Macht endlich Schluss mit der Kunst Drucken

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was ich mir für heute Abend vorgenommen habe, ist nichts weiter, als Ihnen zwei Thesen zu unterbreiten, einige Argumente für diese Thesen vorzubringen sowie einige Folgerungen zumindest anzudeuten. Ihnen sei es dann am Ende überlassen, Einwände zu erheben oder Zustimmung auszudrücken oder beides.
Meine erste These lautet, dass sowohl „Kunst“ als auch „Künstler“ überholte Begriffe sind, überholt von der Kunstgeschichte selbst. Längst handelt es sich dabei um Worthülsen, die eines allgemein verbindlichen Inhaltes entbehren und deshalb allenfalls noch einen Stimmungswert besitzen, allerdings auch die nicht zu vernachlässigende Funktion einer sozialen Distinktion. Als Begriffe im strengen Sinne jedoch sind „Kunst“ und „Künstler“ einer ernsthaften theoretischen Auseinandersetzung, die sich auf der Höhe ihrer Möglichkeiten und Notwendigkeiten bewegt, unangemessen und unwürdig. Wer sie heute noch benützt, weiß entweder nicht, was er sagt, oder er sagt nicht, was er wissen müsste.
So weit die erste These. Den Übergang und die Verbindung zur zweiten These bildet meine Behauptung, dass der affirmative Gebrauch der Ausdrücke „Kunst“ und „Künstler“ den Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse, in denen diese Leerformeln immer noch ihre Rolle spielen wollen, verstellt und ein Verständnis der aktuellen Zusammenhänge erschwert oder gar verunmöglicht. Indem man zwei überflüssig gewordene Vokabeln in den einschlägigen Diskursen weiter mitschleppt, so als hätten sie noch etwas Relevantes zu sagen, entschlägt man sich der Möglichkeit, ihr Funktionieren zu begreifen und die Effekte dieses Funktionierens zu kritisieren. Die Rede von der Kunst und vom Künstler, so behaupte ich, immunisiert gegen eine ehrliche und kritische Wahrnehmung und Deutung der kapitalistischen Realität.
Meine zweite These ist nun gerade auf diese Realität bezogen und lautet, dass Konzepte, die gemeinhin mit „Kunst“ und „Künstler“ in Verbindung gebracht werden — nämlich Kreativität, Innovation, Selbständigkeit usw. — längst auch anderswo als im Kunstbetrieb fröhliche Urständ’ feiern. Zum einen sind sie zu fixen Ideen sowohl der so genannten Unternehmensphilosphien wie auch der von unternehmerischem Selbstverständnis geprägten neuen Selbständigen- und Arbeitnehmeridentität avanciert. Zum anderen bestimmen sie neben der Arbeit im engeren Sinn auch die so genannte Freizeit, also den dem Konsum und der Selbststilisierung vorbehaltenen Lebensbereich. Niemand kann es sich mehr leisten, sich nicht stets neu zu erfinden und sich und seine Verhältnisse nicht fortwährend nach dem Muster „Zugehörigkeit durch Besonderung“ zu gestalten, und wer hier versagt, zahlt den Preis der Rückständigkeit, Langweiligkeit und Ausgeschlossenheit aus den Freuden der Warengesellschaft.


Dies sind, in der Kurzfassung, meine beiden Thesen. Aber bevor ich mich nun daran mache, sie weiter auszuformulieren und Belege für sie vorzubringen, möchte ich drei Bemerkungen allgemeiner Art einschieben, die Ihnen hoffentlich das Verständnis meines Vortrages erleichtern werden und die zumindest gewisse grobe Missverständnisse verhindern sollen.
Meine erste Vorbemerkung betrifft eine scheinbare Formalität, die aber weit mehr als das ist, insofern jede gewählte sprachliche Form immer auch, sei es freiwillig oder unfreiwillig, Artikulation eines Bewusstseins ist. Wie Sie wissen, trägt die Veranstaltungsreihe, in die ich mich heute durch meinen Beitrag einfügen darf, den Obertitel „Berufsbild KünstlerIn“ — „KünstlerIn“ mit großem I, wohl um damit zu sagen, dass es gleichermaßen um das „Berufsbild Künstler“ und das „Berufsbild Künstlerin“ (diesmal mit kleinem I) geht. Diese graphische Lösung für die simultane Bezeichnung beider Geschlechter kann für das gesprochene Wort nicht übernommen werden. Buchstaben sind nur sichtbar, nicht hörbar, das in der Schrift so wunderbar ökonomische Binnen-I versagt dem gesprochenen Wort seinen Dienst. Ein Vortrag aber, wie ich ihn hier halte, ist nun einmal primär ein akustisches Ereignis, ich spreche zu Ihnen, ich schreibe sie nicht an, und deshalb musste ich für das Problem der Geschlechtermarkierung eine andere Lösung oder eben eine Nichtlösung finden. Ich bekenne mich also ausdrücklich dazu, dass ich, wiewohl ich mir der Problematik durchaus bewusst bin, die sprachliche Differenz der Geschlechter nicht in jedem Fall markieren werde, dass ich also beispielsweise zwar hin und wieder von Künstlern und Künstlerinnen sprechen, aber gelegentlich auch dort, wo sowohl Künstlerinnen als Künstler gemeint sind, nur „Künstler“ sagen werde.
Dies hat drei Gründe. Da ist zum einen die Prägnanz des Ausdrucks. Man vergleiche den Satz „Wer heute noch von Kunst und Künstlern redet, weiß entweder nicht, was er sagt, oder er sagt nicht, was er wissen müsste“ mit dem Satz „Wer heute noch von Kunst und Künstlern oder Künstlerinnen redet, der oder die weiß entweder nicht, was er oder sie sagt, oder er oder sie sagt nicht, was er oder sie wissen müsste“. Weder mir noch Ihnen ist meiner Meinung nach zuzumuten, um einer vermeintlichen politischen Korrektheit willen die Klarheit und Deutlichkeit eines Gedankens durch schwerfälliges Herumgerede zu beeinträchtigen.
Ein weiterer Grund für die gelegentliche Nichtmarkierung der Geschlechter ist das von mir ausgewählte Zitatmaterial. Joseph Beuys hat nun einmal nicht gesagt, „Jeder oder jede ist Künstler oder Künstlerin“, sondern er sagte: „Jeder ist Künstler.“ Zitate dieser Art nun aber rückwirkend politisch korrekt umzuformulieren, kommt für mich selbstverständlich nicht in Frage.
