Mit einer Blume im Arsch Drucken

Über Jorge Semprúns „Der Tote mit meinem Namen“ (Frankfurt a. M. 2002)

„Ich würde nicht jedesmal mit dem Glück rechnen können, das mich zu verfolgen schien. Das im übrigen nicht aufgehört hat, mich zu verfolgen. In Spanien, zehn Jahre später, in der antifrankistischen Illegalität, lief mir das Glück immer hinterher. Auch in Spanien sagte man mir, daß ich Glück hätte, so wie Kaminsky an jenem fernen Sonntag in Buchenwald. Doch in meiner Muttersprache ist die Metapher dafür direkter, sinnlicher als im Französischen: Tu si que has nacido con una flor en el culo! rief man aus. Mit einem silbernen Löffel im Mund geboren sein, heißt es im Französischen; mit einer Blume im Arsch im Spanischen. Und doch ist es dasselbe.“
Jorge Semprún hat, wieder einmal, ein Buch über seine Zeit als Gefangener in Buchenwald geschrieben. „Der Tote mit meinem Namen“ — im Original „Le mort qu’il faut“, der passende Tote — erzählt unter anderem davon, wie Semprún wieder einmal Glück hatte: Die kommunistische Untergrundorganisation des Lagers hat einen „passenden Toten“ gefunden, einen jungen Mann, der demnächst an Entkräftung sterben wird und dessen äußere Kennzeichen immerhin soweit mit denen Semprúns übereinstimmen, dass man beider Identitäten vertauschen kann, falls, wie zu befürchten ist, die Anfrage aus Berlin bedeutet, dass der junge spanisch-französische Résistance-Kämpfer unmittelbar bedroht ist. Der Tote soll dann Semprúns Platz einnehmen und Semprún unter dem Namen des Toten weiterleben.
„Der Tote mit meinem Namen“ ist ein Buch über Sterben und Überleben, über Entmenschlichung und Widerstand, über Identität und Verlust, über Erinnern und Vergessen und nicht zuletzt ein Buch über Zeugenschaft und Erfindung. Semprúns Buch ist nämlich dokumentarisch, weil es Literatur ist. Denn bloß dort gewesen zu sein, erlebt und erlitten zu haben, genügte nicht für ein glaubwürdiges Zeugnis. Man muss das, war, auch erzählen können. Dazu muss man ihm eine Form geben, es in bestimmter Hinsicht erfinden und das „Historische“ und die „Fiktion“ so zur Deckung bringen, dass die Wahrheit erzählbar wird.
Darum auch ist Sprache — oder genauer: sind Sprachen — ein besonders wichtiges Thema dieses Buches. Semprúns Muttersprache ist Spanisch, er schreibt auf Französisch und spricht Deutsch. „Von der russischen Sprache verstehe ich fast nur die im übrigen höchst eintönigen Flüche. Denn es geht immer darum, eine Frau aus der Familie zu ficken, mit Vorliebe die Mutter desjenigen, den man beschimpft.“ Die Verschiedenheit und Vergleichbarkeit der Sprachen ist ein gutes Bild für die Arbeit der Mitteilung des im Gedächtnis bewahrten (und der Markierung des längst verloren Gegangenen). Das Zeugnis übersetzt das Gewesene in Gegenwart, und wie jede Übersetzung ist sie unvollkommen und enthält sowohl mehr als auch weniger als das „Original“.
Semprún erzählt vom Grauen, das Alltag ist. Gewiss, Buchenwald ist kein Vernichtungslager wie Auschwitz oder Treblinka, aber auch hier ist der Tod überall gegenwärtig und die Entwürdigung. Um zu überleben, braucht es Glück. Und Überlebenswillen. Dem Glück hilft nach Kräften die illegale kommunistische Organisation nach. (Freilich gibt es „Angelegenheiten unter Kommunisten, bei denen die Partei als Institution nur Scheiße bauen konnte“ und die man besser selbst in die Hand nimmt.) Der Überlebenswille hängt nicht zuletzt davon ab, was man im Lager an physischer Widerstandskraft bewahren kann und was man an mentaler Widerstandskraft aus der Welt draußen mitgebracht hat.
