Theologische Skizze IV Drucken

2.
Nochmals: Was wir tun und was wir lassen, das sind, alles in allem genommen, die Verhältnisse, in den wir leben. Wenn nun der Einzelne sein Verhalten ändert, indem er Gutes tut und Böses lässt, so ändern sich zwar die Verhältnisse, aber das bedeutet nicht, dass daraufhin alles gut wird, und wäre es nur für den Einzelnen. Im Gegenteil: „Was alle angeht, können auch nur alle lösen. Jeder Versuch eines einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern.“ (Dürrenmatt) Die Verhältnisse sind bekanntlich kompliziert. Eine einzelne Verhaltensveränderung ändert zwar das Ganze, aber das muss weder unmittelbar merkbar sein noch in eine gewünschte Richtung gehen. Man kennt das Bild von Flügelschlag des Schmetterlings, der über unüberschaubare Vermittlung einen Wirbelsturm auslöst. Das Verhalten jedes Einzelnen trägt also zwar zu den Verhältnissen bei, aber die Wirkung dieses Beitrags auf das Ganze ist für endliche Wesen nicht vorhersehbar. Denn es ist eben das Verhalten wirklich jedes Einzelnen, aus dem die wirklichen Verhältnisse bestehen. Heißt das nun, dass der Einzelne nichts für sich bewirken kann und darum nichts an sich verändern soll? Nein, denn das Richtige zu tun und das Falsche zu lassen, ist immer richtig. Der Einzelne braucht nicht zu beanspruchen, die Welt zu verändern (auch nicht im Zusammenschluss mit anderen), die braucht das nicht, sie ändert sich sowieso dauernd. Nicht bloße Veränderung ist also das Entscheidende, sondern um Veränderung zum Besseren. Was aber der Einzelne auf jeden Fall zum Besseren verändern kann und soll, ist sein eigenes Verhalten (gern auch im Zusammenschluss mit anderen). Hier kann und wird er wirken. Ob das zu seinen Lebzeiten oder überhaupt je die Verhältnisse im Ganzen verbessert, muss ihn nicht kümmern. Die einzig wahre Weltrevolution ist die Revolution der des Verhaltens der Einzelnen. Wenn jeder Gutes tut und Böses lässt, ist alles in Ordnung. Aber das ist nicht der Fall, und was du tust und lässt, muss darum möglichst unabhängig davon geschehen. Die Revolution bist du selbst, oder es wird keine Revolution geben.

3.
Ich habe behauptet, dass das, was Gott will, und das, was der Mensch will, dasselbe ist. Nun ist es ja aber tatsächlich nachweislich so, dass Menschen oft anders wollen als Gott. Man nennt das Sünde. Tatsache ist auch, dass die Menschen das, was sie nicht wollen sollen, unter Bedingungen wollen, die sie zur Sünde verführen. Aber das hebt den freien Willen nicht auf, sondern erschwert nur den Vollzug seiner Freiheit. Wirklicher Wille ist freier Wille. Paradox gesagt: Nur unter der Bedingung der Unbedingtheit — die er aus eigener Kraft nie erreicht, nach der er aber mit aller Kraft streben muss — ist der Mensch frei. Frei, zu wollen, was er will. Das Problem dabei ist, dass diese Freiheit nur wirklich ist, wenn sie nicht zur Unfreiheit missbraucht wird. Sünde ist Unfreiheit. Der unbedingte, also freie Wille des Menschen will die Unbedingtheit und Freiheit seines Wollens. Will der frei Wollende hingegen seine Unfreiheit, dann will er, was er nicht will, dann will er absurderweise unfrei wollen. Diesen Widerspruch kann er allerdings nicht dem anlasten, der ihn mit freiem Willen begabt hat. Es ist seine eigene Sünde. Um also frei zu wollen, muss der Mensch versuchen, sich von der Bedingtheit seines Wollens frei zu machen, die ihn an die Sünde bindet, muss versuchen, das Gute zu wollen, nicht das Böse, die Freiheit, nicht die Unfreiheit. Das Wollen und Tun des Bösen, die Sünde, ist, wie gesagt, Unfreiheit. Gottes Willen zu tun, ist Freiheit. Denn nur Gott will nie und unter keinem Umständen das Falsche. Darum will, wer das will, was Gott will, das Beste für sich und alle anderen.

