Schwule als Exoten Drucken

Was ist Exotismus? Ein Lexikon gibt darauf die eindrucksvolle Antwort, es handle sich um die „eurozentrische Sonderform des von Europa ausgehenden epistologischen Imperialismus, der sich vor allem auf Kulturen in Afrika, Asien und Südamerika bezieht und als Wegbereiter oder ideologische Legitimationsinstanz von politisch-ökonomischen Dominanzansprüchen fungiert. Im engeren Sinn ein zumindest oberflächlich positiv besetztes Heterostereotyp als normatives Korrektiv von Fehlentwicklungen in der zumeist europäischen Ausgangskultur, im weiteren Sinn jede imaginäre Überschreibung einer fremden Kultur. (…) Je nach dem Interesse des europäischen Beobachters konsolidieren sich die Wahrnehmungen zum Negativ-Heterostereotyp, vor dem die Herrschaftskultur ihre Überlegenheit in zivilisatorischer, moralischer, religiöser oder ökonomischer Hinsicht begründet und implizit oder explizit ein Eingreifen in die Autonomie des meist mit primitivistischer Naturnähe assoziierten fremden Kulturkreises legitimiert; historisch seltener wird die kulturelle Alterität als positives Gegenbild konstruiert, wie in Rousseaus ‘Edlem Wilden’ (…). Das ambivalente Heterostereotyp, dass dunkelhäutige Völker ein ‘spontaneres’ bzw. ‘ primitiveres’ Verhältnis zu ihrer Sexualität besitzen als die Weißen, taucht bereits in den ersten Reiseberichten des Mittelalters in diesem Zusammenhang auf. — Die Übergänge zwischen Exotismus und Xenophobie sind fließend, da sich im Exotismus angstbesetzte, aus dem kulturellen Autostereotyp verdrängte Wünsche konzentrieren, welche Begehren, aber zugleich Haßgefühle auf die fetischisierten Opfer der Projektionen als Repräsentanten des verbotenen Eigenen wecken.“1
Eine etwas schlichtere Beantwortung der Frage, was ein Exot sei, könnte die folgenden, sehr vorläufigen Kriterien nennen:
1. Der Exot kommt von außen (griech. exotikos — fremd, fremdländisch), er gehört einer fremden Kultur an.
2. Der Exot ist primitiv, entweder im Sinne völliger Unterlegenheit oder einer vorbildlichen Ursprünglichkeit.
3. Der Exot macht Differenz sichtbar, denn seine Präsenz stellt das Normale und Normative entweder in Frage oder bekräftigt es.
4. Der Körper des Exoten ist erotisch besetzt.
Werden sie so allgemein und einfach formuliert wie hier, lassen sich die vier Merkmale nun offenkundig nicht bloß auf Angehörige außereuropäischer Kulturen anwenden, sondern, gleichsam „inlands-ethnologisch“, auch auf solche Menschen, die in der öffentlichen Wahrnehmung nicht oder nicht vollständig mit den kulturellen Normen übereinstimmen, so dass sie eine grundlegende und ihre gesamte Existenz betreffende Abweichung repräsentieren. In diesem Sinne soll im folgenden argumentiert werden, dass und warum männliche Homosexuelle in der sie umgebenden heterosexuellen Kultur als Exoten fungieren. (Und wie etwas dagegen zu machen wäre.)


Homosexualität als Exotik
Schon Sigmund Freud stellte mit dem eher beiläufigen Hinweis, „man findet sie [die Homosexualität] ungemein verbreitet bei vielen wilden und primitiven Völkern“2, einen — zugegebermaßen recht undeutlichen — Zusammenhang zwischen dem kulturellen Exotentum der Nichteuropäer und der Sonderstellung eines bestimmten Typs sexueller Abweichungen her. Inwiefern männliche Homosexuelle in einem allgemeinen Sinn tatsächlich als Exoten gelten können, ist anhand der oben genannten Merkmale leicht zu zeigen.
