Eine kleine Theodizeeverweigerung Drucken
Zweifellos gibt es unzählige Fälle, deren Dimension mein Nagel-Hammer-Daumen-Beispiel vielfach übersteigt. Der Tod eines Kindes oder sonst eines geliebten Menschen an einer Krankheit oder bei einer Naturkatastrophe. Wer solches miterleben muss, den wird es aus der Bahn werfen, das ist nur zu verständlich. Und verständlich ist es auch, wenn in Schmerz und Verzweiflung dann der Gedanke auftaucht: Wie konnte Gott das zulassen?
Wenn jemand als Opfer eines Verbrechens oder eines fahrlässig herbeigeführten Unfalls stirbt, dann gibt es eindeutig jemanden der an dem Unglück schuld ist, auch wenn man ihn nicht kennt, auch wenn der Schuldige das Unglück nicht beabsichtigt hatte. Wie aber soll man damit umgehen, wenn es keinen erkennbaren Schuldigen gibt? Wenn ein Kind krank wird, die Ärzte ihr Möglichstes tun, aber das Kind trotzdem stirbt? Wenn ein Bergabhang plötzlich ins Rutschen gerät und Menschen unter sich begräbt? Die Hinterbliebenen werden außer Trauer wohl auch Wut verspüren, denn was da geschah, ist nicht gerecht, niemand kann etwas dafür, am wenigstens die Toten. Jeder kann verstehen, wenn in einer solchen Situation mangels eines anderen Schuldigen Gott angeklagt wird. Immerhin hat er die Welt eingerichtet, wie sie ist. Eine Welt, in der es Viren und Erbkrankheiten gibt, giftige Tiere und Pflanzen, Wirbelstürme, Sturmfluten, Erdrutsche und Erdbeben, Vulkanausbrüche, Waldbrände. Und schlechte Menschen.
Nicht immer ist menschliches Handeln als Ursache von Unglücksfällen erkennbar. Aber es ist auch nie weit entfernt. Nur dass es für die Eltern eines toten Kindes kein Trost ist, ihnen zusagen: Hättet ihr das Kind nicht gezeugt, hätte ihr ihm nicht euer Erbgut mitgegeben, es nicht bestimmten Umweltgiften ausgesetzt usw., dann wäre es nicht gestorben, weil es nie gelebt hätte. Und für die, die Angehörige und Freunde bei einer Naturkatastrophe verloren haben, ist es kein Trost, ihnen zu sagen: Hätten sie sich anderswo aufgehalten, könnten sie noch leben. Die Folgen menschlichen Tun und Lassens können so komplex und unüberschaubar sein, dass zwischen Handlung und Folge sehr oft gar kein Zusammenhang mehr erkennbar ist. Und vieles ist ja auch tatsächlich von Menschen nicht oder nicht zielgerichtet beeinflussbar. Die Welt ist nicht unserem Willen unterworfen. Was wir an ihr gestalten können, ist nur ein Teil von ihr. Was wir bewirken, übersehen und verstehen wir oft nicht. Die Ursachen dessen, was uns widerfährt, bleiben uns meist verborgen.Ist also Gott an allem schuld, weil er die Welt geschaffen hat und sie erhält? Was für ein merkwürdiger Gedanke. Hätte aus dieser Sicht Gott die Welt nicht schaffen sollen? Wenn es keine Menschen gäbe, könnte ihnen auch nichts Schlimmes passieren … Oder hätte Gott die Welt anders einrichten solle? Wie hätten wir sie den gern? So, dass alle lieb und nett zueinander sind und böse Taten keine böse Folgen haben? Nun, es ist ja aber gerade so, dass Gott, der Ursprung alles Guten, will, dass wir Gutes tun und Böses lassen. Er überlässt es allerdings uns, uns für das Richtige zu entscheiden, und hindert uns nicht, wenn wir eine falsche Wahl treffen. Ließe er uns nicht diese Freiheit, so wären wie eben nicht frei zum Guten, sondern, wie gesagt, Gottes Marionetten, oder, modern gesprochen, Roboter, die darauf programmiert sind, etwas zu tun, was sie „wollen“ müssen, also nicht wirklich wollen, sondern bloß willenlos ausführen.
Das Böse ist das, was nicht sein soll. Der Widerspruch zwischen dem, was sein soll, und dem was nicht sein soll, bedingt das Leid. Gott liebt jeden einzelnen Menschen und will nur sein Bestes. Gott will, dass es den Menschen gut geht, er will nicht, dass Menschen hungern und dürsten, frieren, Schmerzen haben, einsam sind usw. usf. Dass ihnen das alles trotzdem widerfährt, ist nicht Gottes Wille. Wie er am Ende der Zeiten, wenn diese Welt ein Ende hat und gerichtet wird, den Widerspruch zwischen seine Willen zum Guten einerseits und andererseits der Freiheit des Menschen, die zu Unheil missbraucht werden konnte, auflösen wird, können und müssen wie ihm überlassen. Das ist der Gegenstand der christlichen Hoffnung: Dass am Ende alles gut gewesen sein wird.
