Über Pasolini (2002) Drucken

Am 5. März wäre Pier Paolo Pasolini achtzig Jahr alt geworden. Also das ist doch nun wirklich noch kein Alter! Kein Grund jedenfalls, schon tot oder geistig weggetreten zu sein. Man kann sich also im Gegenteil gut vorstellen, Pasolini — heute ein kleiner, verhutzelter, aber hellwacher Greis — hätte die letzten siebenundzwanzig Jahre noch erlebt und mit seinen Einmischungen begleitet. Wie seine künstlerische Entwicklung weitergegangen wäre, was er als Maler, Lyriker, Dramatiker, Romancier und Filmregisseur noch hervorgebracht hätte, darüber zu spekulieren ist müßig. Was er als Sprach- und Literaturwissenschaftler, der er ja immer auch war, noch geleistet hätte, muß gleichfalls offen bleiben. Daß er aber als politischer Mensch und öffentliche Figur, als Journalist und Essayist weitergemacht und weiterhin allen möglichen Leuten gehörig gegen den Strich und auf die Nerven gegangen wäre, das steht wohl fest.
„Auf allen Ebenen, den kulturellen wie den persönlichen, handelte er als ein erbitterter Feind der etablierten Macht“, urteilte einer seiner Freunde, der Schriftsteller Paolo Volponi, über Pasolini. „Er handelte mit hartnäckiger Ausdauer, mit Unschuld und großer dichterischer Tugend, wenn auch zuweilen ohne sichere ideologische Basis oder eine große kritische Kraft origineller Argumente. Er spürte diese Mängel selbst und sagte zum Beispiel: ‘Ich habe keine Industrieerfahrung gemacht. Ich kenne die Welt der Industrie nicht, ich kenne mich nicht aus mit Ökonomie. Ich bin ein Marxist, der wenig Marx gelesen hat. Ich habe mehr Gramsci gelesen. Ich weiß nicht, wie es in der Fabrik zugeht, was da für Spannungen sind, ich weiß nicht, was es heißt, heute zu arbeiten. Ich ahne es. Vor Augen habe ich nur dieses große, alte, schwerfällige bürokratische Durcheinander, das in Rom herrscht. Vielleicht ist Rom nicht die beste Beobachtungsstation, wenn man unser Land verstehen will.’“
Ach was, könnte man einwenden, was soll’s. Die Fabrik ist längst nicht mehr das wichtigste Paradigma von Arbeit; je weniger man über Ökonomie gelesen hat, desto besser versteht man sie; und immer noch wird Italien von Rom aus regiert, das nach wie vor als großes, altes und schwerfällig bürokratisches Durcheinander erscheint.
Gewiß, ein paar neue Damen und Herren bevölkern den Quirinal, den Palazzo Chigi und den Palazzo Montecitorio. Die Democrazia Cristiana, der stets Pasolinis Verachtung galt und die zu seinen Lebzeiten drei Jahrzehnte lang in wechselnden Koalitionen an der Regierung war, gibt es längst nicht mehr, sie hat sich in ihre Bestandteile aufgelöst. Auch die KPI, der Pasolini auch nach seinem Ausschluß - wegen „moralischer Unwürdigkeit“ - drei Jahrzehnte lang in kritischer Solidarität verbunden blieb, gibt es nicht mehr. Wen oder was Pasolini heute wohl wählen würde?
Es ist nicht ohne Reiz, sich auszumalen, wie Pasolini den Aufstieg Berlusconis kommentiert hätte. Dieser Clown der Macht hätte ihn gewiß mehr als einmal an den Rand der Verzweiflung getrieben, denn er bestätigte alle seine Analysen und Prognosen. Berlusconi ist doch geradezu die virtuelle Inkarnation des von Pasolini beschriebenen „kulturellen Völkermordes“, der „anthropologischen Mutation“, des „hedonistischen Faschismus“, des Konformismus und Konsumismus, der Zerstörung des Einzelnen in der Massengesellschaft. Nichts an Cavaliere Berlusconi ist echt, alles ist irreal, und doch verkörpert er das, was herrscht, und das ist nichts Gutes.
