Warum ich Nichtwähler bin Drucken

Radikale Demokratie und Anarchie sind so gesehen für mich Synonyme und bezeichneten ein politisches System, in dem jeder bei allem, was ihn etwas angeht, mitreden darf und in dem er mitentschieden haben muss, damit Entscheidungen als legitim betrachtet werden können. Das kann nicht funktionieren, lautet sofort der Einwand. Das ergibt nur endloses Gequatsche und letztlich völlige Blockade, weil es immer jemanden gibt, der sich querlegt. Nun, ich habe auch nicht gesagt, dass Anarchie „funktionieren“ wird, ich sage, dass ich sie mir wünsche. Das Wünschbare braucht mit dem Machbaren nicht immer identisch zu sein, denn dürfte man sich nur wünschen, was machbar ist, wäre bald nur noch wünschenswert und erwünscht, was sowieso gemacht wird.
Ich halte mein Wunschdenken aber für kritischen Realismus. Eine andere Wirklichkeit ist möglich! Wäre sie es nicht, wäre jede Kritik am Bestehenden sinnlos. Daraus folgt selbstverständlich nicht, dass immer alles möglich ist. So erscheint es mir zwar jetzt schon als wünschenswert und machbar, auf radikale Demokratie hinzuarbeiten, sie aber spontan global und restlos umzusetzen mit den Menschen, so wie sie heute drauf sind, halte ich für eher schwierig bis unmöglich. Miteinander umzugehen, ohne einander beherrschen zu wollen, das muss man nämlich erst lernen.
Allerdings ist es im Grunde die selbstverständlichste Sache von der Welt. Man stelle sich vor, eine paar Freunden verabredeten sich, gemeinsam ins Kino zu gehen. Welchen Film sollen sie sich anschauen? Einige wollen diesen, andere jenen. Hat es da Sinn, abzustimmen und die Mehrheit entscheiden zu lassen? Warum soll sich jemand einen Film anschauen, den nicht er, sondern jemand anderer sehen will? Und was, wenn es zum Beispiel nur zwei Leute sind? Da ergäbe jede Abstimmung entweder Einstimmigkeit oder ein Patt. Und doch schaffen es Paare immer wieder, auch bei unterschiedlichen Interessen, Vorlieben und Überzeugungen, gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Rücksichtnahme und Kompromissfähigkeit werden da Schlüsselbegriffe sein. Warum aber soll, was im Kleinen möglich, ja unabdingbar ist, im Großen nicht „funktionieren“ können? Doch nur deshalb, weil es noch kein Bewusstsein, keine Sensibilität, keine Methoden, keine Modelle für die Kunst des herrschaftsfreien Miteinanders gibt.
Stattdessen macht man Wahlen und Abstimmungen. Das hält man für Demokratie. Hände hoch oder Zettel in die Urne, und dann wird abgezählt. Diese Wählerei schmeichelt der Eitelkeit des Einzelnen. Er ist dann mit einem Mal sehr wichtig, seine Meinung ist gefragt, er darf mitbestimmen. Dass sein Votum nur ein statistisches Pünktchen ist, fällt dabei nicht ins Gewicht. Auf jede Stimme komme es an, heißt es. Stimmt schon. Aber bloß als Teil einer Quantität. Qualitativ bleibt der Stimmabgebende völlig austauschbar. Das ist wie in der Marktwirtschaft: Wer die angebotenen Waren kauft, ist völlig wurscht, Hauptsache, sie werden bezahlt. Und so ist es auch egal, wer wofür stimmt, es kommt nur darauf an, wie viele wofür stimmen. Eine umfassendere Auslöschung von Singularität und Persönlichkeit ist gar nicht denkbar, das geht noch über die herrschende Massenkultur hinaus, die immerhin aus konsumierbaren Versatzstücken zusammengesetzte Pseudo-Individualitäten fabriziert. (Allerdings hat eine Darstellung von Politik, bei der es nur um Quantitäten in Gestalt von bunten Säulchen und Tortenstücken und Kurven geht, auch wieder viel Ähnlichkeit mit den abstrakten Leistungen des Sports und der Charts-Vernarrtheit der Popkultur.)
