Theologische Skizze I (Advent) Drucken

1. Es gibt keine Adventszeit mehr. Alles, was es noch gibt, ist die Vorweihnachtszeit, und die beginnt bekanntlich spätestens irgendwann im September, wenn in den Supermarktregalen die ersten Schokoladennikoläuse auftauchen. Mit Advent hat das aber nichts zu tun. An die Stelle einer besinnlichen, an das erste Kommen Christi erinnernden, sein zweites Kommen erwartenden und darum zu Reue und Buße mahnenden Zeit im Kirchennjahr ist eine Phase im kommerziellen Zyklus geworden. Kitsch und Konsum bestimmen den Stil. Fernab mehr oder minder alter religiöser Überlieferung hat sich ein eigene Mythologie herausgebildet, mit Elchen und Elfen, Weihnachtsmann und Sternenglanz, Schnee und Tannengrün. Eigentlich war die Adventszeit einmal eine Fastenzeit, ihre Farbe darum Violett (und Rosa am vorletzten Sonntag). Heute dominieren Rot und Grün, dazu Gold. So wird der Austausch auch farblich markiert.
Es geht allerdings immer noch darum, sich auf etwas vorzubereiten. Der 1839 erfundene Adventkranz mit seinen Kerzen (ursprünglich vier für die Sonntage und 19 für die Wochentage) und der noch jüngere Adventkalender mit seinen 24 Türchen (oder Säckchen oder dergleichen) haben nur den Sinn, die Zeit bis Weihnachten abzählbar zu machen. Eine Zeit, die heute für die meisten Menschen geistlich ebenso leer wie konsumistisch erfüllt ist. Mit dem ausstehenden Weihnachten assoziiert man wohl meist Sentimentales — und verdrängt dabei Feierstagsstreit und Stress —, mit der Vorweihnachtszeit aber Hektik und Rummel. Nicht nur, dass Geschenke gekauft werden müssen, auch anderes, wie etwa die Weihnachtsmärkte, die eben nur noch selten Adventmärkte heißen, fordert zum Geldausgeben auf.
Nach dem 24. Dezember ist es mit dem ganzen Zauber schlagartig vorbei. Jetzt, wo das Fest eigentlich erst beginnt und die Weihnachtszeit zu feiern wäre, will verständlicherweise niemand mehr Christbaumschmuck sehen und Weihnachtslieder hören. Zum Glück gibt’s Silvester, ein rein säkulares, durch nichts Geistliches belastetes Fest, das mit seiner Ausgelassenheit, mit Papierschlangen, Konfetti, Sekt und Tanzmusik wohl einen Vorgriff auf den Karneval darstellt. Das darauffolgende Fest der Erscheinung des Herrn am 6. Januar — in den östlichen Kirchen das eigentliche „Weihnachten“ — fällt nun allenfalls noch dadurch auf, dass mancherorts Sternsinger (und Sternsingerinnen!) durch die Gegend ziehen. Weihnachten aber, Feier der Geburt Christi, ist längst abgetan. Das ist nur konsequent. Wenn es keinen Weg mehr gibt, braucht es auch kein Ziel mehr zu geben, ohne Advent also auch kein Weihnachten. — Ach du liebe Zeit, was wird da die Wiederkunft Christi für eine Überraschung sein!
2. Die Abschaffung des Advents und damit der Weihnachtszeit, wie ich sie am vorigen Sonntag behauptet habe, ist nicht einfach eine Kommerzalisierung. Es geht nicht darum, dass ein religiöses Fest von Geschäftsinteressen überwuchert zu werden droht. Es geht darum, dass das Fest und das, was es an ihm zu feiern gibt, im Erleben der Menschen von völlig sachfremden Vorstellungen und Praktiken entkernt und damit vernichtet worden ist. Nein, Weihnachten ist nicht das Fest der Liebe, es ist nicht das Fest der Familie, es ist nicht das Fest des Schenkens, es geht nicht um Punsch und Rentier, dicke Männer mit weißem Bart und roter Mütze, nicht um Lichterglanz, Glocken und Gebäck. Es geht um die Geburt des Erlösers, um die Menschwerdung Gottes.
Daran ist nun weißgott nichts Niedliches. Es gab weise Kulturen, in denen bei jeder Geburt rituell geweint und geklagt wurde. (Noch Alfred Polgar meinte, das Beste wäre es, nie geboren zu werden, setzte jedoch hinzu: Aber wem passiert das schon?) Geboren zu werden ist ein bedauerlicher Umstand, da er ein Hineingesetztwerden in eine Welt der Mühe und des Versagens bedeutet, in ein Dasein voller eigener und fremder Sünden, in ein Leben mit endlich Freuden und am Ende einem unausweichlichen Tod. Dass nun der allmächtige Gott sich das antut, dass er, um als Erlöser am Kreuz zu sterben, als Kind zu Welt kommt, ist erst recht kein Anlass für Sentimentalitäten.