Freilich, eines haben sie sogar gemeinsam, der regierende Medienzar und der Außenseiter, der vorgeschlagen hatte, das Fernsehen abzuschaffen: Beide hatten und haben viel mit Gerichten zu tun. Doch während Pasolini als Unschuldiger zum viel bestaunten und viel gelästerten Objekt einer Verfolgung mit den Mitteln der Justiz wurde, die ihn mundtot machen sollte, wird das Echo der unzähligen Prozesse gegen Berlusconi und Konsorten von einem medialen Rauschen verschluckt, das die Beschuldigten praktischerweise gleich selbst erzeugen. Während man im Namen der Mächtigen immer wieder aufs Neue versuchte, Pasolini zu skandalisieren, ist Berlusconi selbst ein kontinuierlicher Skandal, den die Mächtigen nur zu gern unter den Teppich kehren möchten.
Pasolini hätte also in der vergangenen drei Jahrzehnten kaum Anlaß gehabt, seine Kritik am „grauenhaft dreckigen Land“, seinem Land, zurückzunehmen. Er hätte sie vermutlich sogar verschärft. Aber er hätte sicherlich auch immer heftiger mit der Müdigkeit, der Verzweiflung und dem Verstummen ringen müssen, je älter er — der sich selbst eine „Kraft der Vergangenheit“ nannte — in dieser hoffnungslos schönen neuen Welt geworden wäre.
Und Genua? „… die Journalisten aus aller Welt / … lecken euch den Arsch. Ich nicht, Freunde (…) / als ihr euch gestern … geprügelt habt / mit der Polizei / habe ich mit den Polizisten sympathisiert! / Weil die Polizisten die Kinder armer Leute sind / (…) / gestern erlebten wir demnach ein Stück / Klassenkampf: und ihr, Freunde (obwohl auf der Seite der Vernunft) wart die Reichen / während die Polizisten (auf der Seite / des Unrechts) die Armen waren. Ein schöner Sieg also / den ihr da errungen habt!“ Das schrieb Pasolini 1968 der rebellierenden studentischen Jugend ins Stammbuch.
Die Zeiten haben sich geändert. Die Polizisten und Polizistinnen gelten nicht mehr vorrangig als Kinder armer Leute und die Demonstrierenden lassen sich nicht mehr einfach als Bürgersöhnchen und Bürgerinnentöchter klassifizieren. Und so oder so hätte Pasolini polizeiliche Brutalität und politische Repression überhaupt niemals gebilligt. Aber er hätte sich dennoch geweigert, denen, die via Medien gerade die „Guten“ sind, den Arsch zu küssen, sondern hätte gerade denen, die er als seine Freunde betrachtete, ihre im Vergleich zur Lage der wirklich Benachteiligten privilegierte Position und ihr heimliches Einverständnis mit den herrschendes Verhältnis vorgehalten.
Pasolini, der schon ein Gegner der Globalisierung war, bevor es diesen Begriff gab, hätte gewiß den solidarischen Zweifel der hoffnungsfrohen Unverbindlichkeit vorgezogen; und vielleicht hätte seine Sicht derjenigen Pierre Bourdieus geähnelt, der aus Anlaß des Genueser Weltwirtschaftsgipfels in einem Interview auf die Frage, ob er sich in dem Radau noch Gehör verschaffen könne, antwortete: „Ich bin sehr pessimistisch. Die Krawalle ziehen alle Aufmerksamkeit auf sich. Jede Analyse geht darin unter. Die Öffentlichkeit erkennt nur noch Anarchisten, Hooligans, rote Extremisten.“
Auf den Einwand, intellektueller Widerstand allein hätte aber wohl kaum derartige Massenaktionen zu Stande gebracht, erwiderte Bourdieu: „Die Gewalttäter mit ihren organisierten Eingreiftruppen haben zumindest eine Funktion: Sie zwingen die Protagonisten des Neoliberalismus, die sich gern den Anschein der Gelassenheit, der Vernunft geben, ihre eigene Gewalt vorzuführen.“ Und als der Interviewer des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ fragte, ob also doch so etwas wie eine große Protestbewegung, vielleicht gar eine neue Form des Klassenkampfes entstehe, gab Bourdieu zurück: „Es ist eher eine noch chaotische Reaktion auf den konservativen Dogmatismus, der den räuberischen Kapitalismus in neuem, scheinbar zivilisiertem Gewand wiederaufleben lassen will. Immer mehr Menschen begreifen, daß Freiheit und Laissez-faire nicht dasselbe sind. Der Neoliberalismus ist eine Eroberungswaffe, er verkündet einen ökonomischen Fatalismus, gegen den jeder Widerstand zwecklos erscheint. Er ist wie AIDS: Er greift das Abwehrsystem seiner Opfer an.“
Apropos, dessen ist der Welt leider auch verlustig gegangen: Pasolini konnte sich nie zu AIDS äußern, weil er ja bereits 1975 ermordet wurde. Dabei wären der Tod, die Homosexualität, Heterosexualität, der gesellschaftliche Umgang mit dem Körper genau seine Themen gewesen.