Der dritte Grund schließlich, weshalb ich nicht immer eine Geschlechtermarkierung anbringen werde, ist der, dass mein Thema hier und heute nicht die weibliche künstlerische Subjektivität als solche ist, obwohl auch das gewiss ein sehr lohnendes Thema wäre. In dem Sinne nämlich, in dem Evelyn Fox Keller einmal gefragt hat: „Gab es eine Renaissance für die Frauen?“, könnte man auch fragen: „Gab es überhaupt eine Kunstgeschichte für die Frauen?“ Man könnte aber auch fragen, ob nicht zwischen der immer massiver gewordenen Präsenz der Figur der Künstlerin einerseits und der Aushöhlung der Begriffe und Kunst und Künstler andererseits irgendein Zusammenhang besteht. Man könnte dann weiter spekulieren, ob nicht das verkrampfte Festhalten an den Begriffen „Kunst“ und „Künstler“ (trotz ihrer Hohlheit) vielleicht etwas mit einer Feminisierung des Kunstbetriebes zu tun hat, damit also, dass Frauen mittlerweile als Herstellerinnen und als Vermittlerinnen von Kunst eine entscheidende Position innehaben, weshalb möglicherweise das trotzige Aufrechterhalten berufskünstlerischer Identität in gewisser Hinsicht einer gerade auch von Frauen forcierten Konservierung des herkömmlichen Subjektbegriffes korrespondiert, wie sie beispielsweise in den Debatten rund um Texte von Judith Butler hitzig diskutiert wurde. Das alles aber ist, wie gesagt, hier und heute ganz und gar nicht mein Thema.
Die zweite Vorbemerkung, die ich meinem Vortrag voranstellen möchte, betrifft die vorsorgliche Ausräumung eines Missverständnisses. Ich spreche hier und heute ausdrücklich nicht darüber, was Kunst ist. Ich gehe vielmehr von dem Faktum aus, dass es Phänomen gibt, die als Kunst bezeichnet werden, und Personen, die sich selbst als Künstler oder Künstlerinnen bezeichnen oder von anderen so bezeichnet werden. Was die Kunst als solche eigentlich ist, braucht mich dabei nicht zu interessieren. Mir genügt es, dass etwas als Kunst gilt, um untersuchen zu können, warum, von wem, mit welchen Mitteln, zu welchem Zweck, mit welchem Erfolg und mit welchen Folgen diese Geltung beansprucht wird. Ob dabei das, was als Kunst gilt, auch wirklich Kunst ist, kann mir gleichgültig sein — zumal ich nebenbei bemerkt gar nicht so recht verstehe, was es denn heißen sollte, dass etwas Kunst ist, wenn es nicht heißt, dass es als Kunst gilt und gelten soll. Denn meiner unmaßgeblichen Meinung nach gibt es schlechterdings keine andere Möglichkeit, die Frage nach dem Wesen der Kunst sinnvoll zu stellen, als die Gültigkeit von Kriterien zu diskutieren. Nur das, was als Kunst gilt, kann auch Kunst sein, sofern es nämlich zu Recht als Kunst gilt. Freilich wäre es möglich, geheimnisvolle und entweder vorübergehend oder grundsätzlich unerkennbare und darum in ihrer Gültigkeit unentscheidbare Merkmale der Kunst zu postulieren, etwa indem man das, was Kunst zur Kunst macht, auf den Einfluss von Elfen oder Außerirdischen zurückführt. Gerade in solchen Fällen wäre ich dann aber froh, dass ich die Frage, was Kunst ist, hier nicht zu erörtern brauche, sondern mich darauf beschränken darf, das als Kunst Gelten und seine Folgen zum Thema zu machen.
Die dritte Vorbemerkung, die ich noch meine machen zu müssen, um Sie besser verstehen zu lassen, was ich hier treibe, betrifft meine Position als Vortragender. Ich möchte ausdrücklich klarstellen, dass ich hier und heute nicht als Kunsthistoriker, Kunstsoziologe oder Kunstphilosoph zu ihnen spreche, wiewohl durchaus auch Historisches, Soziologisches und Philosophisches in meine Ausführungen einfließen darf. Aber der von mir gewählte Zugang zur Sache ist nicht der des Kunstwissenschaftlers, Kunsttheoretikers oder Kunstkritikers, sondern der eines Journalisten. Die Situation des Journalisten ist ja bekanntermaßen eine besondere. Er spricht zwar nicht im eigenen Namen, also bloß als dieses oder jenes kontingente Subjekt, aber er spricht sehr wohl mit eigener Stimme, steht also in eigener Person und oft mit eigenem Namen für das Gesagte ein. Der Journalist spricht ferner (zumindest im modellhaften Idealfall des wirklich unabhängigen Journalisten) auch nicht im Namen anderer, schon gar nicht im Namen seiner Auftraggeber oder im Namen einer Institution, Richtung, Partei oder Idee, deren Sprecher er sein soll oder will. Das alles gibt es zwar, es ist sogar die hegemoniale Realität der Medienwelt, aber ich spreche hier selbstverständlich nicht vom Journalismus als Profession, sondern vom Journalismus als Methode — in etwa in dem Sinne, in dem Michel Foucault sich als radikalen Journalisten bezeichnet und vorgeschlagen hatte, die Philosophen sollten Journalisten werden. Der Journalist, wie ich ihn verstehe, zeichnet sich nicht durch besondere Fachkenntnisse aus (obwohl selbstverständlich gediegenes Fachwissen nebst tüchtiger Allgemeinbildung nichts schaden kann), sondern durch die Bereitschaft und Fähigkeit, Fachwissen und allgemeine Gesichtspunkte produktiv zu verbinden. Der so verstandene Journalist sagt nichts, was nicht jeder sagen könnte, der sich dieselben Informationen verschafft hätte, und er verwendet im Großen und Ganzen keine anderen Informationen als die, die im Prinzip allen zugänglich sind. Der Journalist, als der ich mich hier heute präsentieren möchte, enthüllt nicht verborgene Wahrheiten, sondern zeigt das Offensichtliche — allerdings mitunter durchaus so, dass das, was bisher als selbstverständlich galt, plötzlich in Frage steht. Um es in ein Bild zu bringen: Der unabhängige und kritische Journalist ist nicht derjenige, der in den Korridoren der Macht gegenüber den Dienstboten flüsternd ausplaudert, was er durchs Schlüsselloch des kaiserlichen Ankleidezimmers an gewagten und sündteuren Modekreationen erspäht haben will, sondern er ist derjenige, der in der Öffentlichkeit mit einer gewissen konfliktfreudigen Unverschämtheit, aber durchaus auch mit geziemender Bescheidenheit, die ansonsten gern um der Konvention willen übersehene schlichte Tatsache herausposaunt, dass der Kaiser nackt ist.


