Zum Unterschied von „links“ und „rechts“ Drucken

Befragt, was der Unterschied von (politisch) „links“ und „rechts“ sei, pflegt ein Bekannter von mir zu antworten: Links, das heiße: „Es muss für alle reichen“, rechts: „Es reicht nicht für alle“. Ich finde diese Umschreibung sympathisch, aber problematisch und unzureichend und versuche hier zu erklären, warum.

Sympathisch ist mir die Gegenüberstellung der Formeln, weil sie soziökonomisch verfährt, also die soziale Frage stellt und ökonomisch beantwortet. Problematisch finde ich, dass Politik damit als Verteilungsproblem erscheint: Reicht es für alle? Kann, soll, muss es für alle reichen? Gesellschaft ist aber mehr als Verteilung von Gütern. Politik, verstanden als die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens, bezieht sich, um ein anderes Bild zu gebrauchen, nicht aufs Brot allein, sondern auch auf Worte, die aus Mündern kommen, und hier ist, noch ein Bild, die Moral nicht einfach eine Funktion des Fressens (und Gefressenwerdens), sondern die Fragen von Sein und Sollen, Dürfen und Müssen, Nichtdürfen und Nichtmüssen sind den Fragen der materiellen Versorgung meinem Verständnis nach vorgeordnet.

Eine Gesellschaft wäre denkbar, in der es durchaus für alle reicht, alle gut versorgt sind, es niemandem an Befriedigung der Grundbedürfnisse und vieler weiterer mangelt, in der aber Unfreiheit herrscht und totale Fremdbestimmung. Wäre das ein „linkes“ Modell? Ist das der Sozialismus, von dem so viele geträumt haben und einige noch träumen? Ist das der Grund, warum Verbrechen im Namen einer besseren Gesellschaft begangen wurden und werden? Ich sage es ganz klar: Lieber arm und frei als wohlhabend und unfrei. Eine Bestimmung von „links“, die nur auf Wohlfahrt ausgerichtet ist, aber nicht auf Freiheit, genügt mir nicht.

Andererseits scheint mir keine Gesellschaft denkbar, in der es nicht für alle reicht und die trotzdem jedem Selbstbestimmung und freie und gleiche Teilhabe an der bewussten Gestaltung der gesellschaftlichen Angelegenheiten ermöglicht. Wirtschaftliche Ungleichheit ist politische Ungleichheit. Insofern schlägt mein Herz links, wie man sagt.

Rechte“ Einwände wären: Es hat nie für alle gereicht, es kann gar nicht für alle reichen, es soll auch gar nicht für alle reichen, denn Ungleichheit ist der Antrieb des Zusammenlebens. Auch dies reduziert Politik auf ein Verteilungsproblem. Politik wird sozusagen technisch: Wie schaffen wir es, dass es nicht für alle reicht bzw., da es sowieso nicht für aller reicht, dass auch die Benachteiligten es weitgehend akzeptieren, dass andere bevorzugt werden? Die zu Grunde liegende ethische Problematik ? Muss es nicht eigentlich für alle reichen? Darf es nur für wenige reichen? ? wird durch anthropologisch-biologistische Geschichtsphilosophie überboten: Der Mensch ist nun einmal so, die Starken (Besserangepassten) setzen sich durch usw. Solche Ideologien verkennen mehr oder minder absichtlich die Gestaltbarkeit dessen, was Menschen einander sind und wie sie miteinander umgehen. Biologie ist aber kein Schicksal, sondern (eine von Menschen erfundene und betriebene Wissenschaft bezüglich der) Grundlage, die freilich noch Grundsätzlicheres voraussetzt: Metaphysik.