1. Der männliche Homosexuelle wird als Angehöriger einer besonderen, von der heterosexuellen Mehrheitskultur unterschiedenen und zugleich stark auf sie bezogenen Subkultur vorgestellt, in der besondere Verständigungs- und Verhaltensregeln gelten. Ob tatsächlich alle Schwulen oder auch nur die meisten von ihnen sich innerhalb dieses sozialen Netzwerkes bewegen, ist für die öffentliche Wahrnehmung irrelevant. Bemerkenswert ist allerdings der Wandel in der Wertung der Subkultur innerhalb der letzten Jahrzehnte: Aus verschwiegen Orten des Lasters sind Stätten fröhlicher Freizeitgestaltung geworden, an denen sich unter Umständen auch Heterosexuelle (nicht zuletzt als Pärchen) gerne zeigen, sei es, um die kulturelle Alterität zu studieren oder zu goutieren oder bloß, weil es chic ist.
2. Der männliche Homosexuelle ist zurückgeblieben, im psychosexuellen Sinne primitiv. Zumindest wenn man dem weitverbreiteten fach- und vulgärpsychologischen Deutungsmuster folgt, das Homosexualität als Verfehlung eines Entwicklungszieles sieht. Während gleichgeschlechtliche Gefühle und Verhaltensweisen als not- und durchgangsbedingt entschuldigt werden, gilt der Schwule als jemand, der es nicht geschafft hat, zur vollen Entfaltung normaler Sexualität zu gelangen. Auch wenn dieses ätiologische Modell längst nicht mehr unangefochten ist, bleibt es doch wirkungsmächtig, weil es erlaubt, die lebensgeschichtlich bedeutsame Verdrängung von Homosexualität als wertvolle Weiterentwicklung zur Heterosexualität zu denken. Als Nicht-Heterosexueller steht der Schwule jedenfalls angeblich der „ursprünglichen Bisexualität“ näher, was die sonst als verwerfliche Regression zu deutende Homosexualität für manche mit dem nostalgischen Hauch guter, noch nicht reglementierter Sexualität umgibt.
3. Der männliche Homosexuelle ist ein invertierter heterosexueller Mann. Homosexualität erscheint in der öffentlichen Wahrnehmung durchwegs als Heterosexualität mit umgekehrten Vorzeichen, sie erhält ihren Sinn nur in der Differenz zum Normalen. Ohne das Abweichende freilich würde eben das Normale als etwas Abgegrenztes und immer wieder neu Herzustellendes gar nicht sichtbar; wie denn auch der Begriff Heterosexualität historisch gesehen eine Analogiebildung zu Homosexualität ist, nicht umgekehrt.
4. Dass der Körper des männlichen Homosexuellen erotisch besetzt ist, braucht wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden. Schwule werden so oder so vorzugsweise auf ihr Sexualverhalten reduziert. Die öffentliche Repräsentation nimmt sich dabei vor allem der Aspekte Jugendlichkeit und Attraktivität an. Aber der Schwule ist nicht nur tendenziell begehrenswert — weil er das Verbotene, in der eigenen Lust ausgeschlossene am eigenen Leib repräsentiert —, er ist nicht zuletzt auch begehrend und zwar dauernd: Der Schwule will immer und jeden.

Klischee, Wahrheit und Macht
Man sieht, es fällt nicht schwer, Schwule anhand von vier schlichten Kriterien als Exoten zu bestimmen. Derselbe Zusammenhang ließe sich selbstverständlich auch mittels des komplexeren Vokabulars des oben zitierten Lexikon-Artikels aufzeigen, wobei dann eben von mal positiven, mal negativen Heterostereotypen, von politisch-ölkonomischen Dominanzansprüchen, von epistemologischem Imperialismus und von Hassgefühlen auf die fetischisierten Opfer der Projektionen als Repräsentanten des verbotenen Eigenen die Rede wäre.
In jedem Fall aber soll es hier ausdrücklich nicht darum gehen, zu beklagen, dass über schwule Menschen Klischees im Umlauf sind, dass — im besseren Fall wegen Unwissenheit, im schlechteren Fall wegen Widerwillens, im gewöhnlichen Fall aus beiden Gründen — falsche Anschauungen das Bild bestimmen. Das mag schon so sein, interessiert hier aber nicht, weil es nicht darum gehen soll, „Vorurteile“ durch die „Wahrheit“, fehlerhafte durch korrigierte Meinungen zu ersetzen, sondern darum, das Funktionieren von Meinungen zur Homosexualität als solches zu untersuchen.