1. Die Einhörner und die Kunst

Ohne Kunst und Wein leben. — Mit den Werken der Kunst steht es wie mit dem Weine: noch besser ist es, wenn man beide nicht nötig hat, sich an Wasser hält und das Wasser aus innerem Feuer, innerer Süße der Seele immer wieder von selber in Wein verwandelt. (Friedrich Nietzsche)

Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, über die Kunst zu reden, ist gefährlich. Zwar kommt, wer sich darein begibt, nicht unbedingt um, aber die Gefahr besteht, dass er ein bisschen von seinem Geist aufgibt. Sobald nämlich die Rede auf „die Kunst“ kommt, scheinen auch die kritischsten Geister ihr Handwerk nicht mehr beherrschen zu wollen und vergessen, die einfachsten Fragen zu stellen. Zu den einfachsten und wichtigsten Fragen der Kritik aber gehört meiner Meinung nach neben „Wovon ist hier die Rede?“ auch die Frage „Gibt es das, wovon hier die Rede ist, überhaupt?“.
Um so erstaunlicher, dass in der Rede von der Kunst diese Frage in aller Regel nicht vorkommt. Es scheint fast, dass diese Frage nicht gestellt, ja gar, dass hier nichts in Frage gestellt werden kann oder darf. Wer von der Kunst spricht, scheint immer schon voraussetzen zu müssen, dass es die Kunst gibt und geben soll. Das Existenzrecht der Kunst als solcher, also nicht dieses oder jenes Kunstwerkes, sondern das generelle Existenzrecht der Kunst muss im voraus anerkannt werden und wird es auch. Legionen von Kunsttheoretikern und Kunsttheoretikerinnen haben eine unübersehbare Fülle von Texten zur Kunst produziert, ohne sich jemals fragen zu müssen, ob es so etwas wie die Kunst überhaupt gibt. Sie haben munter drauflosdefiniert und wieder umdefiniert, Kriterien gefunden, verworfen, wieder eingeführt und wieder zurückgewiesen, ohne sich und andere je mit der Frage behelligen zu müssen, ob das, wovon sie da so vollmundig schreiben, denn auch existiert. Die Rede über die Kunst ist daher seit ihren Anfängen bis heute dadurch gekennzeichnet, dass es sehr viel mehr Antworten als Fragen gibt und dass man zwar immer wieder mehr oder minder umständlich die Frage zu beantworten versucht hat: „Was ist Kunst?“, dass man aber nicht ein einziges Mal ernsthaft die einfach Frage gestellt hat: „Gibt es Kunst?“
Ich wünschte, die Rede über die Kunst gliche der Rede über Einhörner. Selbstverständlich gibt es Einhörner. Ich wage zu behaupten, jeder und jede der hier Anwesenden hat schon einmal Einhörner wahrgenommen. Wohl alle haben schon einmal ein Einhorn gesehen, manche sogar eines gehört oder angefasst, allerdings wohl niemand ein Einhorn gerochen oder geschmeckt. Einhörner gibt es, das unterliegt keinem Zweifel, denn ihre Existenz ist eine Erfahrungstatsache. Es gibt Einhörner als heraldische Figuren und als Motive auf Tapisserien, es gibt sie als Zeichentrickfiguren und als Gebilde aus Stein, Marmor, Plastik oder Marzipan. Es existiert eine reiche Literatur zum Einhorn als solchem, in der unter anderem die verschiedenen Legenden dargestellt werden, die das Einhorn als Symbol der Reinheit und Stärke deutbar machen. Dass die chinesische und die abendländische Kultur unabhängig von einander ihre jeweiligen Diskurse vom Einhorn entfaltet haben, rundet das Wissen um die Existenz von Einhörnern ab.
Einhörner gibt es also, aber es gibt sie nur in bestimmtem Sinne. Ich rufe bei Ihnen vermutlich wenig Widerspruch hervor, wenn ich behaupte, dass Einhörner keine wirklichen Lebewesen sind in dem Sinne, in dem Pferde, Nashörner oder Schnabeltiere wirkliche Lebewesen sind. Dem gängigen Verständnis zufolge sind Einhörner Fabeltiere, die es „nicht wirklich“ gibt, wobei „nicht wirklich“ wohl so viel bedeuten soll wie: „nur in der Phantasie und allenfalls noch als auf Grund von Phantasien von Menschen hergestellten Dinge“. Die Rede über Einhörner gilt als phantastischer Diskurs, der romantisch oder kitschig sein mag, kulturhistorisch interessant oder ein bisschen verrückt, in jedem Fall aber ohne jede Aussagekraft über die wirkliche Wirklichkeit.
In dieser Einstellung gegenüber der Existenz von Einhörnern lässt sich der aufgeklärte Mensch übrigens auch nicht durch den Bericht des Marco Polo beirren, aus dem zu entnehmen ist, dass der Vielgereiste auf der Insel Java Einhörner mit eigenen Augen gesehen hatte. Der aufgeklärte und zoologisch gebildete Mensch weiß die Beschreibung der vierbeinigen Tiere mit dem einzelnen Horn auf dem Kopf sofort als Nashörner zu deuten. Er weist Marco Polos Deutung zurück und zweifelt keinen Augenblick daran, dass es keine Einhörner gibt und auch keine je gegeben hat.
Bei den Einhörnern gilt die Existenzfrage also als geklärt, allerdings negativ, weshalb die offensichtliche Verschiedenheit der Beschreibungen auch kein schwerwiegendes Problem darstellt. Wenn es keine Einhörner gibt, muss es zwar keineswegs gleichgültig sein, wie ihr Aussehen und ihre Verhaltensweisen beschrieben werden, aber der Wert der Beschreibungen liegt nicht in deren Verhältnis zu dem, was als verbindliche Wirklichkeit angenommen wird, sondern die Beschreibungen und Darstellungen von Einhörnern haben ihren Wert oder Unwert durch die Kontexte, in denen sie vorkommen, durch den Gebrauch, der von ihnen gemacht wird, durch die Gründe, aus denen sie entstehen, und Zwecke, auf die hin man sie schafft.
Was halte ich nun an dieser Einstellung zur Rede über Einhörner für vorbildlich für eine mögliche Einstellung zur Rede über die Kunst? Eben dies, dass die Existenzfrage keine Rolle spielt. Damit fällt nämlich eine gewisse Zwanghaftigkeit des Diskurses weg. Denn die herkömmliche Rede über die Kunst, die immer die positive Existenz der Kunst impliziert, versucht stets, ihre Aussagen auf diese jeder Essenz vorausgehende Existenz zu gründen. Anders gesagt, unabhängig davon, als was die Kunst jeweils gilt, wird ihr ein ontologischer Status zugeschrieben, eine Transzendentalität, an die Kategorien, die an konkrete Erfahrung gebundenen sind, nicht oder nur notdürftig heranreichen. Die verschiedenen Bestimmungen dessen, was die Kunst ist, sind somit im Grunde nebensächlich, Hauptsache ist die Gewissheit, dass es Kunst gibt.
Das ist jedenfalls, so meine ich, was die Kunsttheorien ihren Konsumenten und Konsumentinnen mit auf den Weg zu geben pflegen. So zum Beispiel wenn ein gewisser Reinhold Schmücker in seinem Buch „Was ist Kunst?“ die folgende Erkenntnis verbreitet: „Kunstwerke sind (…) kommunikative Zeichen in einem ganz bestimmten Sinn. Sie repräsentieren nichts, sondern teilen etwas Bestimmtes in der eigentümlichen Weise mit, daß der, dem die Mitteilung gilt, weil er das Werk ästhetisch erfährt, lediglich mitgeteilt bekommt, daß ihm eine bestimmte Mitteilung gilt, ohne daß er deren Inhalt definitiv zu bestimmen möchte. Eben darin liegt, wie mir scheint, das Wesen der Kunst.“ (Schmücker, S. 283)
Ist das nicht wunderbar? Kunstwerke als Mitteilungen mit ganz bestimmt unbestimmbarem Inhalt, das heißt doch nichts anderes, als dass von der Mitteilung nichts übrig bleibt als die Tatsache ihrer Existenz. Stellen Sie sich vor, Sie bekämen eine E-Mail, könnten Sie aber definitiv nicht öffnen und darum niemals lesen. Sie wüssten also mit Sicherheit, dass Sie Post haben, aber nicht, was drin steht. Das ist das Wesen der Kunst. Nach Herrn Schmücker.
Ähnlich existenzgläubig und inhaltsvergessen geht es zu, wenn, anderes Beispiel, ein gewisser Hermann Pfütze in seinem Buch „Form, Ursprung und Gegenwart der Kunst“ dekretiert: „Alle Versuche, Kunst zu maßregeln und zu definieren, was sie sei und was nicht, sind im Grunde Fluchtversuche vor der Erfahrung des Nicht-Identischen in der Wildnis des Imaginären, sind Ausdruck der Angst vor den neuen Webmustern der Einbildung, in die sofort gerät, wer die schmale Spur der Gewißheiten, der Chronologie und Topographie, zu verlassen bereit ist.“ (Pfütze, S. 222)
Was will Pfütze damit anderes sagen als: Wehe dem, der nach überprüfbaren Kriterien für die Kunst verlangt, der ist bloß ein feiger Banause, der sich der abenteuerlichen Realität nicht stellen will. Und diese Realität sieht so aus: Es gibt Kunst und damit basta.
Diese Beispiele sind nicht die Ausnahme, sondern illustrieren die Regel. Bei all den Denkern und Denkerinnen, die immer neue Gesichtspunkte hervorsprudeln, um Kunst als Kunst durch Klärung dessen, was sie ist, begreifbar zur machen, steht im Hintergrund fast immer, zumindest unausgesprochen, die These, dass Kunst schlichtweg unhintergehbar ist. Sich diesem Lehrsatz anzuschließen, heißt freilich, seine tendenzielle Inhaltsarmut, ja sogar Inhaltsleere verkraften zu müssen. Das vor allem im Lauf des vorigen Jahrhunderts erwiesene praktische Scheitern jedes Versuches, die Kunst auf den Begriff zu bringen, stellt für das aufgeklärte Bewusstsein in der Folge zwar nicht das Begehren nach Bedeutung still, aber es hat alle Deutungsversuche mehr oder minder gleichgültig gemacht, weil alle zwar auf dasselbe zu zielen scheinen, es aber offenkundig nicht endgültig erreichen können.
Analog zum religiösen Subjektivismus des Konsumzeitalters, demzufolge alle Religionen irgendwie auf dasselbe hinauswollen, wovon das Gewollte aber angeblich völlig unbeeindruckt bleibt, hat sich im Bereich der Kunst ein mystischer Pragmatismus etabliert, der angesichts der irreduziblen Pluralität der Kunstbegriffe den Erkenntniszwang verabschiedet hat und mit der überlegenen Gelassenheit des Unüberbietbaren eine Moral der fundamentalen Toleranz fordert: Es ist völlig egal, was du Kunst nennst, wie du sie beschreibst, was du mit ihr machst oder nicht machst, Kunst ist da, war immer da und wird immer das sein; alles, was du tun kannst, ist, dich auf deine Weise der Kunst zu nähern — was im Zweifelsfall freilich immer heißt, sich mehr oder minder freudig dem Glauben an die Existenz der Kunst zu unterwerfen.
Es wird Sie, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, nicht weiter überraschen, wenn ich an dieser Stelle den allgemeinen Konsens aufkündige und mich hier vor Ihnen dazu bekenne, dass ich den Glauben an die Existenz der Kunst nicht teile. Das ist selbstverständlich nicht im Sinne eines subjektiven Credos zu verstehen, sondern ein Vorschlag zur Methode.
Ich schlage vor, einmal so zu tun, als ob es die Kunst nicht gäbe. Oder zumindest so, als wüssten wir nicht, ob es sie gibt oder ob es sie nicht gibt. Klammern wir die Frage der Existenz der Kunst ein, setzen wir sie nicht mehr stillschweigend voraus und fragen wir uns stattdessen, was dann eigentlich passiert.
Wenn man nicht mehr weiß oder, genauer, nicht mehr wissen muss, ob es die Kunst gibt, gewinnt die Beschäftigung mit der Rede von der Kunst einen völlig anderen Charakter. Das Nachdenken über die Frage, was Kunst eigentlich ist, erübrigt sich völlig. Umso unvoreingenommener kann man sich damit befassen, wie es eigentlich gemacht wird, dass etwas als Kunst gilt, was damit bezweckt und was damit bewirkt wird.