Kurzum: Demokratie, verstanden als Abstimmerei, hat mit radikaler Demokratie so viel zu tun wie der Publikumsjoker einer Quizshow mit einem Gespräch von Experten und Betroffenen. Das zu Grunde liegende Prinzip stimmt einfach nicht. Die Mehrheit hat nicht Recht, sie ist einfach nur die Mehrheit. Wie oft eine Meinung vertreten wird, besagt doch nichts über deren Richtigkeit oder Berechtigung. Dass die Mehrheit entscheidet, ist nichts anderes als das formalisierte „Recht“ des Stärkeren, das bekanntlich keines ist, sondern bloß Gewalt. Wir sind mehr als ihr, das heißt doch nichts anderes als: Wir können euch überwältigen, wenn ihr es darauf ankommen lasst.
Wenn eine Million Menschen über etwas abstimmt, und 500.001 entscheiden sich für A und 499.999 für B, ist dann wirklich A legitimiert? Rein formell nach einem bestimmten Demokratieverständnis schon. Allerdings wird auch der gestandenste Demokrat bei solchem Ergebnis ein Unbehagen haben. Hier könnte eine Seite die andere eben nicht überwältigen. Bei 55 Prozent zu 45 schon eher. Bei 75 zu 25 erst recht. Jenseits der 90 ist jeder Widerstand gebrochen. Es geht in Wahrheit also um Gewaltverhältnisse, und doch tut man so, als ob bei 50 Prozent plus X eine magische Grenze überschritten würde, die irgendeine Entscheidung von einer beliebigen in eine legitimierte verwandeln könnte. Eine Art säkularisiertes Gottesurteil.
Warum man nun solche Mehrheitsentscheidungen mit „demokratischer Reife“ akzeptieren soll, habe ich nie verstanden. Für sich genommen ist bloße Quantität noch kein Argument. Mehr von etwas zu haben, ist nur dann gut, wenn dieses Etwas gut ist. Etwas Falsches wird nicht richtig, wenn mehr Leute es unterstützen als ablehnen. Wenn ein solches Verfahren nicht als Herrschaftstrick zu durchschauen „reif“ sein bedeutet, bleibe ich lieber unreif.
Einstimmigkeit (Jeder stimmt zu) oder Einmütigkeit (Keiner stimmt dagegen) mögen mühsame und (nach welchen Kriterien eigentlich) „ineffiziente“ Verfahren sein. Aber sie sind die einzigen, die tatsächlich jedem, der am politischen Prozess teilnimmt, dasselbe Recht zubilligen. Die mehrheitsbildende Abstimmerei hingegen entwertet die, die in der Minderheit sind. Viel besser, als nun nachträglich Minderheiten zu schützen, wäre es, ein Einteilen in Mehrheiten und Minderheiten von vornherein zu unterlassen.
Meine Kritik an dem, was gemeinhin als Demokratie bezeichnet wird, richtet sich aber keineswegs nur darauf, dass es mir nicht genug ist, wenn man unter „demokratisch“ bloß Mehrheitsentscheide, und nicht viel grundsätzlicher gleiches Mitbestimmungsrecht von jedermann verstehen will. Ich kritisiere keineswegs bloß das Abstimmen und Wählen, ich kritisiere ebenso, dass diese Rituale nur wenig bewirken, weil ihre Wirksamkeit absichtlich eingeschränkt wird.
Nicht grundlos finden in den real existierenden Demokratien dieser Welt die am Mehrheitsprinzip ausgerichteten Abstimmungen und Wahlen üblicherweise nur recht selten statt und noch seltener wird durch sie etwas unmittelbar entschieden. Stattdessen werden für das politische Alltagsgeschäft gewöhnlich Formen der Repräsentation bevorzugt. Das heißt, die, die als eigentlich entscheidungsbefugt betrachtet werden, dürfen nur in gewissen Abständen selbst etwas entscheiden, in der Zwischenzeit werden sie, in dieser Hinsicht genau wie die Insassen von Diktaturen, von jemandem regiert. Der „demokratische Souverän“, also die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger eines Staates, wird zwar bei jeder sich bietenden Gelegenheit verbal gebauchpinselt, aber die wesentlichen Entscheidungen trifft (von plebiszitär-demokratischen Elementen in dem einen oder anderen politischen System abgesehen) jemand anderer an seiner Stelle. Alles für das Volk, nichts durch das Volk lautet die Devise. Demokratie in diesem Sinne wird zurecht definiert als Regierungssystem, in dem die, die regiert werden, dem Regiertwerden zustimmen müssen. Etwas anderes bleibt ihnen ja auch nicht übrig.