Wenn man davon absieht, ob dieses oder jenes stimmt, in welchem Sinn oder wie sehr — dann stellt sich umso dringlicher die Frage, warum überhaupt dieses und jenes gedacht, geglaubt, geäußert wird. Eine historische Untersuchung der homosexuelle Männer betreffenden Heterostereotypen würde zeigen, dass nicht nur deren Inhalte gewisse Diskontinuitäten aufweisen, sondern dass vor allem die Wertung der jeweiligen Zuschreibungen sich verändert. Anders und stark vereinfachend gesagt, existiert der Schwule zu einer Zeit als ein verwerfliches oder bedauernswertes Geschöpf, zu einer anderen als Trendsetter neuer Lebensstile. Oder eben, und darin liegt eine unaufhebbare Schwierigkeit, auf eine vertrackte Weise als beides zugleich.) Was sich aber gegenüber den Wertungsschwankungen in jedem Fall durchhält, ist die ihnen zugrunde liegende Struktur der Verteilung von Beschreibungs-, Deutungs- und Bewertungsmacht.
„Die Bezeichnung ‘homosexuell’ beschreibt (…) eine Personengruppe, der es untersagt ist, sich selbst zu definieren; die Bezeichnung soll immer nur gleichsam von anderswo zugeschrieben werden. (…) Ein Homosexueller ist jemand, dessen Definition anderen überlassen bleibt, jemand, dem der Akt der Selbstdefinition hinsichtlich seiner (…) Sexualität verweigert wird (…)“, schreibt Judith Butler.3 Es sind nun aber eben die Hetersosexuellen, die darüber verfügen, was und wie die Homosexuellen sind — „sind“ eben nicht im Sinne realer Existenz oder eines Selbstverständnisses, sondern im zwar vordergründigen, aber wirkungsmächtigen Sinne des Wahrgenommenwerdens. Berkleys Satz esse est percipi gilt eben vor allem für die, die aufgrund ihrer soziokulturellen Außenseiterposition nicht jedenfalls nicht entscheidend darüber bestimmen, welche Wahrheitseffekte der Diskurs über ihr Sein zeitigt.
Umso dringlicher wären freilich gerade die schwulen Aktivisten darauf verwiesen, statt in ihrer Öffentlichkeitsarbeit ausschließlich Wahrheitsprobleme zu bearbeiten („Toleranz durch Aufklärung“), endlich die Machtfrage zu stellen. Die heterosexuelle Hegemonie mag einschüchternd und erdrückend sein, solange sie nicht herausgefordert wird, bleibt sie jedenfalls unangefochten. Gerade der Umstand, dass Wissen und Einstellungen zum Positiven veränderbar sind, verweist doch darauf, dass dieser Prozess auch umkehrbar ist, je nachdem, wer ihn in welche Richtung beeinflusst. Und dass dabei im Zweifelsfall diejenigen die Stärkeren sind, die nicht die Interessen von Schwulen im Sinn haben, steht wohl außer Frage. Aber müssen sie die Stärkeren bleiben? Gibt es keinerlei Möglichkeiten des Widerstands und der Gegenmacht? Dazu müsste freilich schwule Informationspolitik endlich schwule Informationspolitik werden.

Typologie der öffentlichen Schwulen
Welche Figuren sind es aber nun konkret, deren Verkörperung von der heterosexuell dominierten Öffentlichkeit immer wieder eingefordert werden? Vier einander zum Teil überlagernde oder in einander übergehende Grundtypen lassen sich unterscheiden: die Tunte, der Schwächling, der Mörder, der Künstler.
Die Tunte ist die klassische Figur. Als Ausnahmezustand ist sie mit allen anderen Typen kombinierbar. Sie repräsentiert den Paradiesvogel par excellence. Sie überschreitet die Grenzen des Natürlichen und Moralischen, die grenzen des Geschmacks und der Alltäglichkeit. Sie ist die Verkörperung der Übertreibung: zu bunt, zu laut, zu hektisch. „Alles an ihr ist toupiert, onduliert, parfümiert, manikürt, gefärbt, geföhnt, getönt oder sonstwie künstlich aufbereitet. So gesehen ist sie quasi ein Pionier der virtuellen Realität.“4 Ausgerechnet dieser Form der Maskerade allerdings zu unterstellen, dass sie „die konventionelle Geschlechter-Rollenverteilung entlarven“5 wolle, ist freilich wenig überzeugend. Im Grunde ist die Tunte vor allem ein Reflex auf die kulturstiftende Überzeugung, dass männliches Begehren nicht Männern gelten kann, weshalb, wer Männer liebt ein Frau sein muss — oder eben wie eine Frau. Der Effeminierte kann daher als das Urbild des Schwulen überhaupt gelten.