Bis dahin sollten uns angesichts all des Grauens in der Welt, all der Ungerechtigkeiten, all des Leidens, an der eigenen Nase fassen: Wie nütze ich meine Freiheit? Was an meinem Tun und Lassen ist gut, was ist schlecht? Was widerfährt durch mein Handeln anderen unmittelbar und, soweit ich weiß, mittelbar? Und wir sollten, außer Selbstkritik, durchaus auch Kritik üben: Was tun Menschen Menschen (und ihrer Umwelt) an? Welche Politik hat welche Folgen? Welche Strukturen reproduzieren immer und immer wieder dasselbe Unglück? Welche Institutionen könnten das verhindern? Was lässt sich ändern? Was muss sich ändern? Was ist Gottes Wille?
Gott braucht sich vor den Menschen nicht zu rechtfertigen. Er macht alles richtig. Er beruft uns dazu, selbst auch Richtiges zu tun. Er weiß, dass wir fehlbar sind, schwach und manchmal einfach bösartig. Er kommt uns zu Hilfe. Er bietet uns Vergebung an und befreit uns von Bösem, das uns zu verführen und verderben droht. Christen sagen: Jesus Christus, Gottes Sohn, hat uns durch Tod und Auferstehung ein für alle Mal losgekauft („erlöst“) von der Sünde, also von dem Tun und Lassen, das nicht sein soll, von dem, was wir selbst falsch machen, wie auch von dem, was andere für uns falsch gemacht haben („Erbsünde“). Durch Gott hat das Übel in der Welt nicht das letzte Wort.
Warum Gott etwas zulässt? Die Frage ist falsch gestellt. Sie will darauf hinaus, Gott zur Rede zu stellen und letztlich in Abrede. Darum empfehle ich die Gegenfrage: Welchen Gott lassen wir zu? Und was hieße es wirklich, Gott nicht zuzulassen? Wenn es Gott nicht gäbe, könnten wir dann überhaupt das, was sein soll, von dem unterscheiden, was nicht sein soll? Es ist doch dann einfach alles, wie es ist. Wie erklären wir aber in dem Fall das Leid, das uns und anderen widerfährt? Wieso widerspricht dann da etwas, das Übel, dem, was eigentlich zu ein hätte, dem Guten?
Wenn es Gott nicht gäbe, gäbe es auch keine Chance, dass am Ende doch das Gute endgültige Wirklichkeit wird, dann wären die Übel dieser Welt unaufhebbar, kein Leidender könnte ehrlich getröstet werden und die Toten blieben tot, als wären sie nie lebendig gewesen. Eine solche Welt will jemand?
Dass Unrecht geschieht und Menschen leiden, ist unbestreitbar. Unbestreitbar ist aber auch, dass das zum Himmel schreit und der Himmel nicht stumm ist. Gottes Antwort ist schon im Voraus gegeben: Ich bin für euch da. Auch wenn es euch in der Dunkelheit eures Daseins anders scheint. Ich bin inmitten eures Unglücks bei euch, und euer größtes Unglück wäre es, nicht an mich zu glauben und daran, dass das Heil über das Unheil triumphieren wird.
Statt also mit eine gewissen Überheblichkeit zu fragen, warum Gott etwas zulässt, das mir falsch erscheint, sollte ich Gott demütig darum bitten, das ich nicht zulasse, nicht mehr an seine Güte und Allmacht zu glauben. Wer nämlich versteht, von wem die Rede ist, wenn von Gott die Rede ist, wird davon Abstand nehmen, Gottes Handeln („Zulassen“ versus „Eingreifen“) mittels des endlichen menschlichen Verstandes beurteilen zu wollen, und sich damit bescheiden, auf Gottes Liebe zu vertrauen, auch gegen allen Anschein, gegen alle Anfechtungen, gegen alle Widersprüche. 
Das menschliche Vermögen reicht gerade aus, um die Gotteserfahrung im Glauben so weit auf den Begriff zu bringen, dass mit Gewissheit gesagt werden kann, dass Gott gut ist und das Gute will. Dafür, Gott vor ein imaginäres Gericht zu stellen, ihn anzuklagen und Rechtfertigung von ihm zu verlangen („Theodizee“ nennt man das in der Philosophie), reicht es bei Weitem nicht aus. Wer derlei dennoch versucht, überschätzt sich und geht notwendig in die Irre. Dass der Widerspruch von Gottes Willen und irdischer Realität von den Menschen schmerzlich erfahren wird, ist nur zu verständlich. Aber man darf sich von Trauer, Wut, Selbstmitleid nicht überwältigen lassen, sondern der halbwegs nüchterne Verstand muss sich der Anmaßung verweigern, den Widerspruch dem anzulasten, der allein ihn aufzulösen vermag. Gott ist gut und auf unserer Seite. Mehr geht nicht.