„Die unvermeidliche, ständige Enge war eine der verhängnisvollsten Geißeln des Alltags in Buchenwald.“ Sie bedeutet einen völligen Verlust an Intimität: Arbeiten, Schlafen, Essen, Scheißen — all das muss in Gegenwart der anderen geschehen. Auch der Sex. Der übrigens, ob es sich dabei um Gleichgeschlechtliches oder um Selbstbefriedigung handelt — das Lagerbordell steht nur reichsdeutschen Häftlingen offen … —, auch eine Form des Widerstands ist: eine Rückeroberung des Bei-sich-seins und der Verausgabung in der Lust; die paar Bemerkungen Semprúns über das Wichsen gehören übrigens zum Besten, was je über Sexualität im KZ geschrieben wurde.
Manchem freilich steht der Sinn auch nach weniger handfesten Genüssen. „Außer dem Spaziergang gab es nur noch ein anderes Mittel, die klebrige Angst vor der ständigen Enge zu überlisten: nämlich Gedichte zu rezitieren, mit leiser oder mit lauter Stimme.“ Dieses Mittel lässt sich auch unter völlig menschenunwürdigen Bedingungen anwenden, „unabhängig vom Wetter, vom Ort, von der Uhrzeit. Ein wenig Gedächtnis reicht aus (…) Auf dem, Scheißhaus, ungeachtet des Gestanks und der lärmenden Erleichterung der Gedärme ringsum, verbot einem nichts, die tröstende Melodie einiger Verse von Paul Valéry zu murmeln.“ Oder von Rimbaud oder Lorca.
Der Abtritt dient bezeichnenderweise auch als Treffpunkt der Intellektuellen. Der ehemalige Philosophie-Student Semprún, der übrigens in Buchenwald auch dem Sterben seines Lehrers Maurice Halbwachs zusehen muss, wird an diesem grotesk widerwärtigen Ort in Diskussionen über wortwörtlich Gott und die Welt verwickelt. Hier und an vielen anderen Stellen erweist sich „Der Tote mit meinem Namen“ auch als ein Buch über den Widerstand, den Bildung einigen ermöglicht. Das Erinnern, das Kennen, das Wiedererkennen, das Vergessen, das Wiederentdecken von Texten und ihren Bedeutungen, und damit, in erzählerischer Hinsicht, die freie Bewegung von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit, die Aneignung des Gewesenen durch die Erfahrung der Gegenwart.
So wird Semprún zum Beispiel erst fast ein halbes Jahrhundert nachdem der junge Mann, dessen Identität er annehmen soll, an seiner Seite gestorben war, erfahren, wie dessen letzte Worte eigentlich lauteten und was sie bedeuteten … Die Leser und Leserinnen werden hineingenommen in die Geschichte dieser Entdeckung, die Zeiten, Orte und Sprachen durchquert, und ihre Leseerfahrung wird zum Denkmal für Francois L., gesetzt von einem Kameraden, der diesen Tod, einen von Tausenden, Hunderttausenden, Millionen, nicht vergessen hat.
Angesichts der großen Bedeutung, die Sprachlichkeit und durch Sprachen vermittelter Bildung in diesem Buch besitzt, ist es umso trauriger, dass die Übersetzung so schlecht ist. Um zu bemerken, dass sie von Fehlern strotzt, muss man das Original nicht kennen: schlechtes Deutsch kann kein gutes Französisch gewesen sein. Wenn sie sich für Literatur nicht interessiert und Grammatik nicht beherrscht, hätte Frau Moldenhauer einen anderen Beruf ergreifen sollen. Sie hätte dem Publikum nicht den Text eines so wichtigen Autors wie Semprún verhunzen dürfen. Schande über den Suhrkamp-Verlag, der das zulässt.
Dennoch, ein Glück für die Leserinnen und Leser, das dieses Buch auch auf Deutsch erhältlich ist. Jorge Semprún hatte Glück. Er überlebte und er konnte davon erzählen. Aber auch wir Nachgeborenen haben Glück, denn an uns ist sein Zeugnis gerichtet.

Eine Fassung dieses Textes erschien am 6. Juni 2002 in der Tageszeitung „junge Welt“ (Berlin): www.jungewelt.de/2002/07-06/024.php