Ist die Tunte das Übermaß, das Zuviel, die Zumutung, verkörpert der Schwächling hingegen das Zuwenig. Er ist kein richtiger Mann, schafft es aber auch nicht, sich wie die Tunte als Frau zu geben. Seine Schwäche manifestiert sich körperlich, ist aber im Grunde moralischer Natur. Sein Mangel ist vor allem Unfähigkeit: Da er nicht „richtig“ ficken kann, fehlen ihm auch andere Kennzeichen richtiger Männer: Schwule können bekanntlich nicht pfeifen, keine Bälle werfen, sich nicht zusammennehmen usf. Der Schwächling ist der ständig Gefährdete, ihm drohen verbale und körperliche Gewalt. Anders als die tunte, die eine Art verquere, aber aktive Reaktion auf die ihr begegnende Ablehnung lebt, bleibt der Schwächling der gesellschaftlichen Gewalt bloß ausgeliefert. Er muss Verachtung fürchten und kann allenfalls auf Mitleid hoffen — etwa in der besonderen Figur des Kranken, wenn nicht gerade dessen Todesbezogenheit ihn wieder verdächtig und zu einem zu Meidenden macht.
Der Mörder ist die aggressive Variante des Pathologischen, das in der Hysterie der Tunte und der Defizienz des Schwächlings bereits sichtbar wurde. Die Verbindung von (männlicher) Homosexualität und Tod — vermittelt durch Motive der Ansteckung und Verseuchung, die lange vor AIDS verbreitet waren — nimmt in ihm kriminelle Formen an. Der Lustmord ist gleichsam Konsequenz und Höhepunkt einer nicht ins Reproduktive eingebundenen Sexualität. Wichtig für den öffentlichen Gebrauch (etwa im Kinofilm) ist, dass am Ende der Mörder immer auch selbst zu Tode kommt.
Als Künstler — im weitesten Sinne — legt der Homosexuelle seine bedrohlichen Züge weitgehend ab, behält aber die pathologischen oder doch anomalen bei. Seine Abnormität ist freilich nicht mehr gegen die Gesellschaft gerichtet, sondern einfach der Preis, den er für seine überdurchschnittliche Sensibilität und Kreativität zu bezahlen hat. Das Spektrum des Typus „Künstler“ reicht vom Damenfriseur bis zu Michelangelo. Er darf exzentrisch sein wie die Tunte, aber seine „Weiblichkeit“ realisiert sich nicht bloß in der Selbststilisierung, sondern in seinen künstlerischen Hervorbringungen.

Krise der Homoexotik
Zugegebenermaßen ist die mit den vier Grundtypen skizzierte klassische Form des schwulen Exotismus im Rückzug begriffen. Männliche Homosexuelle sind zwar nach wie vor nicht kulturell gleichberechtigt, aber im letzten Vierteljahrhundert wurden in den westlichen Industriegesellschaften die produktiven Aspekte des Schwulenbildes stärker akzentuiert. Auf die Avantgardefunktion der schwulen Subkultur für die Mainstream-Popkultur kann hier nur beiläufig verwiesen werden. Zudem versteht es sich wohl von selbst, dass die vier Grundtypen erheblichen Veränderungen je nach Zeit, Ort und persönlichem Geschmack unterworfen sind.