Den meisten Menschen ist freilich das Kernthema von Weihnachten schnurzpiepegal. Für sie geht es um Geschenke und Weihnachtsbaum, um Kindheitserinnerungen und Feiertagsstimmung. Man will etwas, das es wahrscheinlich so nie gab, jedes Jahr wiederhaben. Dazu gehören auch echte und falsche Traditionen, säkulare und religiöse. Zu Weihnachten sind die Kirchen zwar ausnahmsweise einmal voll, aber das besagt gar nichts, das ist bloß Folklore und private Stimmungsmache und hat mit dem restlichen Jahr nichts zu tun.
Der Advent ist ja nicht nur als Zeit im Kirchenjahr abgeschafft, sondern auch als Lebensstil. Nicht nur sind die westlichen Gesellschaften fundamental entchristlicht — wofür die widerwärtigen pseudochristlichen Fundamentalisten nur Zeugnis, nicht Gegenbeispiel sind —, sondern das heutige Christentum selbst ist entchristlicht. Nähmen die, die den Kirchen angehören, deren Lehren ernst, müssten sie jeden Tag die Wiederkunft Christi erwarten. Das tun sie aber offensichtlich nicht, sonst lebten sie nicht, wie sie nun einmal leben. So wie alle nämlich.
Meiner Meinung nach gibt es zwar keine besondere „christliche“ Ethik, sondern nur eine für alle Menschen. Auch Buddhisten, Moslems, Konfuzianer oder Atheisten wissen, dass Lügen, Stehlen und Morden schlecht ist, und erziehen in diesem Sinne auch ihre Kinder. Was aber Christen von Nichtchristen unterscheiden sollte, sind also nicht irgendwelche ominösen „Werte“, sondern der besondere Nachdruck beim Gutseinwollen, der aus dem Glaube ndaran erwachsen müsste, dass man sich für sein Tun und Lassen höchstinstanzlich zu verantworten hat. Dass hat nichts mit einem Kalkül von Lohn uns Strafe zu tun, sondern mit Liebe. Echte Christen müssten Christi Wiederkehr, also den adventus Domini, nicht nur erwarten, sie müssten ihn sogar Tag für Tag herbeisehnen. Allerdings hat man nicht den Eindruck, es gebe allzu viele, die das Jüngste Gericht kaum abwarten können …
3. Ach, herrjeh, die Welt ist schlecht und man selbst ist womöglich auch nicht so gut, wie man gern wäre. Gibt es denn also in dieser ganzen Adventvergessenheit gar nichts, worüber man sich freuen kann? Gar keine rosigen Aussichten? Nur, wenn man begreift, dass das ausstehende Ereignis und seine Unerwartetheit zusammengehören. Und weil es nicht möglich ist, Tag und Stunde zu wissen, ist es auch nicht nötig. Es stellt sich immer nur die Frage: Was tun?
Dem Lukasevangelium zufolge kamen die Leute mit genau dieser Frage auch zu Joahnnes dem Täufer. Da fragten ihn die Leute: Was sollen wir also tun? Er antwortete ihnen: Wer zwei Gewänder hat, der gebe eines davon dem, der keines hat, und wer zu essen hat, der handle ebenso. Es kamen auch Zöllner zu ihm, um sich taufen zu lassen, und fragten: Meister, was sollen wir tun? Er sagte zu ihnen: Verlangt nicht mehr, als festgesetzt ist. Auch Soldaten fragten ihn: Was sollen denn wir tun? Und er sagte zu ihnen: Misshandelt niemand, erpresst niemand, begnügt euch mit eurem Sold! Das Volk war voll Erwartung, und alle überlegten im Stillen, ob Johannes nicht vielleicht selbst der Messias sei. Doch Johannes gab ihnen allen zur Antwort: Ich taufe euch nur mit Wasser. Es kommt aber einer, der stärker ist als ich, und ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe aufzuschnüren. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen. Schon hält er die Schaufel in der Hand, um die Spreu vom Weizen zu trennen und den Weizen in seine Scheune zu bringen; die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen. (Lk 3,10b-17)
Und der, von dem Johannes der überlieferten Deutung nach sprach, erzählte dem Matthäusevangelium zufolge das: Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken. Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen? Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben. (Mt 25,31-46)
Lässt man die manche verstörende religiöse Einkleidung weg, ergibt sich im Grunde ein ganzes einfaches Programm. Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! (Mt 7,12a) Handeln die Menschen nicht so, so bereiten sie, wie man allenthaben sehen kann, einander letztlich die Hölle auf Erden. Handeln sie aber so, können sie in aller Seelenruhe erwarten, was es mit dem Himmel auf sich hat oder nicht.
4. Ohne Advent kein Weihnachten, ohne Weihnachten aber auch kein Ostern. Gemeint ist damit selbstverständlich nicht der Rummel um Eier und Hasen, sondern die auf das Gedenken an Erniedrigung und Tod folgende Feier der Auferstehung. Ohne Advent also keine Erlösung. Dann freilich bleibt die Schuld bestehen, wird immer mehr und mehr, staut sich gewaltig auf, bis alle Dämme bersten und die Welt in einer Flut des Bösen untergeht.
