Viktor Pelewin: Tolstojs Albtraum Drucken

Ein phantastisches Buch! Wäre es Jahrzehnte früher erschienen und hätte ich es als Jugendlicher gelesen, hätte es mich wohl ähnlich beeinflusst, wie es „Königrufen“ von Peter Marginter oder „1984“ von George Orwell taten. (Und in meiner Kindheit all die Märchen und Sagen und unter anderem Jan Brzechwas „Akademie des Meister Klecks“. Oder, wesentlich später, „Naked Lunch“ und anderes von Burroughs.) Es hätte mich in meiner Neigung bestärkt, die Unwirklichkeit der Wirklichkeit und die Wirklichkeit des Traumhaften und Wunderbaren für entscheidender zu halten als all das, was alle Welt für wirklich und wichtig zu halten scheint. Anders gesagt, es hätte mich verwirrt zurückgelassen und mich womöglich Verwirrtheit (oder vielmehr: Unglauben an die Unverwirrtheit der anderen) als angemessenes Weltverhältnis begreifen gelehrt. Aber auch so ist es mir zu einem wundervolles Lektüreerlebnis geworden!
Viktor Pelewin gelingt es in „Tostojs Albtraum“ — das Buch heißt im russischen Original schlicht „T“ —, Romanhandlung und philosophischen Diskurs, russische Geistesgeschichte und Momente von action und suspense (und erstaunlich wenig sex) zu verschränken, ja miteinander zu durchdringen. Es stehen so Szenen von verblüffender Komik neben Passagen mit unerwartetem Tiefsinn. Das ergibt eine ebenso unterhaltsame wie anregende Lektüre, jedenfalls für solche, die Sinn für derartige Herausforderungen haben. Übrigens können, auch wenn die deutsche Ausgabe mit hilfreichen Anmerkungen versehen ist, ein paar Kenntnisse in russischer Geschichte, Literatur, Politik und Religionsphilosophie nichts schaden, wenn man möglichst viele Anspielungen und Kontexte verstehen will, sie sind aber, vermute ich, keineswegs zwingend erforderlich, um an dem komplexen, aber nicht komplizierten Buch vielfältigen und nachhaltigen Gefallen zu finden
Für jemanden wie mich jedenfalls, der eine gewisse Anhänglichkeit an das alte, das vorrevolutionäre Russland hat, ist schon das Ambiente des Romans ein Vergnügen. Dass dann auch noch wirklich und wahrhaftig Tolstoj, Dostojewski und Solowjow als handelnde und denkende Figuren auftreten, steigert den Genuss ins Aberwitzige. Zumal die Handlung herrlich belanglos und verschlungen ist — und hier darum auch nicht nacherzählt werden soll oder kann. „Tolstojs Albtraum“ ist, so viel sei immerhin warnend verraten, auch und vielleicht sogar vor allem ein Roman übers Schreiben von Romanen und, mehr noch, über das Lesen eben dieses Romanes, den man gerade liest. Manche mögen dafür das Etikett „postmodern“ benötigen. Ich würde eher sagen, es ist erzählende Literatur auf der Höhe ihrer Möglichkeiten, so, wie sie bei Cervantes und Sterne begann, zugegebenermaßen weniger dicht und schwer als bei Proust, Joyce, Mann, Musil e tutti quanti, aber angereichert um die Erfahrung von Groschenromanen, Comicheften, Kinofilmen und Fernsehserien. Hier ist, einmal mehr in der Literaturgeschichte, das bewundernswerte Kunststück gelungen, Parodie und Original ununterscheidbar werden zu lassen.
Mit „Tolstojs Albtraum“ habe ich jetzt zum ersten Mal (und mit großem Genuss!) ein Buch des, wie ich höre, ungemein erfolgreichen Viktor Pelewin, gelesen. Ich vermute sehr, es wird nicht mein letztes bleiben.

Viktor Pelewin: Tolstojs Albtraum, München (Luchterhand Literaturverlag) 2013, übersetzt von Dorothea Trottenberg. [russ. 2009]