Meine Version von Metaphysik skizziere ich darum hier kurz wie folgt: Das Füreinanderdasein ist die Grundlage des menschlichen Daseins überhaupt. Andere waren schon für mich da, bevor es mich gab. In nahezu jedem meiner Seinsvollzüge bin ich auf andere verwiesen. Ohne andere könnte ich beispielsweise nicht sprechen, also auch nicht denken. Was ich gelernt habe, habe ich von anderen gelernt. Selbst als aus der Welt zurückgezogener Eremit nähme uich in meine Einsamkeit meine Abkunft von anderen, meine Erfahrungen mit anderen und mein Verwiesensein auf andere mit. Sein heißt, für jemanden sein ? letztlich (Vorsicht, Übergang von der Philosophie zur Theologie!) und im alles begründenen Grunde für Gott. Nächstenliebe ist kein frommes Hobby, sondern unmittelbare Notwendigkeit gleichberechtigten Zusammenlebens. Nur wer den anderen so achtet wie sich selbst, kann sinnvoll zur Wohlfahrt aller beitragen.

Für einander da zu sein, auch im Sinne: für einander zu sorgen, ist die Grundlage, der Ursprung des Gesellschaftliche, den Gesellschaft ist eben für den Einzelnen nichts Nachträgliches, in das er erst durch Vergesellschaftung einzufügen wäre, sondern ein Gefüge, in dem er sich immer schon vorfindet, gerade auch, wenn er sich seiner Selbständigkeit bewusst wird. Auch dort, wo er sich abgrenzt, kann er das nur, weil er im Zusammenhang steht. Sein Sein und sein Tun verweist ihn so oder so auf andere. All seine Schwierigkeiten all sein Leid stammt letztlich aus dem Gegeneinander, für das er im Grunde nicht geschaffen ist. Selbständigkeit und Zusammenwirken mit anderen schließen einander nicht aus, sondern bedingen einander.

Kooperation ist aber nicht nur theoretisch grundlegender als Konkurrenz, sondern auch praktisch sinnvoller. Wenn jeder für alle tätig ist, dann kann der Einzelne auch schon mal ausfallen (Krankheit, Altersschwäche. Unlust), trotzdem ist jeder versorgt; wenn jeder nur für sich selbst sorgt, ist jeder Ausfall, jede Schwäche, jedes Ungenügen potenziell existenzbedrohend.

So weit das, was ich Metaphysik nenne. Politisch heißt das für mich: Wenn der Preis für Wohlstand die Abwertung, Ausgrenzung, Benachteiligung, Ausbeutung, Vernichtung einiger ist, dann darf dieser Preis nicht bezahlt und muss eher auf ein gewisses Maß an Wohlstand verzicht werden. Auch Freiheit, Selbstbestimmung, Würde „müssen für alle reichen“.

Der Krieg aller gegen alle ist nämlich kein Naturzustand, sonder ein politisches Programm; eine Drohung, um zu bewirken, dass das, womit gedroht wird, strukturell und institutionell verfestigt werden kann. Kapitalismus ist genau das: Die Ausbeutung aller durch ein System, in dem es zwar durchaus benennbare Profiteure gibt, die aber nicht weniger austauschbar sind als die Verlierer. Ein System der Ausbeutung, der Umweltzerstörung und der Verblödung, dessen Modell ein falsch verstandener Markt ist. Sicher, auf einem Markt (oder in einem Basar) gibt es Anbieter der gleichen Waren und an jeder Ware, die ein anderer verkauft, verdient man selber nichts. Aber das funktioniert (prä- und extrakapitalistisch) nur, weil die Anbieter vorab eine sich selbst regulierende Gemeinschaft bilden, in der auch für die Schwachen gesorgt wird. Der Markt besteht nicht nur aus Angebot und Nachfrage und deren Verhältnis, sondern vor allem aus den Bedingungen von Maß und Wert, von Zulassung und Regulation. Der Markt funktioniert nur, weil es ein Drumherum gibt, das das Marktgeschehen umfasst, ermöglicht, beschränkt, trägt.