Wer hinsieht, wird bemerken: Die Dämme lecken schon bedenklich. Wer sich nichts vormacht, kann erkennen: Die Welt ist schlecht. Aber all das Schlechte in der Welt ficht die meisten Menschen nicht an, sie haben sich irgendwie darin eingerichtet. Auf verschiedene Weisen. Wer zum Beispiel sowas braucht, hat sich eine Ideologie zurecht gelegt, etwa den atheistischen Evolutionismus, der letztlich nichts erklärt, aber das wohlige Gefühl naturwissenschaftlich begründeten Rechthabens verleiht. Andere habe einfach beschlossen, dass Wichtigste im Leben sei, möglichst viel Spaß zu haben. Wieder andere geben sich bescheiden, wollen bloß halbwegs glücklich sein, mit Familie und Freunden, Einkommen, Gesundheit und Geborgenheit, Hobby und Urlaub. Dass ihr relatives Wohlergehen erkauft ist mit dem Elend und der Entrechtung der meisten Menschen in der übrigen Welt, geht die happy few in den westlichen Wohlstandsgesellschaften (und die gekauften Eliten anderswo) nichts an. Sie haben sich damit abgefunden, schauen weg oder spenden halt was, um ihr Gewissen zu beruhigen. Ein Zusammenhang zwischen ihrem Glück, der Sinnlosigkeit ihres Daseins und dem Unglück anderer besteht für sie nicht.
Schaffen Religionen da Abhilfe? Sollen sie das?
Viele meinen ja, alle Religionen wollten letztlich dasselbe. Was aber soll das sein? Die meisten Menschen, die sich nicht viele Gedanken über Ethik oder Moral machen mussten, würden auf Anfrage sagen, es komme im Leben darauf an, Gutes zu tun und Böses zu lassen. Damit haben sie völlig Recht. Diesem Grundsatz kann keine Religion etwas Relevantes hinzufügen, allenfalls ein paar Einfälle dazu, was denn nun gut und was denn nun böse ist. Was die Einzelheiten betrifft, wird es also wohl immer Diskussionen und einige Unsicherheiten geben, aber die universelle Regel ist klar: Tu Gutes und unterlasse Böses bedeutet, verhalte dich anderen gegenüber so, wie du wolltest, dass sie sich dir gegenüber verhielten, wenn du an ihrer und sie an deiner Stelle wären. Diese selbstverständliche Norm, die keiner weiteren Begründung bedarf, sondern jedem vernünftigen und unverdorbenen Menschen unmittelbar einleuchtet, nennt man bekanntlich die Goldene Regel und findet sie — wie letzten Sonntag schon erwähnt — etwa in Mt 7,12. Auch wenn sie dort von Jesus ausgesprochen wird, ist sie kein Monopol des Christentums. Die Besonderheit und Größe des Evangeliums kommt vielmehr in einer anderen Formulierung zum Vorschein.
Als Jesus von einem Pharisäer gefragt wird, was das wichtigste Gebot sei, antwortet er: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten. (Mt 22,34-40; vgl. Mk 12,25-28 u. Lk 10,25-28)
Die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe wäre, würde sie gelebt, die Besonderheit des Christentums. Gottesverehrung allein, ohne Liebe zu den Mernschen, ist gnadenloser Götzendienst. Nächstenliebe allein stößt an die Grenze des Todes und der unerlösten Schuld. Nur beide zusammen, nur beide in einem sind sinnvoll
Religionen haben nicht, wie manche meinen, die Funktion, moralisches Verhalten zu fördern. Was im Kern unwahr ist, kann auch nur zu einem letztlich unmoralisches Leben führen. Wenn es in den Religionen um nichts anderes ginge, als um die Bedürfnisse und Wunschvorstellungen der Menschen, wären sie im Grunde leer und, weil sie diese Leere verschleierten und von Wichtigerem ablenkten, böse.
Religiosität, verstanden als Offenheit ist für das Dasein Gottes und das Dasein der anderen Menschen, ist nur dann gut, wenn sie wahr ist, wenn es also das Dasein, das geglaubt wird, wirklich gibt. Ob aber geglaubt wird, erweist sich erst in der Praxis. Denn was ist Sünde? Ohne in der Theorie die Existenz anderer Menschen zu leugnen, handeln viele — sagen wir ruhig: zuweilen jeder von uns — so, als gäbe es nur sie, als wären nur ihre Bedürfnisse wichtig, als wären nur ihre Wünsche wert, durchgesetzt zu werden. Dasselbe Verfahren wenden sie auch auf Gott an, leugnen zuweilen aber praktischerweise auch noch in der Theorie dessen Existenz.
Wohin das alles führt und was daraus wird, ist nun freilich selbst wieder eine Frage des Glaubens. Soll man wirklich annehmen, es könne immer so weiter gehen? Kann aus all dem Schlechten von selbst etwas Gutes werden? Versinkt alles in Bosheit? Oder ist es nicht doch eher hoffenswert und glaubwürdig, dass da einer kommen wird, um alles zum Guten zu wenden und zur Vollkommenheit zu führen? Und kann das ein anderer sein als der, der schon alle Schuld auf sich genommen und alle Sünden vergeben hat?