Vor allem aber zeigt sich aufgrund eines veränderten gesellschaftlichen Umgangs mit den eigenen Wunschvorstellungen auch eine grundlegende Verschiebung im typologischen Gefüge: Die Tunte wurde vom Ausnahmezustand zum Ausnahmefall. Insgesamt mutierte der Schwule von der bösen Schwester zum lieben Bruder. Einer neuer Übertypus tauchte auf: der Brave. In ihm verkörpert sich eine Homosexualität, die der Heterosexualität aufs Haar gleicht — mit einem kleinen, als nicht mehr bedeutend ausgegebenen Unterschied. Der Brave braucht anders als die Tunte und der Künstler nicht mehr originell und witzig zu sein, er darf langweilen. Dafür ist er eben auch nicht mehr bedrohlich. Er bestätigt die Kontinuität des Normalen bis in die gesellschaftlichen Nischen hinein. Der Brave ist sauber, ordentlich, fürsorglich, höflich, unaufdringlich usf. Kurzum, er ist ein guter Mensch, weshalb er hin und wieder auch in andere Rollen zurückfallen, genauer: sie vorübergehend annehmen darf. Die ganze Woche über ein sympathischer Kollege, wirft er sich am Wochenende in Lederkluft oder Fummel.
Der Brave ist die tolerierte, akzeptierte und weitgehend integrierte Fassung, in die die Hetero-Mehrheit unter tatkräftiger Mithilfe der Homo-Minderheit den vormals ausgeschlossenen — damit freilich potenziell auch kultursubversiven — Schwulen gebracht hat. Nur bedeutet das nicht, dass die „Negativ-Heterostereotype“ überwunden und verschwunden wären. Zum einen erhalten sie sich, aufgrund der für jede soziokulturelle Entwicklung charakteristischen immanenten Ungleichzeitigkeit, in gewissen Nischen, die vom Mentalitätswandel nicht oder erst spät erreicht werden. Zum anderen sind sie jederzeit wieder abrufbar.
So war es in den frühen achtziger Jahren, als AIDS zum Thema wurde, erstaunlich, wie gleichsam über Nacht — den Errungenschaften der sexuellen Revolution, des Feminismus und der Schwulenbewegung zum Trotz — aus den eben erst zu einer bescheidenen Wohlanständigkeit gelangten homosexuellen Mitbürgern wieder Kranke, Perverse und (wegen der Ansteckungsgefahr) Kriminelle wurden. Es kostete die sogenannte gay community viel Arbeit und eine grundlegende Verschiebung ihrer politischen Ausrichtung6, bis aus den Verfemten wieder einigermaßen akzeptable Gesellen werden durften.
Immerhin zeigt diese Episode in der Geschichte antihomosexueller Repression, dass es nicht darauf ankommt — strategisch gesehen; für den einzelnen sehr wohl —, worin die vorherrschende Meinung über die Schwulen besteht, sondern darauf, dass es eben die vorherrschende ist. Und dass darüber hinaus diese Vorherrschaft mit der der Heterosexuellen in eins fällt. Heterosexuelle Interessen, Wahn- und Wunschvorstellungen regulieren das Bild der homosexuellen Männer in der Öffentlichkeit, relativ unabhängig von jeder gelebten Realität.

Funktionen schwuler Exotik
Das jeweilige Bild, das sie sich von den Schwulen macht, hat für die heterosexuell dominierte Öffentlichkeit immer eine bestimmte Funktion. Diese wegen der Verschiedenheit der Bilder verschiedenen Funktionen haben einen gemeinsamen Nenner: Der Homosexuelle als sexueller Exot dient der Selbstvergewisserung der heterosexuellen Gesellschaft und ihrer „normalen“ Mitglieder.
So verkörpert etwa die Tunte zwar nicht die Aufhebung der symbolischen Ordnung der Geschlechter, aber deren vorübergehende Außerkraftsetzung. Man lacht über und bestenfalls sogar mit dem Mann-als-Frau. Die Natürlichkeit der Geschlechterverhältnisse wird durch ihre karnevalistische Re-Inszenierung in Frage gestellt, ihre Dominanz bleibt dabei freilich völlig unberührt — und erweist sich gerade dadurch als besonders dynamisch. Nach dem Motto: „Wir sind ja (zum Glück) nicht so“, erlaubt man sich vielleicht für einen Moment das Gedankenspiel, was wäre wenn …, aber allzu schrill, lächerlich, schwächlich, gefährlich und gefährdet will man aber dann doch nicht sein. Entweder freut man sich darüber, daß man ja könnte, wenn man wollte, oder darüber, daß man eben im Grunde nicht kann — was die eigene identitätsstiftende Verkoppelung von Geschlechtszugehörigkeit und sexueller Orientierung erst recht aufs Schönste bestätigt.