Perfekt verkörpert dies das parlamentarische System Österreichs. Hier wird alle fünf Jahre über die Zusammensetzung des Nationalrates abgestimmt. Wer kandidiert, bestimmen die Parteien. Scheidet ein Parlamentarier später aus dem Parlament aus, rückt jemand nach, dem bei der Wahl überhaupt niemand seine Stimme gegeben hat. (Mir ist ein Fall erinnerlich, wo alle Nationalratsabgeordneten einer bestimmten Partei ihr Mandat niederlegten, damit ein Politiker, der weit hinten auf der Kandidatenliste, ins Parlament einziehen konnte, woraufhin die eben Ausgeschiedenen wieder auf die Liste gesetzt wurden und ihr Mandat von Neuem übernahmen. Ein Glanzstück der Demokratie!)
Aber nicht nur die personelle Zusammensetzung des Parlaments wird von Wahl nicht bestimmt — ich lasse hier die Möglichkeit der Vergabe Vorzugsstimmen außer Acht, die das System nur punktuell, nicht prinzipiell modifiziert —, sondern es gibt auch keinerlei Möglichkeit, bei der Wahl zu bestimmen, welche politischen Positionen die Gewählten vertreten werden. Die Parteien formulieren zwar Programme, aber nichts zwingt sie, sich an diese zu halten. Schaut man sich die Wahlwerbung an, so scheinen die wahlwerbenden Gruppen eher daran interessiert, die Visagen ihrer Kandidaten und irgendwelche simplen und belanglosen Slogans zu plakatieren als konkrete Zusagen zu machen. Derselbe Wähler, der angeblich alles entscheidet, wird offensichtlich für zu blöd gehalten, mehr als Stichwort zu verstehen. Dass man vom Wahlvolk nichts hält, sondern sich in Wahrheit bloß seine Unmündigkeit bedienen will, zeigt sich aber auch daran, dass man in Österreich das Wahlalter auf 16 Jahre abgesenkt hat. Mit anderen Worten, die Politik wird (der Form nach) von Menschen mitentschieden, die man andererseits nicht für erwachsen genug hält, um unbegleitet ein Auto zu lenken oder um Wettbüros oder Puffs zu betreten.
Was für Österreich gilt, gilt mutatis mutandis auch für andere parlamentarische Demokratien. Die Wählerinnen und Wähler sind mehr oder minder bloß eine Ausrede, zu sagen haben sie im Grunde nichts. Sie geben alle heiligen Zeiten ihre Stimme ab, was das Wortspiel unumgänglich macht, dass sie ab dann keine mehr haben. Außer am Stammtisch und in anderen sozialen Medien; aber das zählt nicht. Das Motto des Parlamentarismus lautet: Wir wollen uns beim Regieren von unseren Wählern möglichst nicht stören lassen, darum so wenig tatsächlich Demokratie wie unbedingt nötig, aber so viel Berufung auf Demokratie wie möglich.
Ein solches System unterstütze ich nicht. Ich will meine Stimme nicht abgeben, ich will sie behalten und mitbestimmen dürfen. Keine der sich angeblich um meine Gunst bewerbenden Parteien kann mich vertreten, ich bin einmalig und unersetzlich. Und selbst wenn es eine Partei gäbe, deren Programmatik oder wahrscheinlich Praxis ich ausreichend gutheiße, um etwas anderes als Verachtung oder Missbilligung zu verspüren, wenn die Rede auf sie kommt, selbst dann also (was nicht wirklich der Fall ist), sehe ich nicht ein, warum deren Funktionäre meinen Job machen sollen. Ich halte mich für geistig noch rüstig genug, meine Entscheidungen selbst zu treffen, meine Meinung selbst zu äußern. Ich brauche also niemanden, der mich „repräsentiert“, zumal ich es angesichts meiner regelmäßig als abseitig geltenden Überzeugungen für unmöglich halte, das irgendwer das halbwegs hinbekommt.
Ich wähle keinen, der sich zu Wahl stellt. (Zweimal habe ich, um ehrlich zu sein, eine Ausnahme gemacht bei Bundespräsidentenwahlen: gegen Kurt Waldheim und gegen Benito Ferrero-Waldner.) Und ich wähle keine Partei. Wer gewählt werden will, führt entweder etwas Unheilvolles im Schilde oder ist auf gefährliche Weise naiv. Selbst Kandidaten nämlich, die, was in seltenen Fällen der Fall ist, eben noch intelligente und Argumenten zugängliche Zeitgenossen waren, werden durchs Kandidieren zu Verteidigern von Parteilinien und damit letztlich von all dem, was die Systembetreiber so verbrechen.