4.
Bei der Goldenen Regel geht es nicht um Reziprozität. Weder konditional („Wenn du so und so handelst, werde ich so und so handeln“) noch kausal („Weil du so und so handelst, handle ich so und so“). Sondern es geht darum, gleichsam vom anderen her zu denken: Wenn ich an deiner Stelle wäre, wie möchte ich von dir behandelt werden? Nun kann man einwenden, dass es doch Menschen gibt, die misshandelt, ausgebeutet, missachtet werden wollen. Wenn also einer sagt: Ich möchte von dir schlecht behandelt werden, also darf ich dich schlecht behandeln — befolgt der nicht auch die Goldene Regel? Nein, denn wer sich selbst nicht achtet, kann den anderen nicht achten und darum nicht wirklich vom anderen her denken. Wer die eigene Freiheit nicht will, kann nicht frei wollen. Ohne freien Willen und ohne Achtung vor dem anderen ist aber die Anwendung der Goldenen Regel ebenso wenig sinnvoll möglich wie ohne Vernunftgebrauch. Die Goldene Regel, die der Kern jeder Ethik ist, setzt sozusagen einen unbeschädigten Menschen voraus, der sich und anderen keinen Schaden zufügen will. Setzt ihn jedenfalls insoweit voraus, als er die Regel frei, vernünftig und achtsam anwenden können muss. Wenn also jemand, aus welchen Gründen auch immer, ethische Regeln nicht verstehen oder befolgen kann, spricht das nicht gegen diese Regeln.

5.
Bemerkenswert ist wohl auch, dass die Formulierung der Goldenen Regel, wie Jesus sie im Evangelium nach Matthäus (7,12: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“) und nach Lukas (6,31: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen.“) gibt, positiv ist — und nicht negativ wie im bekannten deutschen Reim: Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem andern zu. Diese Positivität impliziert meinem Verständnis nach eine anthropologische These über den fundamental sozialen Charakter der Existenz. Es ist eben nicht primär so, dass die Freiheit des einen durch die Freiheit des anderen begrenz wäre (wie es etwa der Liberalismus lehrt), sondern die Freiheit des einen ermöglicht die Freiheit des anderen. Anders gesagt: Es geht vor allem darum, dass die Menschen für einander da sind und ihr Tun und Lassen das Sein aller betrifft. (Dasein im doppelten — aber dabei der Sache nach durchaus verschränkten — Sinne verstanden: als existierend angenommen werden und für einander sorgen.) Man ist ja, wie ich zu sagen pflege, immer in Gesellschaft. Das ist in vielfältiger Hinsicht Voraussetzung des eigenen Daseins, und unvermeidbarerweise wirkt dabei das Verhalten aller Einzelnen auf jeden Einzelnen zurück, der seinerseits, ob er will oder nicht, das Verhalten aller auf seine Weise und im Rahmen seiner Möglichkeiten mitbestimmt. Konsequenterweise wendet sich Jesu Formulierung der Goldenen Regel nicht an diesen oder jenen einen Einzelnen, sondern an alle, an die Gemeinschaft aller, die Gottes Willen tun wollen. Egoismus und Ethik schließen einander aus. Ethik ist immer Sozialethik, denn niemand handelt, ohne dass er in Gesellschaft wäre. Auch die Sorge um sich, die jeden in unterschiedlichem Maße und verschiedenen Formen umtreibt, ist eingebettet in die Sorge anderer und für andere. Handeln freilich muss der Einzelne, Kollektive handeln nicht, was als ihr „Handeln“ erscheint, ist zusammengesetzt aus einzelnen Akten Einzelner. Darum sind moralische Appelle immer auch an den Einzelnen zu richten, ohne dass dieser deswegen als isoliertes Subjekt, als souveräner Herr des Verfahrens zu gälten hätte, im Gegenteil.

6.
Selbstverständlich darf Gott keine Ausrede sein. Kein Lückenbüßer für das eigene Versagen, die Welt zu erklären und mit Schlechten und Unangenehmen im Leben zurechtzukommen. Gott darf nicht missbraucht werden zur Beruhigung, Ablenkung, Verwirrung. Gewiss kommt es darauf an, Gott zu vertrauen. Aber das ist ein Aufruf zum Handeln, nicht dazu, sich bequem zurückzulehnen und zu sagen: Der Herrgott wird’s schon richten. Ja, Gott wird am Ende der Zeiten alles vollenden, aber er wird dabei Gericht halten über jeden einzelnen von uns und darüber, was wir getan und was wir gelassen haben. Dabei wird es nichts zählen, dass wir doch diese oder jene Überzeugung hatten und uns als gute Menschen fühlten, uns womöglich sogar Christen nannten. „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt. Viele werden an jenem Tag“ — dem Tag des Gerichtes — „zu mir sagen: Herr, Herr, sind wir nicht in deinem Namen als Propheten aufgetreten und haben wir nicht mit deinem Namen Dämonen ausgetrieben und mit deinem Namen viele Wunder vollbracht? Dann werde ich ihnen antworten: Ich kenne euch nicht. Weg von mir, ihr Übertreter des Gesetzes!“ (Mt 7,21 ff.) Stattdessen gilt: „Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. (…) Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,341b-36.40b) Es gibt vieles, das wir Gott überlassen müssen. Wir brauchen auch nicht alles zu wissen. Manches bleibt eine Herausforderung an den Glauben. Aber was wir tun können, müssen wir tun. Daran werden wir gemessen.