2. Die Geburt der Kunst und des Künstlers

Der Seher und der Störenfried, der Schamane und der Außenseiter, der Clown und der Harlekin — diese Rollen ergaben sich daraus, daß der Künstler nicht weiß, was er macht: Indem er regelunfähig ist, fällt er aus jeder Gesellschaft heraus; er gilt als Medium höherer Kräfte, die über ihn verfügen, durch ihn hindurch aber sonst verborgene Wahrheiten mitteilen. (Wolfgang Ullrich)

Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, Sie werden sich jetzt vielleicht fragen, was denn die von mir vorgeschlagene methodische Einklammerung des Glaubens an die Existenz der Kunst eigentlich mit der Ihnen versprochenen These zu tun habe, der Begriff der Kunst und auch der des Künstlers sei überholt. Nun, es schien mir ratsam, erst einmal den Boden der Verunsicherung zu bereiten, ehe ich die Saat des Zweifels aussäe, aus der das zarte Pflänzchen der intuitiven Zurückweisung aufgehen soll, das dann die bunten Blüten der argumentativen Ablehnung hervorbringen kann und von dem endlich die Früchte eines veränderten Verständnisses von Kunst und Künstler zu ernten sein mögen. Weniger blumig gesagt: Ich wollte den Ihnen vermutlich selbstverständlichen Glauben an die Sinnhaftigkeit irgendeines Kunstbegriffes dadurch schwächen, dass ich Ihnen nahe legte, so zu tun, als glaubten sich nicht an die Existenz der Kunst. Denn wer nicht glaubt, dass es Kunst gibt, glaubt ja wohl auch nicht, dass irgendein Kunstbegriff sinnvoll ist. In diesem Sinne ersuche ich Sie nun, an der methodischen Einklammerung des Glaubens an die Existenz der Kunst weiterhin festzuhalten, wenn ich mich jetzt daran mache, die Stabilität jedwedes Kunstverständnisses dadurch zu unterminieren, dass ich die Kunstbegrifflichkeit kultur- und sozialgeschichtlich zu verorten versuche.
Dabei kommt es mir selbstverständlich sehr entgegen, dass der Keim des Zweifels in Ihnen im Grunde bereits gelegt ist, nämlich insofern Sie ja gebildete Menschen sind und wissen, dass der Begriff der Kunst historisch und kulturell sehr präzise situiert werden kann. Ich erzähle Ihnen, so darf ich wohl unterstellen, nichts Neues, wenn ich sage, dass der Begriff der Kunst im 15. Jahrhundert in Europa aufkam, dass er also ein Kind der Renaissance ist.
Diese genealogische Angabe, die noch zu entfalten sein wird, beeinträchtigt erheblich die Annahme einer Universalität der Kunst in zweierlei Hinsicht. Zum einen stellt sie klar, dass die Anwendung des Begriffs der Kunst auf Zeiten vor der Renaissance und auf Gebiete außerhalb Europas entweder ein Anachronismus oder ein terminologischer Imperialismus ist. Folgt man dem möglichen Selbstverständnis der jeweiligen kulturellen Akteure und nicht dem eigenen ideologischen Raster, kann beispielsweise von einer assyrischen Kunst genauso wenig die Rede sein wie von einer spätgotischen. Selbstverständlich gab es assyrische und spätgotische Malerei, Bildhauerei, Architektur, Töpferkunst, Möbeltischlerei usw. — von Literatur, Musik oder Tanz gar nicht zu reden —, aber es gab bei weder bei den Assyrerinnen und Assyrern noch bei den Menschen im europäischen Spätmittelalter dieses etwas, das heute leichthin „die Kunst“ genannt wird. Dass es vielmehr „die Kunst“ frühestens erst seit der so genannten Renaissance gibt, verweist auf die zweite erhebliche Beeinträchtigung der Annahme einer Universalität der Kunst. Denn was es schlechterdings nicht immer und nicht überall gegeben hat, dass könnte es doch vielleicht unter veränderten Bedingungen irgendwann auch einfach nicht mehr geben. — Bevor ich jedoch auf die Veränderungen der Bedingungen für die Kunst durch den Verlauf der Moderne eingehe, möchte ich noch einmal auf den Anfang des Begriffs der Kunst zu sprechen kommen, um dessen Historisierung zu verstärken und damit wie gesagt seine Allgemeingültigkeit zu schwächen.
Der Begriff der Kunst wurde, wie man in jeder guten Kunstgeschichte nachlesen kann, im 15. Jahrhundert in Italien von solchen Handwerkern eingeführt, die sich von anderen Handwerken dadurch abgrenzen wollten, dass sie ihre jeweilige Profession nicht mehr den so genannten mechanischen, sondern den so genannten freien Künsten zurechneten. Als diese bezeichnete man einerseits das Trivium Grammatik, Rhetorik und Dialektik (also nach modernem Sprachgebrauch Logik) und andererseits das Quadrivium Algebra, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie. Diese sieben artes liberales waren nach heutigem Wortgebrauch also keine Künste, sondern wissenschaftliche Disziplinen und wurden an den Universitäten gelehrt. Selbstverständlich standen sie als intellektuelle Betätigungen im Ansehen bedeutend höher als die mit körperlicher Anstrengung verbundenen Handwerksberufe oder artes mechanicae. Und genau darum, um gesellschaftliche Anerkennung und Aufwertung ihres Berufes ging es den Malern und Bildhauern, als sie nicht mehr wie die schlichten Mauerer und Tischler, Bäcker und Fassbinder, Schuster und Schneider behandelt werden wollten, sondern wie die hochgelahrten magistri, doctores und professsores.
Stefan Heidenreich schreibt dazu in seinem lesenswerten Buch „Was verspricht die Kunst“: „Erst gegen Ende der Renaissance setzte sich die Bezeichnung ‘Kunst’ für die alten Handwerke der Malerei und Bildhauerei durch. Der Begriff wird aus anderen Zusammenhängen übernommen (…) Der Streit um den Begriff der Kunst setzt mit dem Anspruch der Maler und Bildhauer ein, den Vertretern der freien Künste gleichgestellt zu werden. Mit dem Begriff Kunst ahmen sie somit Wissenschaften nach, die an staatlichen Instituten unterrichtet werden und deren Vertreter anschließend zum größten Teil in den Staatsdienst treten. Mit der Gründung der Akademien festigt sich die Position der neuen Künstler, da sie nun wie Wissenschaftler unter staatlicher Aufsicht aus gebildet werden.“ (Heidenreich, S. 7)
Dies ist der entscheidende Schritt: Ein Handwerker erhält seine Ausbildung, auf die er seine Berufstätigkeit und damit seine gesellschaftliche Stellung gründen wird, durch einen anderen Handwerker in einer Werkstatt, die trotz öffentlicher Regulierung etwa durch Zunftordnungen privatwirtschaftlich organisiert ist. Die Universitäten hingegen sind von der öffentlichen Hand unterhaltene Bildungseinrichtungen, und nach deren Vorbild werden darum auch die neuartigen Ausbildungsstätten für Maler und Bildhauer eingeführt, die mit einem aus der Philosophiegeschichte entlehnten Namen Akademien genannt werden.
Stefan Heidenreich schreibt dazu: „Ein Maler erhielt seinen Namen von der Beherrschung eines Handwerkes (…) Ein Künstler dagegen bestimmt sich über die Institutionen und Regeln, die unter dem Begriff Kunst von den Wissenschaften übernommen wurden. Vom Künstler wird seither erwartet, sich den Erfordernissen eines institutionellen Zusammenhanges namens Kunst anzupassen.“ (Heidenreich, S. 7 f.)
Selbstverständlich veränderten die, die sich damals Künstler zu nennen begannen, in Wirklichkeit nicht ihre Tätigkeiten, denn sie malten und bildhauerten genau wie zu vor, in den noch genau wie zuvor eingerichteten Werkstätten und in den genau wie zuvor klar in Meister, Gesellen und Lehrlinge gegliederten Betriebshierarchie; aber obwohl oder gerade weil sie noch für lange Zeit den Handwerkern zum Verwechseln ähnlich sahen, entwickelten die frischgebackenen Künstler ein abgrenzungsfreudiges Selbstbewusstsein. Mit Ausdauer und Nachdruck artikulierten sie ihr Selbstverständnis neu, versuchen die Theorie ihrer Profession als Wissenschaft zu etablieren — was etwa die damals reich blühende Literatur der Traktate über Malerei zeigt — und vor allem dienten sie sich ihren Kunden mit ihrem neuen ehrgeizigen Selbstverständnis an und warben um Anerkennung als Nicht-mehr-Handwerker und Beinahe-schon-Wissenschaftler.
Die Kunst war also erfunden, die soziale Distinktion geschafft. Zwar gelang es nie wirklich, die Kunst den Wissenschaften außer in der äußeren Organisation des Lehrbetriebes gleichzustellen — wofür man sich freilich gelegentlich mit der Propagierung der Idee zu revanchieren wusste, dass Kunst in Wahrheit höher stehe Wissenschaft. Die scharfe Scheidung der Kunst vom Handwerk hingegen war ein voller Erfolg. Man hielt sich für etwas Besseres und brachte es geschickt zu Wege, dass man auch von anderen dafür gehalten wurde.
Selbstverständlich garantierte dieses neue Selbstverständnis keineswegs materiellen Erfolg. Aber eine neue soziale Figur war geboren, der Künstler, und die Geschichte dieser neuen Figur wurde im Laufe der folgenden Jahrhunderte, kulminierend im 19. und 20., eine Erfolgsgeschichte.
In seiner umfangreichen Studie „Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts“ umreißt Wolfgang Ruppert diese Geschichte so: „Gegenläufig zur Tendenz der Spezialisierung in der rationalen Arbeitsteilung verstärkt sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Sonderrolle und gesellschaftliche Isolation des modernen Künstlers. Ihm war es übertragen, seine exponierte Subjektivität, seine individuellen Empfindungen, Eindrücke und Stimmungen in ästhetische Sprachformen und visuelle Bildlichkeit zu übersetzen, die keine Eindeutigkeit der rationalen Folgerung zuließ. (…) Im 20. Jahrhundert radikalisierte sich dieser Habitus des modernen Künstlers zum Erfinder des noch nicht Dagewesenen, des Ausbruchs zum avantgardistisch Neuen. Seine ästhetische Sprachlichkeit verschob sich zu den Mitteln des Experiments. Der kulturellen Modernisierung entsprach die permanente Innovation und Individualisierung der Form. Der moderne Künstler nahm die in der zeitgenössischen Kultur verborgenen Ambivalenzen auf und versuchte das Uneindeutige und Nichtaussprechliche zu artikulieren. Er meldete Widerspruch gegenüber den Normen, Werten, Ritualen sowie der konventionellen ‘Normalität’ der bürgerlichen Gesellschaft an, stellte diese in Frage und brach Tabus. Charakteristisch für dieses radikalisierte Muster ist ein changierendes Verhältnis in seinem Auftreten zwischen exhibitionistischer Selbstdarstellung und egomanischer Eigenpropaganda.“ (Ruppert, S. 234 f.)