Überhaupt ist das ja etwas, was eng zusammen gehört: Der Schwule und der Tod. Da Homosexualität in der gegebenen Kultur etwas ist, das es gibt, was aber nicht sein soll, besteht der Kompromiß darin, den Homosexuellen, wenn seine Sichtbarkeit sich schon nicht vermeiden läßt, konsequent sterben zu lassen. Darin sind sich Hollywood und die Weltliteratur einig. Der Tod, möglichst ein gewaltsamer oder sonstwie „unnatürlicher“, ist die Sühne für die abweichende Lust.
Nicht zufällig beginnen darum fast alle Darstellungen von Pasolinis Leben, ob in schriftlicher oder filmischer Form, mit seiner Ermordung. Oft wird diese sogar als indirekter Suizid gedeutet oder doch immerhin als Folge von Pasolinis Todessehnsucht. Man stützt das dann mit diesem und jenem Zitat aus seinem Werk — als ob Pasolini sich nicht auch immer wieder und mit großer Leidenschaft über das Leben geäußert hätte und dazu, wie sehr er es liebt.
Aber der tote Pasolini ist eben allen der liebste. Die einen atmen auf, die anderen seufzen tief, alle fühlen sich befreit und bestätigt. Jetzt können sie ihre Bücher und Filme und Skulpturen über ihn machen. Jetzt redet er ihnen nicht mehr dazwischen.
Hätte Pasolini sich wirklich umbringen lassen wollen, so hätte ihm diese Idee jedenfalls ganz plötzlich in der Nacht von Allerheiligen auf Allerseelen kommen müssen, denn in den Wochen, Tagen und Stunden davor wies nichts auf Selbstmordabsichten hin. Sein Terminkalender war voll wie immer. Mitte Oktober reiste Pasolini zur Frankfurter Buchmesse, dann zurück nach Italien, wo er mit Lehrern und Schülern diskutierte und seinem Verleger ein fertiges Buch zur Veröffentlichung übergab. Kurz darauf war er in Stockholm beim Italienischen Kulturinstitut, dann in Paris, wo er die Synchronisation seines letzten Films prüfte, dann wieder zu Hause in Rom. Am Nachmittag des 1. November gibt er ein Interview, abends geht er mit Freunden essen und verabschiedet sich dann — wie immer —, um die Nacht auf der Suche nach Lust zu verbringen. Und dann Selbstmord durch die Hand eines Strichers?
Einer der letzten Texte Pasolinis, dem doch angeblich am Leben nichts mehr lag, war ein programmatischer Redebeitrag für den Kongreß des noch zu gründenden Partito Radicale, einer linken, entfernt den deutschen Alternativen und Grünen vergleichbaren Bürgerrechtsbewegung. Das Referat, das er nicht mehr halten konnte, aber zweifellos am 4. November gern gehalten hätte, endet mit diesen Sätzen: „Ihr müßt euch selbst treu bleiben, mit anderen Worten: auch in Zukunft nicht faßbar sein, nicht einzuordnen. Vergeßt unverzüglich die großen Siege. Macht weiter, was ihr bisher gemacht habt. Besteht — unerschrocken, dickköpfig, immer in Opposition — auf dem Anderen, schreit danach, identifiziert euch damit, macht Skandal, lästert, flucht.“ Recht hat er.

Dieser Text erschien unter dem Titel „Macht weiter. Philosophie des Stattdessen: Was an Pier Paolo Pasolini unsterblich bleibt“ aus Anlass von Pasolinis 80. Geburtstag in der „Jungen Welt“ (18. 3. 2002).