen will. Er könnte jedoch sogar ein engagierter Idealist sein, gegen das Unrecht auftreten, Leiden zu lindern versuchen und für eine bessere Welt kämpfen — wenn es sich dabei immer nur um diese Welt handeln, sind diese Bemühungen, so gut und ehrenwert sie für sich genommen wären, letztlich zum Scheitern verurteilt. Denn gesetzt selbst, es ließe sich das Paradies auf Erden errichten und alle Menschen lebten in gerechten Verhältnissen, Wohlstand und geistigem Reichtum, was würde aus all dem Leiden, das es bis dahin gab, aus all dem Unrecht und der Schuld dafür und was würde aus den Toten? Selbst wenn es nämlich gelänge, den Tod zu besiegen und die gerade Lebenden für immer am Leben zu halten, die bis dahin Gestorbenen wären und blieben doch tot. Mit anderen Worten, selbst wenn, was angesichts der bestehenden Wirklichkeit völlig unwahrscheinlich ist, eines Tages auf Erden alles gut würde, es bliebe doch die Vergangenheit, die nicht gut war. Darf das sein? Materialismus, Egoismus, Konsumismus, Immanentismus haben auf diese kleine, aber alles entscheidende Frage keine befriedigende Antwort, keine, die jenes Unbehagen aufheben könnte, das nicht bloß am eigenen Wohl und Wehe entzündet, nicht am eigenen Glück, sondern nicht zuletzt am Unglück der anderen, am diesseitig irreparablen Unglück derer, die litten und starben, die entwürdigt und entrechtet wurden, die man sowohl um ein Minimum wie um das Maximum an gutem Leben in dieser Welt betrog. Die Ideologen der reinen Diesseitigkeit haben darauf, wie gesagt keine Antwort. Darauf antwortet nur die Religion.

 

2.
Nur die Religion, sagte ich, antwortet auf die Frage, was aus dem vergangenen Leben, dem Leiden, dem Unglück, der Schuld, dem Totsein wird — wenn man denn als Antwort mehr erwartet als ein Schulterzucken. Aber „die“ Religion gibt es nicht. Und dass alle Religionen dasselbe wollen, ist ein weniger frommer als dummer Spruch. Denn alles Religiöse auf dasselbe Habt-euch-lieb-Schema zurückzustutzen, hat mit der Realität nichts zu tun. Die Praxis eines Aztekenpriesters, der Kriegsgefangenen bei lebendigem Leibe das Herz herausschneidet, um es der Sonne darzubringen, hat mit der Praxis eines sich in Gedankenleere übenden Zen-Meister herzlich wenig zu tun. Man wende nicht ein, das seien Äußerlichkeiten. Religion ist konkretes Tun, die Lehre folgt dem nach (oder auch nicht). So man denn überhaupt eine Begriffsbestimmung wagen dürfte, dann vielleicht: Religionen sind Weisen, sich zu dem, was man mit westlichem Ausdruck Transzendenz nennen könnte, zu verhalten. Sie binden, anders gesagt, das Leben in der Welt durch bestimmte Praktiken zurück an ein dieses Übersteigendes.
Wenn sich also die Weisen des Verhaltens unterscheiden, dann sind die Religionen verschieden, und über das Konkrete hinaus irgendeinen diffusen „humanistischen“ Kern identifizieren zu wollen, verfehlt das Wesentliche. Religiöse Praxis überschreitet gerade den Bezirk des Menschlichen, aber nicht um ins Inhumane, Animalische, gar Bestialische abzugleiten, sondern um außerhalb der Bedingtheiten dieser Welt sich dem zuzuwenden, was Dinge Dinge und Menschen Menschen sein lässt. Sich ihm zuzuwenden, womöglich rühmend, dankend, bittend, es aber auch zu bannen, von seiner Ungeheuerlichkeit, seiner menschliches Maß übersteigenden Macht nicht vernichtet zu werden. Ohne Ehrfurcht, als rein technisches Geschehen, ist religiöse Praxis nämlich undenkbar (oder wird zur Blasphemie).
Zumal am Ursprung aller Religion nicht Spekulation steht, sondern Empirie. Das alles bis dahin Erlebte Übersteigende ist nicht ausgedacht, sondern erfahren. Diese Erfahrung mag mehr oder minder deutlich sein, sich mehr oder minder in Vorstellungen und Erzählungen ausprägen, entscheidend ist die Intensität. Diese Intensität zu bewahren und zu reaktivieren, ohne an ihr zu Grunde zu gehen, das begründet Religion.
Wer erlebt hat, dass da mehr ist, als sich anfassen oder begreifen lässt, sieht die Welt mit anderen Augen. Die Erfahrung des Unbedingten fordert das von selbst. „Du musst dein Leben ändern.“ Lässt man hingegen nur die Dinge gelten — und den Menschen als Ding unter Dingen —, gibt es streng genommen keine Möglichkeit des Sollens. Was ist, ist, was nicht ist, ist nicht. Also kann auch kein Widerspruch zwischen dem bestehen, was ist, aber nicht sein soll, und dem, was nicht ist, aber sein soll. Bloße Immanenz kann weder Ethik verstehen noch Gerechtigkeit oder berechtigte oder unberechtigte Hoffnung.
Aber jeder Mensch, der noch nicht völlig abgestumpft ist (oder durch Materialismus verblödet) will mehr. Wer wirklich liebt, will die Ewigkeit des Daseins des Geliebten, weit mehr noch als die des eigenen, will kein Leiden und keinen Tod. Keine Macht der Welt aber kommt dagegen an, weder gegen das Unglück und Unrecht, noch gegen den existenziellen Widerspruch dagegen im Namen der Bejahung des Lebens und der Freude.
Beides also, die Erfahrung, dass es etwas gibt, was über das, was es gibt, hinausgeht, ebenso wie die, dass es das geben muss, weil das, was ist, nicht alles gewesen sein kann, macht Religion, das Verhalten zum Unbedingten, unabdingbar.