3. Duchamp und die Folgen

Wenn als Kunst gilt, was sich an Orten wie Museen, Galerien oder anderen entsprechend gekennzeichneten Plätzen abspielt, stellt sich die Frage, ob nicht die Orte und Institutionen einen Zusammenhang erst herstellen und immer wieder erzeugen, für den die Werke selbst nicht einstehen können. (Stefan Heidenreich)

Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, ich brauche Ihnen nicht umständlich zu erklären, wofür der Name Marcel Duchamp in der Kunstgeschichte steht. Sie wissen gewiss nur zu gut, dass, nachdem so unscheinbare Gegenstände wie Flaschentrockner und Urinoir ihren Auftritt hatten, in der Theorie der Kunst nichts mehr so bleiben konnte, wie es war. Die Begriffe des Werkes und der Autorschaft sind zwar seither beileibe nicht verschwunden, aber es hat sich doch nach und nach die Auffassung durchgesetzt, dass man auch ohne sie auskommen kann, ja dass man ohne sie auskommen können muss, wenn man Duchamps Interventionen ernst nimmt und sie in das Verständnis dessen, was Kunst ist und was ein Künstler ist, integrieren will.
Im Zeitalter nach Duchamp, nach Warhol und nach Beuys — um nur diese drei mythenumwobenen Namen zu nennen — im Zeitalter der rückhaltlos erweiterten Begriffe also, muss man nichts mehr herstellen, um ein Künstler zu sein, und damit etwas Kunst ist, muss es kein eigenhändig hergestellter Gegenstand mehr sein, man darf sich mit Vorgefertigtem, mit irgendeiner Aktion oder mit einem bloßen Konzept begnügen.
Eine unüberbietbare Totalität ist somit erreicht. Es gibt im Prinzip nichts mehr, was nicht Kunst sein könnte, und niemanden mehr, der nicht auch ein Künstler oder sogar eine Künstlerin sein könnte. Doch die damit theoretisch ermöglichte Beliebigkeit findet in der Praxis gar nicht statt. Denn keineswegs ist es ja so, dass wirklich alle Menschen als Künstler und Künstlerinnen bezeichnet und anerkannt werden, dass wirklich alles als Kunst gälte. In Wahrheit wird sehr wohl zwischen Kunst und Nichtkunst unterschieden und zwischen Künstlern und solchen, die keine sind.
Was also macht die Kunst zur Kunst? Wohlgemerkt, das ist nicht dieselbe Frage wie: Was ist Kunst? „Was also macht die Kunst zur Kunst“ fragt nicht nach dem ontologischen Status, sondern danach, was passieren muss, damit etwas als Kunst bezeichnet und anerkannt wird.
Eine gängige Antwort auf die Frage, was Kunst zur Kunst macht, lautet: Etwas wird zur Kunst, indem es als Kunst ausgewählt wird.
Mir scheint diese Antwort unzureichend. Machen Sie die Probe aufs Exempel. Gehen Sie in einen Supermarkt, stellen Sie sich vor einen Stapel Suppendosen oder Waschmittelkartons und erklären Sie dieses Objekt zur Kunst. Meinetwegen können Sie es sogar signieren. Aber dann kommt vermutlich eine Angestellte oder ein Angestellter des Supermarktes auf Sie zu und verlangt, dass Sie die Dose oder den Karton, den Sie beschriftet haben, gefälligst kaufen. Ihre Erwiderung, hier handle es sich um Kunst, wird mit ziemlicher Sicherheit unter erneutem Verweis auf die Eigentumsproblematik als irrelevant zurückgewiesen werden. So ist das im Kapitalismus. Tun Sie der oder dem Angestellten also den Gefallen, kaufen Sie eine Dose oder einen Karton oder am besten gleich den ganzen Stapel. Nun können Sie die Suppendosen oder Waschmittelkartons mit nach Hause neben und dort unbehelligt aufstellen und als Kunst bezeichnen. Es wird aber vermutlich immer noch niemanden interessieren. Weltweit werden Milliarden und Abermilliarden Suppendosen und Waschmittelkartons aufgestapelt, aber die allerwenigsten Stapel gelten als Kunst. Das liegt nun aber nicht bloß daran, dass sie niemand als Kunst ausgewählt hat, sondern daran, dass das Wählen allein nicht genügt. Stellen Sie nämlich ruhig die meinetwegen konzeptkünstlerische Behauptung auf, alle Stapel von Suppendosen oder Waschmitteln, die je irgendwo aufgestellt worden sind und aufgestellt sein werden, seien Kunst — dann sind sie eben Kunst, aber das ändert nichts daran, dass sie nicht als Kunst anerkannt werden, sondern dass ich nach wie vor in den Supermarkt gehen, eine Dose oder einen Karton vom Stapel nehmen und an der Kasse bezahlen kann, ohne deshalb als Kunstvandale geächtet zu werden und ohne statt ein paar Hundert Cent ein paar Hundert oder Tausend Euro bezahlen zu müssen.
Nein, es ist eben nicht so, dass die bloße Willenserklärung eines Einzelnen oder einer Gruppe etwas zur Kunst machen kann, sondern nur die Verbindung von Willenserklärung und institutionellen Rahmenbedingungen kann das leisten. Im Supermarkt ist eine Dose eine Dose und ein Karton ein Karton. In der Galerie oder einem Museum kann es sich dabei um Kunst handeln. Aber nicht der Ort ist entscheidend, sondern was an dem Ort entschieden wird. Die Autorität der Institution legt fest, welche Konventionen zu beachten sind, welche Unterscheidungen gelten. Und diese Unterscheidungen gelten dann auch, weil alle Mitwirkenden sich an die Konventionen halten. Wir alle können, weil wir es gelernt haben, in einem Museum ohne zu zögern zwischen dem Feuerlöscher und dem Exponat unterscheiden, obwohl beide an der Wand hängen. Und auch wenn uns bei einer Vernissage das Büffet besser gefällt als das Ausgestellte, halten wir doch das eine für Kunst und das andere für bloße Dreingabe.
Ich sage es noch einmal: Der institutionelle Rahmen ist es, der etwas zur Kunst macht, in dem er das, was er Kunst sein lassen will, in die Konventionen einschreibt, gemäß denen etwas als Kunst akzeptiert wird. Aber nicht nur ich sage das, sondern beispielsweise auch Stefan Heidenreich, der in seinem schon erwähnten Buch „Was die Kunst verspricht“ schreibt:
„Am einzelnen Kunstwerk läßt sich die Frage, was Kunst ist, längst nicht mehr festmachen. Der Horizont ist offen, zu viele Versuche, bestimmte Werke auszuschließen, sind gescheitert. Um so deutlicher zeichnen sich die Konturen der Kunst an ihren Veranstaltungen und ihren Schauplätzen ab, denn die Orte der Kunst sind im Gegensatz zu ihren Werken in diesem Jahrhundert nahezu dieselben geblieben. Museen, Galerien, Ausstellungen und Akademien stellen die feste Bühne dar, auf der die künstlerischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts inszeniert wurden.“ (Heidenreich, S. 5)