Analoges ließe sich vom Schwächling, vom Mörder, vom Künstler sagen. Ob man sich als Heterosexueller und Heterosexuelle diesen Gestalten nun amüsiert zu-, sich vor ihnen geängstigt um- oder von ihnen angewidert abwendet: Wie gut ist es doch, daß man an Leib und Seele gesund, von bravem Bürgersinn geleitet und von keinerlei übermäßiger Sensibilität und Kreativität angekränkelt ist. Die „normalen“ Reaktionen auf Homosexuelles sollten jedoch nicht auf eine bloß individuelle „Homophobie“ reduziert werden. Nicht, was der oder die einzelne Heterosexuelle so empfindet, denkt oder tut, ist entscheidend, sondern die ihn und sie ebenso wie die homosexuellen Männer und Frauen bestimmende soziokulturelle Struktur.
In den von ihr regulierten und disziplinierten Zerrbildern erkennt die Gesellschaft ihre Ideale wieder. Der Umgang mit dem Aus- und Eingeschlossenen mag einem historischen Wandel unterworfen sein, wichtig ist, wie bereits mehrfach betont, daß die Verfügung darüber nicht bei den Homosexuellen-Darstellern liegt. Sondern im Rahmen der kulturellen Hegemonie verbleibt. Auf diese Weise kann Homosexualität umstandslos zur Sache der Homosexuellen erklärt, also vom ureigensten Problem zu einem von „denen“ gemacht werden.
„Das homosexuelle Subjekt entsteht durch einen Diskurs, der ‘Homosexualiät’ benennt und diese Identität als einen Verstoß gegen gesellschaftliche Normen definiert und zugleich hervorbringt.“7 In diese Zange gleichzeitiger Erzeugung und Verneinung genommen, bleibt dem Schwulen nicht mehr viel anderes übrig, als auf auffällige Weise unauffällig zu bleiben, sich nur wenig Greifbares zuschulden kommen zu lassen, kurzum: möglichst brav zu sein.
Die jeder Sexualität zugrunde liegende heterosexuelle Matrix erzeugt mit ihrer Hegemonie kompatible Homosexuelle, indem diese auf die kulturell vordefinierten Typen festgelegt werden. Je deutlicher diese den allgemeinen Erwartungen entsprechen, umso besser kann man sich ja von ihnen unterscheiden. Und auch wo diese Abgrenzung völlig unaggressiv vollzogen wird, übt sie doch denen gegenüber Gewalt aus, die — nach dem bewährten Spruch „Ausnahmen bestätigen die Regel“ — als Gegenbeispiele des Normalen herhalten müssen.

Kritik einer Politik der Sichtbarkeit
Das alles aber bleibt selbstverständlich nicht ohne Rückwirkungen auf das Selbst-Bild der Schwulen. Dieses ist nämlich nicht automatisch „richtiger“ oder „authentischer“ als die Schwulen-Bilder der Heterosexuellen. Auch Selbstbilder sind komplex konstruiert (und nicht simple Widerspiegelungen) und sind genauso unter bestimmten Bedingungen produziert wie Bilder von Fremden.
Dies zu übersehen, hat Konsequenzen. In dem selben Maß nämlich, in dem man glaubt, die anderen hielten einen für den- und dasselbe wie man selbst — oder könnten einen bei ausreichender Information doch immerhin dafür halten —, in dem Maße also, in dem Selbst- und Fremdbeurteilung scheinbar oder auch tatsächlich zusammenfallen, wird das eigentliche Problem jeder Politik der Repräsentation, das Machtgefälle, unkenntlich. Wo nur noch eine, zudem mehr oder minder als zufriedenstellend empfundene Wahrheit herrscht, übersieht man leiht, daß sie eben genau das tut: sie herrscht.