Wer kandidiert, heißt das politische System im Prinzip gut und will bestenfalls Details verbessern. Man kann aber die repräsentative (also entmündigende), auf Majorisierungen (also Ausschlüssen) beruhende „Demokratie“ so wenig zu etwas Gutem machen wie den Kapitalismus. Was als Ganzes schlecht ist, muss als Ganzes abgelehnt und abgeschafft werden. Dabei darf man sich auch nicht davon irre machen lassen, das manche Systemzustände unerträglicher sind als andere.
Wer kandidiert, wäre bereit, an meiner Stelle zu sprechen. Das möchte ich aber nicht. Ich will selbst für mich sprechen. Ich wähle also niemanden und nichts. Ich wähle gar nicht. Ich gehe einfach nicht hin. Naiv, wer glaubt, seine Kritik an demokratischen Defiziten durch ungültiges Wählen Ausdruck geben zu können. In der Berichterstattung und damit der öffentlichen Wahrnehmung kommen die ungültigen Stimmen nicht vor. Auch die Wahlbeteiligung, das verhehle ich nicht, wird zwar, wenn sie gering ist oder abnimmt, gern beklagt, spielt aber keine Rolle. Es werden bemerkenswerterweise immer gleich viele Parlamentssitze vergeben, egal, wie viele Wählerinnen und Wähler an der Wahl teilgenommen haben. Aber auch die ungültigen Stimmen beeinflussen die Mandatsvergabe nicht. Sie sind noch unsichtbarer als die gar nicht abgegebenen Stimmen. Deren fehlen wird immerhin noch bemerkt. Nein, nicht ungültiges Wählen, nur Nichtwählen widerspricht dem System. Das ist dem in der Regel wurscht. Aber es bleibt die einzig anständige Alternative zur Komplizenschaft mit den bestehenden politischen Verhältnissen.
Ich bin also Nichtwähler. Damit macht man sich, wie gesagt, keine Freunde. Im Gegenteil, als Wahlverweigerer wird man regelmäßig angepöbelt. Was einem einfalle, nicht zu Wahl zu gehen, man sei wohl kein Demokrat, man wolle sich wohl nicht die Finger schmutzig machen, man halte sich wohl für etwas Besseres? Alle gehen doch wählen, bis auf die Dummen und Faulen, und da willst ausgerechnet du dich ausschließen? Bitte schön, dann eben nicht, aber dann darfst du hinterher auch nicht meckern, wenn bei den Wahlen etwas herauskommt. was du nicht willst.
Zu den infamsten Lügen der Wählereibefürworter gehört, wer nicht mitwähle, habe hinterher auch kein Recht, sich zu beschweren. Diese Logik erschließt sich mir nicht. Wenn ich als Pazifist jeden Kriegsdienst ablehne, heißt das ja wohl auch nicht, dass ich deshalb das Stattfinden, den Verlauf und den Ausgang von Kriegen nicht beurteilen kann und darf. Im Gegenteil, gerade weil ich gegen Gewalt bin, kann ich Gewaltanwendung und ihre Folgen kritisieren. Ebenso gilt, dass wer sich weigert, an den Ritualen eines bestimmten politischen Systems mitzuwirken, deshalb nicht nur nicht das Recht verliert, diesem System und seinen Funktionären die Leviten zu lesen, sondern dass ganz im Gegenteil gerade er geradezu dazu berufen ist, dies zu tun, da er nicht durch Komplizenschaft belastet ist.
Übrigens rechne ich das dem liberalen demokratischen System hoch an, dass es mich in dieser weitgehend in Ruhe lässt, mir meine Dissidenz erlaubt und mich nicht zwingt, Zustimmung zu heucheln. Dass ich lieber in einer Demokratie lebe als unter einem autoritären oder totalitären Regime, heißt freilich nicht, dass ich jede Demokratie, auch eine heruntergekommene, gut oder Demokratie als solche optimal finden muss. Ich finde es auch besser in einem wohlhabenden Land zu leben, das heißt aber nicht, dass ich eine Weltwirtschaftsordnung billige, die Länder und Menschen in Wohlhabende und Arme teilt, die Menschen in Dreck und Elend leben und an Hunger, Krankheit, Krieg sterben lässt.
