Über Pasolini (2000) Drucken

Am 22. Oktober 1949 wird der Lehrer und Sektionssekretär der Kommunistischen Partei Italiens in San Giovanni di Casarsa, Pier Paolo Pasolini, wegen Verführung eines Minderjährigen und Unzucht in der Öffentlichkeit angezeigt. Was spätestens aus heutiger Sicht eigentlich kaum der Erwähnung wert ist ein Siebenundzwanzigjähriger wichst mit einem Sechzehnjährigen im Gebüsch, wird zum Skandal. Pasolini war damals bereits aufgrund seiner Tätigkeit als Schriftsteller, Pädagoge und Politiker eine „öffentliche Gestalt“ (Naldini); die Anzeige, der Skandal, der Prozeß und schließlich die Flucht aus dem heimatlichen Friaul in unbekannte Rom bilden einen biographischen Wendepunkt und bündeln einige Motive, die von da an mit Pasolini, ob er es will oder nicht, verbunden bleiben werden: persönliche Leidenschaft, politisches Engagement, öffentliche Erregung und nicht zuletzt: Homosexualiät.

Ein sozialer Tod
In den 40er Jahren hatte der aus dem norditalienischen Bürgertum stammende Pier Paolo Pasolini Marx und vor allem Gramsci für sich entdeckt. Seine Parteinahme für die gesellschaftlich Benachteiligten führte schließlich zum Parteieintritt. „Nach langen Zweifeln“ immerhin hatten Kommunisten seinen jüngeren Bruder Guido, einen leidenschaftlichen Antifaschisten und Kämpfer der Resistenza, in den Wirren des Jahres 1945 erschossen schrieb sich Pasolini 1947 (oder Anfang 1948, Anm.) in die KPI ein (…) viele Abende verbrachte Pasolini nun in den staubigen Vereinslokalen, viele Tage auf Demonstrationen, Delegiertenversammlungen, Hausbesetzungen, bei der Wahlpropaganda. Er war bald eine öffentliche Persönlichkeit, seine leidenschaftlichen und unorthodoxen Reden auf den Kongressen (nicht nur solchen der KPI, u.a. auch in Paris und Budapest, Anm.) verschafften ihm Anerkennung. Er schrieb für mehrere Tageszeitungen. Als Sektionssekretär erfand er so etwas wie die späteren maoistische Tatsebaos: zu jedem Thema klebte er handgeschriebene Wandzeitungen vor das Parteilokal, auf denen er in der Sprache der Bauern, aus ihrer Sicht und in ihrem Wortschatz, die Dorfleute agitierte, den Dialog mit ihnen suchte. (…) Vor allem die konservativen, katholischen Kreise sahen in dem Erfolg Pasolinis bei der Bevölkerung, bei den einfachen und armen Bauern, die er wirklich kannte, eine Gefahr. Es gab auch schon versteckte Warnungen und vage Bedrohungen durch seinen politischen Gegner. (Schweitzer) Pasolini schlägt die Warnungen in den Wind und ignoriert die sehr reale Bedrohung. Als es dann seinen Gegnern endlich gelingt, ihn bei seiner Homosexualität zu packen, verliert er mit einem Mal alles: seinen Ruf, seine Stelle als Lehrer und die Mitgliedschaft in der KPI. Unmöglich zu sagen, was davon ihn am meisten trifft.

Euer ungeachtet …
In der kommunistischen Tageszeitung „L`Unità“ wird schon eine Woche nach der Anzeige Pasolinis dessen Ausschluß bekannt gegeben, verbunden mit dem Hinweis auf „die verderblichen Einflüsse gewisser ideologischer und philosophischer Strömungen der diversen Gide, Sartre und anderer dekadenter Poeten und Literaten (…), die sich als Progressisten gebärden wollen, in Wirklichkeit aber die schändlichsten Seiten der bürgerlichen Verkommenheit auf sich vereinen“. Aber Pasolini läßt sich nicht beirren: „Ich wundere mich nicht über die teuflische Heimtücke der Christdemokraten“, schreibt er an einen seiner ehemaligen Genossen, „Ich wundere mich aber über eure Unmenschlichkeit; du weißt sehr wohl, daß es Blödsinn ist, von ideologischer Verirrung zu sprechen. Euer ungeachtet bin und bleibe ich Kommunist und zwar im echten Sinn des Wortes. Doch was sage ich da? Bis heute früh hielt mich der Gedanke aufrecht, daß ich meine Person und meine Karriere dem Glauben an ein Ideal geopfert habe; jetzt habe ich nichts mehr, worauf ich mich stützen könnte. Ein anderer an meiner Stelle würde sich umbringen; unglücklicherweise muß ich für meine Mutter weiterleben.“ Tatsächlich hat Pasolini den Kommunisten auch später seinen Hinauswurf nie vorgeworfen; Ende der 60er Jahre stellt er das Ende seiner Mitgliedschaft sogar so dar, daß er irgendwann bloß den „abgelaufenen Mitgliedsausweis nicht verlängert“ habe. Aber die Wunde saß tief. Zwar rief Pasolini bei jeder Wahl dazu auf, es ihm gleich zu tun und die KPI zu wählen, aber in einem dieser von „L`Unità“ abgedruckten Wahlaufrufe in Versen heißt es: „Ich habe mich der KPI immer mit Hingabe widersetzt und erwartete mir eine Antwort auf meine Einwendungen. Denn ich wollte ja dialektisch vorgehen! Diese Antwort ist nie gekommen: Eine brüderliche Polemik ist für eine blasphemische gehalten worden.“