Mit dem in Zeiten relativer, wenn auch (siehe oben) prekärer Schwulenfreundlichkeit nur allzu verständlichen blinden Fleck der ungestellten Machtfrage vor Augen, fällt es recht leicht, die bevorzugte Strategie der — wenn überhaupt noch vorhandenen — politischen Schwulenbewegung in den neunziger Jahren auf einen einzigen Begriff zu bringen: „Sichtbarkeit“. Um Toleranz zu gewährleisten, Akzeptanz zu fördern und Integration zu erreichen — dies die bevorzugten Anliegen —, müßten Schwule (und Lesben) sich bloß sichtbar machen. Die individuelle Patentlösung heißt Coming-out, die kollektive Gay Pride Parade (oder eben Regenbogen-Parade). Die derlei als unabdingbare form politischen Handelns einfordern, sind vom festen Glauben beseelt: Wenn die Heterosexuellen die Homosexuellen nur endlich in genügendem Maße wahrnähmen, dann sähen sie schon, wie normal sie wären.
Diese Strategie ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, Nicht etwa, daß es nicht jederzeit möglich wäre, „ganz normale“ Schwule vorzuführen, bei deren Anblick sich niemand abgestoßen oder bedroht fühlen muß. Aber diese ja auch längst stattfindende Vorführung wird ständig sowohl unterlaufen als auch in Frage gestellt von etwas ganz anderem. Nämlich von der zwangsläufigen (Selbst-)Darstellung der Schwulen als „Paradiesvögel“, als von der Norm abweichende, teils komische, teils lächerlicher, teils traurige, teils riskantem teils bizarre — Exoten.
Die Propagandisten der Sichtbarkeit übersehen oder verschweigen hartnäckig eine ganz wesentliche Tatsache, daß nämlich alle von ihnen angestrebten Akte der Sichtbarmachung notwendigerweise an ein heterosexuelles Publikum gerichtet sind.
Der Schwule als historisch gewordene und noch werdende Figur ist niemand, der sich selbst erfunden hat. Oder vielmehr: jemand, der sich selbst unter den Bedingungen der Fremdbestimmung erfinden muß. Indem nun Schwule ihre vermeintlichen oder — es spielt nur gar keine Rolle — völlig echten Selbst-Darstellungen an eine Öffentlichkeit zu richten gezwungen sind, die Teil der sexuellen Hegemonie ist, nehmen sie darin mehr oder minder genau jenen Platz ein, den diese ihnen zugesteht, wenn nicht sogar zuweist. Und dies führ dazu, daß die Darstellung, verzerrt hin, korrekt her, nicht in derselben Weise im schwulen Interesse sein kann, als bestimmten Schwule die Darstellungsbedingungen selbst. „Die Homosexuellen sind eine öffentliche Kategorie und als solche ohne Publikum überhaupt nicht zu denken“, schreibt Rüdiger Lautmann.8 Es gibt aber keine richtige Darstellung vor dem falschen Publikum.

Störpraktiken und Schluß
Während also Integration darauf abzielt, sich in die unverändert fortbestehenden Verhältnisse einzufügen. Läuft Sichtbarkeit darauf hinaus, innerhalb einer unverändert heterosexuellen dominierten Öffentlichkeit zu funktionieren. Und da die „Interessen“ und „Absichten“ der hegemonialen Heterosexualität ganz andere sind als die der sich ihr durch Sichtbarmachung andienenden Homosexuellen. Produziert die Strategie des „Mach dein Schwulsein öffentlich“ im Ganzen nicht ein Mehr an Ehrlichkeit, Offenheit und Verständnis, sondern ein Weiterso an Absonderlichkeit. Solange es den Schwulen nicht gelingt, sich nicht mehr einfach den hegemonialen, also heterosexuellen Blickverhältnissen auszusetzen, sondern die Bedingungen und Gestaltung von Öffentlichkeit selbst zu bestimmen, kann bei der vom mainstream der Schwulenbewegungsreste favorisierten Strategie der Sichtbarmachung nichts anderes herausschauen als das Übliche: Wer so schwul ist, wie die Heterosexuellen ihn haben wollen, bleibt ein Exot.
Müssen die Schwulen aber nun unbedingt Exoten sein? Zunächst einmal: Sie sind es eben. Dieses Eingeständnis könnte der Anfang einer veränderten Politik sein. Der zweite Schritt wäre die Erkenntnis, daß sie es zu sein haben, weil die hegemoniale Matrix der Heterosexualität ihnen bestimmte Funktionen zuweist. Drittens aber müßte verstanden werden, daß, wo es Macht gibt, auch Widerstand sich entfalten kann.