Man muss kein „Demokrat“ (im nicht-radikalen Sinne) sein, um irgendeine Demokratie irgendeiner Diktatur vorzuziehen. Ich persönlich hätte allerdings auch nichts gegen eine Diktatur, vorausgesetzt, der Diktator bin ich. Rein logisch betrachtet wäre doch das Zweitbeste nach der Anarchie, wo kein Mensch herrscht, eine Autokratie, wo nur einer herrscht. Und da wäre mir niemand lieber als gütiger und weiser Herrscher las ich … Eine Demokratie jedenfalls, in der — dem Anspruch, nicht der Wirklichkeit nach! — alle herrschen, ist von der Anarchie von allen politischen Systemen am weitesten entfernt.
Tatsächlich sind die real existierende Demokratien dieser Welt aber eigentlich Oligarchien. Man lässt wählen, weil das das System stabilisiert. Wenn die Regierten den Eindruck haben, sie könnten mitbestimmen und hätten mitbestimmt, sind sie zufriedener und folgsamer, als wenn man ihnen offen sagt, sie hätten nichts zu melden und die wichtigen Entscheidungen seien sowieso schon getroffen worden. (Das tarnt man bei Bedarf als „Sachzwang“.)
Wenn Wahlen etwas ändern könnten, wären sie verboten. Gegen diese kluge Einsicht von Emma Goldman hat, so weit ich sehe, noch nie jemand ein überzeugendes Argument vorgebracht. Und es gilt auch umgekehrt: Wo Wahlen verboten sind, könnten sie etwas ändern. In einem System, das Wahlen verbietet oder fälscht, das politische Opposition behindert oder unterdrückt, in einem solchen System sind allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen unbedingt wünschenswert. Sie wären dann ein Mittel gegen das Unrecht.
In einer liberalen Demokratie hingegen geht es in der Regel bei Wahlen um nichts. Es liegt im Wesen des politischen Marktes, dass sich auf ihm alle Angebote angleichen. Rein theoretisch könnten auch hier Wahlen alles umstürzen, weil aber völlig unwahrscheinlich ist, dass sie das tun, darf alles gewählt werden, was zu Wahl steht. Heraus kommt Austauschbares. Parteien, Programmatiken, Kandidaten unterscheiden sich letztlich nicht stärker von einander als die Produkte verschiedener Schnellfraßketten. Wo doch Unterschiede und grundsätzliche Veränderungsvorschläge vorkommen, ist ziemlich sicher, dass sie keine Rolle spielen werden.
Dass bei einer Wahl nichts Grundstürzendes passieren kann, mag man gut heißen. Dann soll man wählen gehen. Die einen wollen ein Weiterso, die anderen Glauben an ein bisschen Veränderung. Beides ist nichts für mich. Ich will mehr und anderes, das ist mit Wahlen nicht zu erreichen ist. Vielleicht ist es überhaupt nicht zu erreichen, aber wenn zumindest darüber geredet werden kann, dann nur im Abseits und in der Verweigerung. Eine freie und gerechte Gesellschaft ist nicht per Abstimmung herstellbar. Ob und wie sie überhaupt zu Stande kommen kann, ist schwer zu sagen. Das liegt auch daran, dass sich die „Demokratie“ zum ultimativen politischen System erklärt hat — so wie der Kapitalismus zum ultimativen ökonomischen —, wodurch über sie hinauszudenken leicht als Utopismus und Eskapismus diffamiert werden kann.
Nichtwählen ist aber nicht, wie die Wählereibeführworter behaupten, die bequemere Haltung. Viel komfortabler ist es, sich mit Wählerei zu stimulieren und zu beruhigen, als den prinzipiellen Widerspruch auszuhalten, dass es keine Wahl gibt, solange es Wahlen gibt. Wer an den Fortschritt, die List der Vernunft, die Weisheit der Massen glaubt, hat es leicht. Wer aber weiß, dass nur die Einzelnen zählen, aber jeder von ihnen, kann auf keinen verzichten, auch auf die nicht, die Unrecht haben, und sich dabei nicht irre machen zu lassen, ist schwer.
Für mich kommt nur eine Wahl in Frage, bei der jeder jeden wählt, woraufhin jeder nur sich selbst vertreten darf. Die Herstellung von Mehrheiten und Minderheiten lehne ich ab, ebenso die entmündigende Stellvertretung für die, die durchaus für sich selbst sprechen und handeln können. Darum gehe ich nicht wählen. Anders gesagt, ich habe schon gewählt: die Nichtteilnahme an der Wahl.