Miteinander, nicht gegeneinander zu leben, ist die den Menschen entsprechende Weise des Zusammenlebens. Vernünftig wäre es darum, nicht aus jedem Einzelnen einen kleinen Unternehmer zu machen, sondern gemeinsam, das heißt: in spezifischen Formen der Gemeinsamkeit, zusammenzuarbeiten, um die Bedürfnisse eines jeden zu befriedigen und danach allfällige Überschüsse ebenfalls gerecht einzusetzen. Verteilungsgerechtigkeit beginnt ja nicht erst mit den Verteilen von bereits Erwirtschaftetem, sondern mit der Frage des Eigentums an Produktionsmitteln. Ist dieses ungleich verteilt, kann jede anschließende Verteilung nur Umverteilung sein, die eine Vorverteilung ausgleichen soll. Im Sozialismus (im technischen Sinne: Vergesellschaftung der Produktionsmittel) braucht es keine Umverteilung, weil bereits die Vorverteilung gerecht und sinnvoll organisiert ist.

Daraus folgt nicht, dass eine gerechte Gesellschaft im schlechten Sinne gleichmacherisch ist. Unterschiede gibt es und darf es geben. Auch solche, die ungleiche Teilhabe am Wirtschaften bedingen. Ein guter Schuster braucht mehr und besseres Leder, um mehr und bessere Schuhe herzustellen, als ein schlechter Schuster; dieser sollte vielleicht überhaupt einen anderen Beruf wählen. Arbeitsteilung und funktionale Hierarchien müssen weder zur Bedürfnisbefriedigung einiger auf Kosten anderer noch zu ungleicher Teilhabe am gesellschaftlichen Leben führen. Besondere Leistung kann (aus den Überschüssen, wenn die Befriedigung der Grundbedürfnisse sicher gestellt ist) belohnt werden, ohne dass „Klassen“ entstehen müssen. Alles Fragen der Vernunft und des guten Willens. Weshalb das Ethische (letztlich das Religiöse) dem bloß Ökonomischen oder Sozioökonomischen strikt übergeordnet bleiben muss.

Auf der anderen Seite können „harmonistische“ Gesellschaften ? in denen es für alle reicht, aber niemand frei ist ? gar nicht anders, als sehr wohl Ungleichheit zu produzieren, weil sie ihre Stabilität nur durch die Vergabe von Privilegien einerseits und das Verhängen von Strafen andererseits immer wieder durchsetzen können, also durch eine auf Ungleichheit zielende Regulierung des Zugangs zu Handlungsmöglichkeiten und die Gewährung oder den Entzug von Gütern und Dienstleistungen. Unfreie Gesellschaften können demnach auch in wirtschaftlicher Hinsicht nicht gerecht sein. Moralisch erst recht nicht. In ihnen arbeitet jeder gegen jeden, jeder ist der potenzielle Feind (Spitzel, Verführer, Chef, Saboteur, Verräter usw.) des anderen, die Herrschenden spielen jeden gegen jeden aus und gewähren sich selbst und den Ihren auch materielle Vorteile. Nach meinem Verständnis sind sie schon deshalb unmöglich „links“, weil sie unterdrücken und manipulieren, lügen und morden, aber sie sind es eben auch deshalb nicht, weil es in ihnen Wahrheit keineswegs „für alle reicht“.

Die Bestimmung dessen, was im politischen Sinne „links“ und „rechts“ ist, möchte ich also dahingehend modifizieren, dass ich sage: Dass es für jeden reicht, ist die Voraussetzung dafür, dass jeder ein freies Leben führen kann im gerechten und vernünftigen Zusammenwirken mit anderen. Dass es nicht für jeden reicht, ist Mittel und Voraussetzung, um Unfreiheit zu garantieren. „Links“ ist für mich also das Eintreten für vernünftige Selbstbestimmung jedes Einzelnen auf gesicherter Grundlage gerechten Zusammenlebens. „Rechts“ ist für mich das Eintreten für Unterdrückung, Ausbeutung, Gegeneinander, Verdummung und die Untergrabung der natürlichen Lebensvoraussetzungen.