„Rom ist göttlich!“
Nach dem „sozialen Tod im Friaul“ (Schweitzer) geht Pier Paolo Pasolini nach Rom. Er ist völlig mittellos und schlägt sich mit diversen Beschäftigungen durch: Er wird Privatlehrer, korrigiert Druckfahnen, arbeitet als Komparse beim Film. Daneben schreibt er: Zeitungsartikel und Gedichte. Erste Erfolge in Gestalt von Preisen stellen sich ein. Pasolini lernt zahlreiche SchriftstellerkollegInnen kennen. Und er erforscht Rom. „Rom ist göttlich“, verkündet der arbeitslose Hungerleider, denn er hat die Welt der Borgate, der Arbeitervorstädte, für sich entdeckt. „Nicht zu resignieren hieß vor allem, sexuell nicht zu resignieren. Er nimmt die Herausforderung der Großstadt an, er sucht die aggressive Freiheit der Jugend in den Armenvierteln.“ (Schweitzer) Pasolini hatte Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft studiert und war bereits durch seine Beschäftigung mit der Sprache des Friaul als Dichter und Sprachwissenschaftler bekannt geworden. Nun stürzt er sich mit dem Eifer eines sein Begehren als Antrieb nutzenden — Anthropologen auf die römischen Dialekte und Soziolekte. Die Körper, die Sprache, die sozialen Verhältnisse der jungen Männer interessieren in gleichermaßen. Aus Pasolinis freilich nie bloß persönlichen Erfahrungen gehen bald die Romane „Ragazzi di vita“ und „Una vita violenta“ hervor, die ihn berühmt machen. Und noch vieles an seinen späteren Filmen deren erster, „Accatone“, 1961 herauskommt ist eine mit den Mitteln der Ästhetik vorangetriebene bewußte Erkundung des mit allen Sinnen Erfahrenen.

Ein moralischer Antityp, ein Geächteter
Doch egal, was Pier Paolo Pasolini im letzten Vierteljahrhundert seines Lebens auch produzieren wird — er schreibt Gedichte, Erzählungen, Romane, Theaterstücke, Drehbücher, er dreht Filme und er zeichnet und malt auch, und nicht zuletzt schreibt er Beiträge, manchmal sogar als Kolumnist für Zeitungen und Zeitschriften, seine öffentliche Existenz, seine Person ebenso wie sein Werk, erregt Ärgernis. Manchmal kommt es „nur“ zu heftigen Kontroversen in den Medien, nicht selten aber auch zu Verhandlungen vor Gericht: Immerhin mehr als dreißigmal wurde in nur fünfundzwanzig Jahren gegen den Schriftsteller und Filmemacher Anklage erhoben. Die Gesellschaft, in der Pasolini lebt, kann zwar die ästhetischen, ideologischen und politischen Abweichungen, die er sich zu Schulden kommen läßt, wenn schon nicht verzeihen, so doch tolerieren, seine sexuelle Abweichung jedoch provoziert immer wieder rasenden Haß. Dabei ist für Pasolini Homosexualität zunächst keineswegs etwas Erstrebenswertes: „Ich war dazu geboren, heiter, ausgeglichen und natürlich zu sein. Meine Homosexualität war überflüssig, lag außerhalb, hatte nichts mit mir zu tun. Ich habe sie immer wie einen Feind neben mir gesehen, ich habe sie nie drinnen in mir gefühlt.“Doch weil sich in dem Pasolini zugewiesenen und von ihm angenommenen Außenseitertum das Künstlerische und Politische untrennbar mit dem Homosexuellsein verschränken, kann es in seinem Fall hat der erste Skandal erst einmal stattgefunden keine reinliche Scheidung von öffentlicher Person und privatem Begehren mehr geben: „Seit zwanzig Jahren hat die italienische Presse, und an erster Stelle die schreibende Presse, dazu beigetragen, aus meiner Person einen moralischen Antityp zu machen, einen Geächteten. Es besteht kein Zweifel, daß zu dieser Ächtung seitens der öffentlichen Meinung die Homophilie beigetragenhat, die mir mein Leben lang angelastet wurde wie ein in dem von mir verkörperten Fall besonders emblematisches Schandmal: die Besiegelung einer menschlichen Verworfenheit, von der ich angeblich gezeichnet bin, und die alles, was ich bin, meine Sensibilität, meine Vorstellungskraft, meine Arbeit, die Gesamtheit meiner Gefühle, meiner Empfindungen und meiner Handlungen angeblich dazu verdammt, nichts anderes zu sein als eine Tarnung dieser Ursünde, einer Sünde und einer Verdammnis (…).“