Selbstverständlich ist es unmöglich, den schwulen Exotismus einfach per declarationem abzuschaffen. Zu sehr ist er in das Selbstverständnis auch der „Exoten“ eingegangen, zu strak ist das gesellschaftliche Bedürfnis, ihn zu reproduzieren. Aber es müßte möglich sein, von ihm einen parodistischen, travestierenden, einen ironisierenden Gebrauch zu machen.
Es gilt sozusagen „Störpraktiken“ im Butlerschen Sinne zu kultivieren: „Die kritische Aufgabe besteht darin, Strategien der subversiven Wiederholung auszumachen (…) und die lokalen Möglichkeiten der Intervention zu bestätigen, die sich durch die Teilhabe an jenen Verfahren der Wiederholung eröffnen, die Identität konstituieren und damit die immanente Möglichkeit zu bieten, ihnen zu widersprechen.“9 Sehr viel einfach gesagt: Wenn man schon immer wieder ein Exot sein muß, weil die Hegemonie der Nichtexoten einen dazu zwingt, dann aber so, daß man beim Exotsein den Erwartungen möglichst wenig entspricht und das Exotische immer wieder ein bißchen mehr gegen den Strich bürstet. „Denn eine kritische Produktion alternativer Formen von Homosexualität hat die Aufgabe, Homosexualität von ihren Figuren im herrschenden Diskurs abzulösen, besonders wenn diese die Form von Angriff oder Krankheit annehmen.“10
Die setzt allerdings eine radikale Neuorientierung politischen Handelns in Gang. Die Produktion von Selbst-Darstellungsinhalten müßte endlich auch als Auseinandersetzung mit den Prodktionsverhältnissen, also den Bedingungen des Exotismus-Diskurses praktiziert werden. Die Schwulen müßten somit individuell und kollektiv darauf hinarbeiten, nicht mehr bloß allenfalls gesehen werden zu wollen, sondern jedenfalls die Sichtverhältnisse in Frage zu stellen und bestenfalls unter möglichst selbstgewählten, selbstbestimmten Bedingungen das und so sehen zu lassen, was und wie sie wollen.
Eine zugegebenermaßen (und erfreulicherweise) unabschließbare Arbeit: „Sosehr es darauf ankommt, andere Figuren zu schaffen, um (…) der Homosexualität eine Zukunft zu erhalten, bleibt doch immer eine Distanz zwischen der Benennung ‘Homosexualität’ und dem, was diese niemals ganz anrufen kann. Diese Distanz untergräbt die Macht jeder Figur, die gleichsam ‘das letzte Wort’ zur Homosexualität beansprucht. Gerade diesem letzten Wort müssen wir, meiner Ansicht nach, zuvorkommen.“11


Anmerkungen
1 Hoeschen, Andreas: „Exotismus“, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler-Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart 1998, S. 138 f. (Abkürzungen wurden ausgeschrieben, Querverweise getilgt.)
2 Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Leipzig 1905; hier zitiert nach der Taschenbuchausgabe, Frankfurt a. M. 1991, S. 41.
3 Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 151
4 Stefan Kring: Perfekt schwul! Für Anfänger und Fortgreschrittene, Berlin 1996, S. 151.
5 Sebastian Castro: Das schwule Lexikon. Szene, Alltag, Sex, Personen, Frankfurt a.M. 1995, S. 165.
6 Zur Veränderung schwul-lesbischer Politik durch die „AIDS crisis“ siehe: Urvashi Vaid: Virtual Equality. The Mainstreaming of Gay & Lesbian Liberation, New York 1996.
7 Butler, a.a.O., S. 174.
8 Rüdiger Lautmann, Der Homosexuelle und sein Publikum. Ein Spagat zwischen Wissenschaft und Subkultur, Hamburg 1997, S. 7.
9 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter Frankfurt a.M. 1991.
10 Butler, a.a.O., S. 179.
11 Ebd.

 

Dieser Text erschien in "Weg und Ziel Nr.2/1999" unter dem Titel "Schwule als Exoten. Anmerkungen zu einer sozialen Konstruktion".