7.
Selbstverständlich habe ich Feinde. Jeder, der den Willen Gottes nicht tut, ist mein Feind. Er schadet sich und allen anderen, also auch mir. Wer zu Ausbeutung, Verblödung und Zerstörung beiträgt, ist mein Feind. Selbstverständlich bete ich für meine Feinde. Ich bete dafür, dass sie umkehren mögen. Ich habe aber wenig Hoffnung, dass sie es tun, und glaube nicht daran. Aber wenn sie es nicht tun, wird die Geschichte nicht gut ausgehen. Eine Geschichte sei dann zu Ende erzählt, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen habe, heißt es bei Dürrenmatt. Das nehme ich als geschichtsphilosophische These: Am Ende steht die Katastrophe, und wenn es nicht die totale Katastrophe ist, ist es nicht das wirkliche Ende. Dieses Ende muss und wird kommen. Es wird fürchterlich sein, womöglich auch fürchterlich banal, wie es das Böse im Grunde in seiner Grundlosigkeit immer ist. Es besteht zwar keine historische Notwendigkeit, dass alles übel ausgeht, aber die Erfahrung lehrt, dass es doch eher wahrscheinlich ist, dass die Menschen nicht umkehren, sich nicht der Gnade Gottes überlassen, nicht mit aller Kraft das Gute tun und das Böse unterlassen wollen. Eine gerechte und wohlhabende Gesellschaft, ein Zusammenleben ohne Unterdrückung und mit allseitiger Förderung von jedem durch alle wäre möglich, denn es gibt keinen Grund, warum sie unmöglich sein soll. Aber sie wird, in globalem Maßstab, sehr wahrscheinlich nicht zu Stande kommen. Allzu stark sind die Kräfte der Gier, der Selbstsucht, der Eifersucht, der Rachsucht, der Süchtigkeit überhaupt, der Eitelkeit, der Feigheit, all der Neigungen zum Bösen, zur Abwendung von Gott und dem Nächsten, die unser Zusammenleben bestimmen. Und allzu schwach sind wir, wenn wir uns nicht auf Gott stützen, und oft selbst dann, wenn wir vorgeben, das zu tun. Aus eigener Kraft, ohne die Gnade Gottes, vermag der Mensch nichts Gutes zu tun. Dies ist aber kein Mangel, als wäre der Mensch von Natur aus defekt, sondern selbst bereits ein Gnadenerweis: Gott hat den Menschen so geschaffen, dass er durch Gottes Gnade fähig ist, das Gute zu tun und das Böse zu lassen. Alles, was der Mensch dabei tun muss, ist, sich der Gnade nicht in den Weg zu stellen. So wie die Sonne auch dann scheint, wenn man ihr den Rücken zukehrt, ist Gottes liebende Zuwendung zum Menschen auch dann da, wenn der Mensch sich von Gott abwendet. Sich Gott zuzuwenden und seine Gnade ungehindert wirken zu lassen, darauf kommt es an. Weil ich darin nur zu oft versage, bin ich mein eigener Feind. Auch für diesen Feind bete ich.

8.
Gott glaubt an dich, ob du nun an ihn glaubst oder nicht. Er hält dir die Treue und sorgt für dich, auch wenn du nichts von ihm wissen willst. Er ist für dich da in guten und in schlechten Tagen, egal, ob du nun an ihn denkst oder nicht, dich nun um ihn kümmerst oder nicht, dein Leben an ihm ausrichtest oder nicht. Gott will dein Bestes, ob du ihn nun verstehst oder nicht. Gott weiß, was du tust und willst, und ist bereit dir alles Schlechte zu vergeben und mit dir und für dich Gutes zu bewirken, wenn du ihn nur lässt. Gottes Gnade wartet jederzeit auf dich, auch wenn du sie nicht verdient hast. Du kannst sie dir ohnehin nicht verdienen, sie ist ein Geschenk. Wende dich Gott zu und du wirst schon sehen. Gottes Liebe zu dir überwindet jedes Hindernis. Sogar deinen Unglauben. Du kannst dich auf Gott verlassen. Überlass deine Schwäche seiner Stärke, deine Feigheit seinem Mut, deine Zögerlichkeit seiner Entschlossenheit und deine Zweifel seiner Unerschütterlichkeit. Ohne Gott ist alles sinnlos, mit ihm ist nichts unmöglich. Lass dich erlösen. Das Übel in der Welt wird nicht das letzte Wort haben, denn das Endliche ist nicht das Ganze, der Tod ist nicht das Ende. Erst mit Gott ergibt alles einen Sinn. Andere haben das vor dir geglaubt: Nimm das Zeugnis der Überlieferung an und setze alles auf Gott. Wage den Glauben, die Hoffnung, die Liebe. Dann wird alles gut.