Mit dem Lästern fortfahren
Aber Pier Paolo Pasolini suchte niemals den Skandal um des Skandals willen. Vielmehr sucht der Skandal unweigerlich ihn, denn jemand, der immer nur kompromiß- und konzessionslos seine eigene Meinung, seine eigene Auffassung vertreten wollte, muß damit unweigerlich auffallen, verstören, ärgern. Pasolinis vielbeachtetes Außenseitertum ist keine Pose, sondern die wie ein anachronistisches Martyrium (von griech. martys: Zeuge) auf sich zu nehmende Position eines ästhetischen, politischen und sexuellen Nonkonformisten; von dieser „exzentrischen“, also aus der Mitte verschobenen Position aus formuliert Pasolini seine ebenso fundamentale wie detaillierte Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Außenseiter hervorbringen. Die sich gleichsam vor seinen Augen und unter seinen Händen formierende Konsumgesellschaft stößt Pasolini ab. „Ich bin eine Kraft der Vergangenheit“, meint er einmal, doch ist er keineswegs der Nostalgiker für den manche ihn halten wollen, denn seine Liebe zum „Barbarischen“ ist niemals rückwärtsgewandt oder geschichtslos, sondern eine Option auf eine Zukunft, die mit dem Unrecht und der Häßlichkeit der Gegenwart bricht. Darum gilt Pasolinis leidenschaftliche und zärtliche Aufmerksamkeit dem Einzelnen in der Massengesellschaft, den „Lumpenproletariern“, den vernachlässigten Gegenden Roms und Italiens, den Menschen und Kulturen der sogenannten „Dritten Welt“. Nicht zufällig tragen seine Bücher Titel wie „Freibeuterschriften“, „Ketzterbriefe“ oder „Häretischer Empirismus“, denn er war ein „Dissident der Dissidenten“, einer, der es versteht, sich im Zweifelsfall bei allen unbeliebt zu machen, vor allem aber bei denen, die ihren Konformismus dadurch umso ungestörter leben zu können meinen, daß sie ihn hinter herrischem Gerede von Fortschritt und Gerechtigkeit verstecken. Pasolinis letzter Text, eine wenige Stunden vor seinem Tod verfaßte Ansprache an den Kongreß der Radikalen Partei, enthält, wenn schon nicht Pasolinis „Testament“, so doch in verdichteter Form ein von seiner ganzen Existenz beglaubigtes „Programm“: „Vergeßt unverzüglich die großen Siege und fahrt fort, unerschütterlich, hartnäckig, ewig in Opposition, zu fordern: fahrt fort, euch mit dem Andersartigen zu identifizieren, Skandal zu machen, zu lästern!“

Dieser Text erschien unter dem Titel „... che vivo di passione“ aus Anlass von Pasolinis 25. Todestag in der Volksstimme 43/2000. Dazu wurde auf die folgende Literatur verwiesen: Nico Naldini: Per Paolo Pasolini. Eine Biographie, (Wagenbach); Pier Paolo Pasolini: Wer ich bin, (Wagenbach); Otto Schweitzer: Pasolini, Reinbek 1986 (Rowohlt); Enzo Siciliano: Pasolini. Leben und Werk, Weinheim 1980 (Beltz & Gelberg).