„Das Museum vollendet die Kunst als ein institutionelles System, das den Kreislauf der Werke ganz in sich aufnimmt. Was Künstler in den Akademien herzustellen lernten, wurde dort nur temporär ausgestellt und verstreute sich dann. Im Gegensatz dazu gibt das Museum den Werken einen Dauerhaften Platz, sie werden systematisch gesammelt und gespeichert. Da sowohl Akademien als auch Museen unter staatlicher Obhut stehen, schließt sich der Kreislauf der Kunstwerke vom Atelier bis zum Speicher in den Institutionen.
Obwohl das Museum zuletzt hinzukommt, wird es zu der mächtigsten Behörde der Kunst. Nach seinem Modell wird bald Kunst gesammelt, gespeichert, ausgestellt und schließlich auch hergestellt. Die übrigen Institutionen und Rituale des Kunstbetriebs arbeiten, selbst wenn sie nicht unmittelbar mit dem Museum zusammenhängen, unter der stillschweigenden Voraussetzung, mit seinen Ordnungen und Regeln in Einklang zu stehen.“ (Heidenreich, S. 53 f.)
„Als Institution wird das Museum so mächtig, daß es bis ins Atelier hinein die Entscheidungen am Werk mitbestimmt; aber nicht, indem es vorgibt, wie Bilder auszusehen haben, sondern indem all die Bilder zeigt, von denen sich die neuen zu unterscheiden haben. Die Maler mußten lernen, ihre eigenen Bilder in den Begriffen des Museums zu verstehen.“ (Heidenreich, S. 59)
„Als Speichermedium macht das Museum den Kern dessen aus, was heute das System der Kunst ist. Die Ordnungen, Regeln und Aufnahmeverfahren des Speichers legen für die Zukunft fest, was die Kunst der jeweiligen Gegenwart gewesen sein wird. (…) Die Institution des Museums wählt aus, und über diese Macht der Auswahl lenkt sie die Produktion. So ist alles, was Kunst sein oder bleiben will, am Museum und seinen Regeln orientiert, ob es den Weg dorthin findet oder nicht.“ (Heidenreich, S. 61 f.)
„Am Ende des 20. Jahrhunderts scheint alles an der Kunst veränderlich geworden zu sein, nur ihre formale und institutionelle Umgebung nicht, so daß sich am Aussehen eines Werkes allein nicht mehr entscheiden läßt, ob es als Kunst gelten könnte oder nicht. Ausschließlich das institutionelle Gefüge bürgt für den Begriff der Kunst, mit dem stabilen Zusammenspiel von Institutionen, Figuren und Regeln setzt es den Rahmen für die Entwicklungen der Kunst im letzten Jahrhundert.“ (Heidenreich, S. 62)
„Für die Akteure auf dem Markt spielte das Museum eine nicht zu verachtende Rolle. Ein Maler, dessen Werk es einmal ins Museum geschafft hatte, stellte eine sichere Kapitalanlage dar. Als Institution staatliche Wertsicherung schützte es den Künstler vor dem Abrutschen in die Vergessenheit und dem damit verbundenen Preisverfall. So achteten die Händler und Sammler, so sehr sie auch der Gewinnspanne zuliebe Risiken eingingen, stets darauf, im Einklang mit einer künftigen Museumspolitik zu stehen, die ihren Ankäufen noch im nachhinein Wert sicherte. Museen sind seitdem nicht nur Speicher und Ausstellungsorte der Kunst, sondern auch eine Art Bürgschaft für die Erwerbungen der Sammler.“ (Heidenreich, S. 93)
Diese Dienstleistungen des Museums für den Markt bemerkt auch Walter Grasskamp, der schreibt: „Der Ruf einer marktunabhängigen Objektivität, den die Museen immer noch genießen, wird dabei zum Werbefaktor für die in Zeitlupe durchgeschleuste Ware. Sammler, die es sich leisten können (…) betreiben ihre Museen gleich selber (…) Das Kunstmuseum gehört heute zur Infrastruktur, in der sich der Marktwert eines Kunstwerkes konstituiert. Die Kunst ist Teil dieser Infrastruktur, nicht umgekehrt.“ (Grasskamp 19S. 15)
Dass das Museum als Schleuse des Marktes fungiert, bleibt nicht ohne Folgen für das Verhältnis der Öffentlichkeit zur Kunst. Dazu wieder Heidenreich: „In der Logik der Moderne verspricht ein abgelehntes Werk mehr als eines, dessen Qualität längst vergangenen Maßstäben nachstrebt. Billig eingekauft, verspricht neue Kunst die höchsten Gewinne für die Zukunft. So korrespondiert die Bewegung der Moderne ideal mit dem Aufschwung der kapitalistischen Wirtschaftsform gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Das Ziel, Geld zu vermehren, hatte auf der ganzen Linie das Verlangen nach der bloßen Ansammlung von Reichtümern und repräsentativen Werten abgelöst. (…) Die Logik des Kapitals schätzt den Wert einer Investition, sei es eine Sache, ein Mensch oder ein Kunstwerk, nicht mehr nach zeitlosen Maßstäben, sondern nach der Rendite, die sie verspricht. Die Bewegung der Moderne überführt die Logik des Kapitals in die Begriffe des Museums. Als wertvolle Dinge gelten nicht mehr die Bilder, die nach akademischen Maßstäben Qualität versprechen, sondern die modernen Gemälde, deren Wert sich erst in der Zukunft zeigen wird. (…) Gerade dem gewinnorientierten Einsatz von Geld verdankt die Kunst ihre wesentlichen Freiheiten. Sobald sich der Wert der Kunstwerke vermehren kann, bleibt es sich völlig gleich, um was es sich handelt.“ (Heidenreich, S. 88 f.)
Die Revolutionen in der Kunst — ich nennen nochmals die Chiffren Warhol, Duchamp und Beuys — laufen also insofern ins Leere, als sie unweigerlich immer im gegen seine Inhalte völlig indifferenten Rahmen des Kunstbetriebes verbleiben, sofern sie nämlich als Ware gehandelt werden. Dazu nochmals Grasskamp: „Während sich die Künstler des 20. Jahrhunderts weitgehend vergeblich darum bemühten, den Kunstbegriff zu verändern und zu transformieren, ist dem Markt genau das fast mühelos gelungen. Er diktiert die Bedingungen, unter denen Kunst wahrgenommen wird, in jeder Beziehung (…) (Grasskamp 1989, S. 59)


4. Erweiterung ohne Ende

Kultus des Genius aus Eitelkeit. — Woher nun der Glaube, daß es allein beim Künstler, Redner und Philosophen Genie gebe? daß nur sie „Intuition“ haben? (womit man ihnen eine Art von Wunder-Augenglas zuschreibt, mit dem sie direkt ins „Wesen“ sehen!) Die Menschen sprechen ersichtlich dort allein von Genius, wo ihnen die Wirkungen des großen Intellekts am angenehmsten sind und sie wiederum nicht Neid empfinden wollen. (Friedrich Nietzsche)

Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, obwohl ich schon so ausführlich aus Stefan Heidenreichs Buch „Was verspricht die Kunst?“ zitiert habe, setzte ich noch ein Heidenreich-Zitat drauf: „Der Künstler steht nach wie vor im öffentlichen Mittelpunkt der Kunst. Selbst wenn Werke und Bilder auf die Zuordnung zu einem Künstler verzichten könnten, müßte er weiterhin im Rampenlicht stehen, um seine institutionelle Rolle auszufüllen. Es gibt in der institutionalisierten Kunst gute Gründe, die Figur des Künstlers nicht nur zu erhalten, sondern die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. (…) Eine namenlose Produktion von Werken würde auf einen Speicher prallen, der nicht mehr wüßte, wie er sie verstehen soll. Der Name und die Person hinter den Werken sind Ordnungsfunktionen, die je nach Bedarf aufgerufen oder abgestellt werden können.“ (Heidenreich, S. 63)
Einer, der im musealen und kunsttheoretischen Raum durch Name und Person eine wichtige Ordnungsfunktion ausübt, und zwar sogar weit mehr durch Name und Person und die damit verbundenen Vorstellungen als durch Werke, war und ist Joseph Beuys. Wir alle kennen seinen Satz „Jeder ist Künstler“. In ihrem Beuys-Buch erläutert Hiltrud Oman das damit verbundene Konzept folgendermaßen: „Beuys spricht — entgegen den elitären Kunstvertretern — jeden einzelnen an und möchte erreichen, daß jeder sein Kreativitätspotential für sich und die ihn umgebende Gemeinschaft nutzbar mache. Als Künstler sollen alle am gesellschaftlichen Entwicklungsprozess aktiv mitwirken. Das würde neben Familie und Nachbarschaft beispielsweise Handwerker, Naturwissenschaftler, Pädagogen, Vertreter des Rechtswesens, Politiker u.v.m. betreffen. Auf Grund ihrer jeweiligen Fachkompetenz sollten sie, vereint mit dem künstlerischen Potential, zu verantwortungsvollen, kritischen, aber konstruktiven Auseinandersetzungen mit den derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen gelangen. Darin läge gleichzeitig der Ansatzpunkt für eine sinnvolle, menschengerechte Veränderung der gesellschaftlichen Systeme.“ (Oman, S. 105 f.)
Auch wenn ich zu den Details dieses Erweiterten Kunstbegriffes gewiss noch einige Fragen hätte, der Ansatz scheint mir völlig klar zu sein und die Folgerungen im Prinzip revolutionär. Doch eine renommierte Fachfrau wie Catherine David sieht das naturgemäß anders und meint: „Die beuyssche Hypothese postuliert (…) eigentlich nichts Neues. Doch aus dem Satz, dass jeder Mensch ein Künstler sei, entstanden unzählige Missverständnisse, weil er vielfach völlig unmittelbar und vereinfacht dahin gehend interpretiert wurde, dass Sie, ich, wir alle Künstler seien. So hat es Beuys natürlich nicht gemeint (…)“ (David, S. 196)
Natürlich hat Beuys das sehr wohl so gemeint. „Jeder ist Künstler.“ Was gibt es da misszuverstehen? Das ist keine Hypothese und nicht einmal ein Postulat. Es heißt ja nicht „Jeder könnte Künstler sein“ oder „Jeder sollte Künstler sein“, es handelt sich schlicht um eine anthropologische Feststellung: Jeder ist Künstler. Aber so will und kann Frau David das selbstverständlich nicht verstehen, schließlich ist sie von Beruf Kuratorin, lebt also davon, dass andere Künstler sind, aber nur bestimmte andere, nicht jeder andere, vereinfacht gesagt ist sie es, die von Berufs wegen auswählt, wer Künstler ist und wer nicht — und da wäre es selbstverständlich desaströs, wenn es gar nichts auszuwählen gäbe, weil ohnehin schon jeder Künstler ist.
Nun ist es zwar jedermann völlig unbenommen, in die Beuysschen Aussagen hin- oder aus ihnen herauszulesen, wonach einem gerade der Sinn steht oder was man für das berufliche Weiterkommen brauchen zu können meint. Nimmt man die Beuyssche These jedoch ernst und gesteht man jedem Menschen ein kreatives Potenzial zu, das er in Verbindung mit seinen jeweiligen Fachkompetenzen zu einer seine Lebenswelt gestaltenden Kraft mit letztlich gesellschaftsverändernder Perspektive machen kann und um seiner selbst, seiner Mitmenschen und der Welt willen sollte, dann hat das Konsequenzen.
Die eine Konsequenz ist die, dass sich der Kunstbegriff radikal verändert. Kunst im Beuysschen Sinne ist jede Nutzung des bei jedem vorausgesetzten Kreativitätspotenzials, während Nichtkunst schlicht die Nichtnutzung des Potenziales bezeichnete. Kunst ist dann kein von anderen Lebensräumen, Daseinspraktiken, Gegenstandsbereichen zu Unterscheidendes, sondern etwas überall Verwirklichtes. Der Begriff Kunst dient somit nur zur Benennung des Status „genutzt/ungenutzt“ des kreativen Potenzials und ist daher im Alltag vermutlich überflüssig, sofern die Beuyssche Utopie nämlich impliziert, dass jedes Kreativitätspotenzial zumindest tendenziell genutzt wird und keines völlig ungenutzt bleibt.
Die zweite Konsequenz ist die, dass der Begriff des Künstlers überflüssig wird. Wenn jeder Mensch ein Künstler ist, ist Künstler zu sein keine bestimmte Tätigkeit mehr und schon gar kein Beruf. „Ich bin Künstler“ heißt dann nur „Ich nutze mein kreatives Potenzial“, was im Beuysschen Universum als Selbstverständlichkeit zu betrachten und keiner Erwähnung mehr wert wäre.
Es ist an dieser Stelle wichtig zu begreifen, dass es sich beim Erweiterten Kunstbegriff des Joseph Beuys um keine private Spinnerei handelt, sondern dass die dadurch vollzogene Aufhebung der Begriffe Künstler und Kunst völlig der Logik jenes Umdenkens entspricht, dem auch Marcel Duchamp und Andy Warhol zuzurechnen wären. Nun ist freilich meiner Meinung nach der Verlauf Kunstgeschichte mindestens so zufällig wie die Geschichte überhaupt, und ich halte dafür, dass in ihr keine andere Notwendigkeit zu erkennen ist als die des jeweils Faktischen. Es musste also zwar keineswegs zu dieser Entwicklung kommen, aber es ist nun einmal zu ihr gekommen, und so zu tun, als ließe sich nach Duchamps, Warhol und Beuys noch weiter von Kunst und Künstlern reden, als wäre nicht geschehen, ist nicht nur realitätsflüchtig und anachronistisch, sondern ignoriert auch den Zusammenhang zwischen diesen begrifflichen Umbrüchen und gesellschaftlicher Situation, in der sie stattfinden. Ich werde später noch ausführlicher darauf zurückkommen, aber schon jetzt sei immerhin so viel gesagt, dass es doch offensichtlich ist, dass die Auflösung, weil Verallgemeinerung dessen, was Kunst und Künstler sein können, einerseits und andererseits die trotz des Wegfalls der theoretischen Grundlagen in der Praxis aufrecht erhaltene Unterscheidung von Kunst und Nichtkunst, Künstlern und Nichtkünstlern nur zu genau den Erfordernissen einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entspricht, die einerseits allen unter allen Umständen Kreativität abfordert und andererseits die sozialen Unterschiede, ja Gegensätze konserviert und immer wieder restauriert, durch die der Zugang zu den äußeren und inneren Ressourcen schöpferischer Selbstgestaltung geregelt wird.


5. Beispiel eines Missverständnisses

Eines Tages müssen die meisten Kunststudenten erkennen, daß sie nicht zum Künstler taugen. (Joseph Beuys)

Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, als ich vorhin die Deutung oder vielmehr Umdeutung zurückwies, die Catherine Davide dem Beuysschen Satz „Jeder ist Künstler“ widerfahren ließ, wollte ich damit nicht sagen, dass sie nicht immerhin insofern Recht hatte, als sie behauptete, dass sich dem Beuysschen Satz und Ansatz „unzählige Missverständnisse“ an die Fersen geheftet hätten. Selbstverständlich kann der Erweiterte Kunstbegriff auch als Freibrief genommen werden, um irgendwas zu machen und das dann Kunst zu nennen.
Ein Paradebeispiel solchen Missverständnisses oder gar Missbrauchs scheint mir das Selbstverständnis der Gruppe WochenKlausur zu sein. Diese beschreibt sich selbst auf ihren Internetseiten so: „Die Künstlergruppe WochenKlausur führt seit 1993 soziale Interventionen durch. Auf Einladung von Kunstinstitutionen entwickelt die Gruppe kleine, aber sehr konkrete Vorschläge zur Veränderung gesellschaftspolitischer Defizite und setzt diese um. (…) In Anlehnung an KünstlerInnen des 20. Jahrhunderts, die es verstanden, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten, sieht die WochenKlausur Kunst (…) als eine Möglichkeit, Verbesserungen im Zusammenleben herbeizuführen. Gestaltung und Kreativität, in der traditionellen Kunst meist für formale Belange eingesetzt, können auch für anstehende Probleme in Bildung, Ökologie, Wirtschaft, Städteplanung oder für soziale Aufgaben eingesetzt werden. Überall gibt es Probleme, die sich auf konventionellem Weg nicht lösen lassen und als Thema für ein Kunstprojekt herangezogen werden können.“ (www.wochenklausur.at)
Die Projekte der Gruppe Wochenklausur tragen Titel wie „Intervention zur medizinischen Versorgung der Obdachlosen, zur Drogenproblematik, zum sozialen Status älterer Menschen, zur Ausländerbeschäftigungspolitik, zur Verbesserung der Schubhaftbedingungen, zur Situation der Erwerbslosen, zum Aufbau von Sprachschulen in Mazedonien, zur Mitbestimmung bei der Gestaltung des öffentlichen Raums, zur Animation geistig Behinderter, zur beruflichen Qualifikation ehemaliger Drogenabhängiger, zur Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung von Subkulturen, zur Verwertung von Ausschußmaterial“. Doch die Gruppe WochenKlausur, als deren Großkopf der ehemalige Bundeskurator und jetzige Grüne Kultursprecher Wolfgang Zinggl bezeichnet werden kann, versucht sich auf den hier von mir zitierten Internetseiten auch in Kunsttheorie.
„Eine der Funktionen von Kunst war immer die Veränderung der Lebensverhältnisse. Das Hinterfragen irrationaler Tabus und tradierter Wertmaßstäbe und die Korrektur sozialer Bedingungen haben mit der Moderne und ihrer Verabschiedung von religiös begründeten Autoritäten auch in der Kunst an Boden gewonnen.“
Zwar betont man, dass es falsch wäre, „in einer Abwicklungsgesellschaft, der jede Grundsatzdiskussion abhanden gekommen ist, gerade von der Kunst zu erwarten, dass Entscheidendes verändert werden kann“, bekennt sich dann aber doch zu „sehr konkreten Veränderungsstrategien“: „Die gesellschaftliche Erneuerung ist eine Aufgabe der Gegenwartskunst (…) Die Chance dieser Kunst besteht (…) darin, dass sie der Gemeinschaft etwas bieten kann, das auch Wirkung erzielt. (…) Die Gruppe WochenKlausur geht von dieser Funktion der Kunst und ihren historischen Wegbereitern aus. Sie stellt sich präzise Aufgaben und versucht in zeitlich begrenzten Intensiveinsätzen Lösungen für erkannte Probleme zu erarbeiten.“
Die diversen Projekte sind eine Seite der Aktivität der Gruppe WochenKlausur, doch auf der anderen Seite arbeitet man sich weiterhin hartnäckig am Kunstbegriff ab. Auf die selbst gestellte Frage „Warum muss eine gesellschaftspolitische Interventionen Kunst sein? Kann sie nicht einfach das bleiben, was sie ist?“ folgt eine Reihe selbst gegebener Antworten.
Erstens werte der Begriff Kunst den Begriff des Sozialen auf. Zweitens erleichtere der Mythos der Kunst die Verwirklichung von Vorhaben, drittens erhöhe die Verwendung des Kunstbegriffs die mediale Aufmerksamkeit für soziale Projekte, viertens verschaffe man so auch unorthodoxen Vorgangsweisen Anerkennung. Für die Gruppe Wochenklausur scheint sodann ihr Ansatz in einer Psychologie der Künstler zu kulminieren.
„Zunächst unterscheiden sich Künstler von anderen gar nicht. Dann aber doch zumindest in ihrer Entscheidung, Künstler zu sein. (…) Dass Künstler durch Sensibilität früher als andere merken, wohin Trends ziehen, dass sie die Fähigkeit besitzen, Interesse auf Probleme zu lenken, wo andere keine sehen, dass sie in bestimmten Bereichen feiner differenzieren, Themen erfinden, die Aufmerksamkeit erregen und ähnliches. Das alles kann nicht wirklich nachgewiesen werden. Doch zieht die Worthülse Kunst immerzu wie ein Magnet unkonventionell denkende Geister an und unangepasste Kräfte, die sich nicht leicht einordnen wollen in einen geregelten Arbeitsablauf, in eine programmierte Berufskarriere mit Pensionsdenken und Sicherheitsnetzen.“
Zwar gesteht man sich bei der Gruppe Wochenklausur ausdrücklich ein, dass es in Wirklichkeit keinen Grund gibt, „warum Künstler bessere Ideen und Lösungsstrategien haben sollten. Umgekehrt gibt es allerdings auch nicht viele Gründe, warum solche Eingriffe von Künstlern — wie von allen anderen Menschen auch — nicht durchgeführt werden sollten, wenn sie doch effizient sind. Die Übernahme von Verantwortung über tradierte Zuweisungen und Arbeitsteilungen hinweg kann zur Pflichtübung werden, wenn ganz offensichtliche Mängel anstehen, deren Beseitigung keines jahrzehntelangen Studiums und keiner einschlägigen Praxis bedürfen. Wenn diese Übungen in den Kunstinstitutionen von Kunstschaffenden durchgeführt werden und wenn sie von einer Gemeinschaft als Kunst anerkannt werden, sind sie Kunst.“
Einmal abgesehen davon, dass diese These — „Wenn etwas als Kunst anerkannt wird, ist es Kunst“ — nicht erklärt, warum etwas als Kunst anerkannt wird, so erklärt sie schon gar nicht, warum etwas als Kunst anerkannt werden soll, warum man diese Anerkennung sucht und einfordert. Wenn es um nicht mehr ginge als darum, Öffentlichkeit und Behörden auszutricksen und Sozialprojekte als Kunstprojekte zu deklarieren, weil dieses Etikett sonst verschlossene Türen öffnet und sonst verweigerte Aufmerksamkeit verschafft, dann mag das eine diskutable Strategie sein, die sich freilich unbedingt danach beurteilen lassen muss, wie gelungen, wie sinnvoll, wie wirksam diese Projekte sind und ob herkömmliche Sozialarbeit nicht ehrlicher, nachhaltiger und verantwortungsvoller wäre. Diese Beurteilung kann dann aber nicht der der Gruppe WochenKlausur überlassen bleiben, sie wäre von den Betroffenen selbst, von im Sozialbereich aktiven und von einer kritischen Öffentlichkeit zu diskutieren. Genau das wird aber faktisch durch die Einbindung in den Kunstbetrieb weitgehend verhindert.
Es hilft nichts, die Gruppe WochenKlausur zäumt das Einhorn von hinten auf. Sie erklärt den Begriff der Kunst und den des Künstlers für offen und mit jedem beliebigen Inhalt füllbar, kann aber nicht erklären, warum diese Begriffe überhaupt mit irgendetwas gefüllt werden und nicht vielmehr einfach leer bleiben sollen. Denn selbstverständlich dürfen Künstler auch Sozialarbeit machen, und selbstverständlich dürfen sie diese Sozialarbeit auch Kunst nennen. Aber das setzt voraus, dass man zuerst Künstler ist und dann entscheidet, inwiefern man es ist. Zwar ist bei der Gruppe WochenKlausur so ehrlich, dass man den unehrlichen Trick mit der Falschetikettierung — Kunst statt Sozialarbeit — eingesteht, doch belügt man sich selbst, weil man in Wahrheit eben doch daran glaubt, dass das, was man macht, Kunst ist, und das man selbst ein Künstler oder eine Künstlerin ist.
Der Glaube an die Existenz der Kunst, der bekanntlich keinen verbindlichen Inhalt des Begriffes der Kunst erfordert, und mehr noch der Glaube an die Existenz des Künstlers gerinnt so zu einer pragmatischen Ideologie, die weder ihre theoretischen Vorurteile noch ihre praktische Überheblichkeit reflektieren kann. Es geht nämlich vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht, wie die Gruppe WochenKlausur glauben machen möchte, darum, was Kunst sein darf und was ein Künstler sein darf, es geht darum, warum überhaupt etwas Kunst sein soll und warum sich überhaupt jemand als Künstler anerkennen lassen will. Dass man den offiziellen Repräsentanten des Sozialen materielle und immaterielle Ressourcen entlockt, also Geld und Aufmerksamkeit, indem man die eigene Aktivität und den eigenen Status aufwertet, ist ja nur eine Seite, zugleich wertet man alle ab, die nicht so verfahren. Wer Sozialarbeit macht, ohne sich als Künstler zu verkaufen, ist schön blöd. Und überhaupt ist jeder, der irgendetwas macht, aber das nicht als Kunst unter die Leute bringt, schön blöd.
Im Grunde verkehrt die Gruppe Wochenklausur den erweiterten Kunstbegriff in sein Gegenteil. War es Beuys mit „Jeder ist Künstler“ nämlich darum gegangen, jeden Einzelnen zu ermächtigen, sein kreatives Potenzial zu nutzen, sein Leben selbst zu gestalten und die Gesellschaft zu verändern, bleibt bei der WochenKlausur von diesem revolutionären Ansatz nur noch der reaktionäre Wille zum „Wir sind Künstler“ übrig. Statt Kunst als etwas zu begreifen, was jeder kann und was immer schon stattfindet, macht man daraus ein besonders Projekt, mit dem bestimmte Leute sich im Hinblick auf die Dummheit der anderen selbst vermarkten. Zwar ist gesellschaftliche Veränderung nach wie vor das angebliche Ziel, aber statt den Begriff des Künstlers und der Kunst bis zur Überflüssigkeit zu verallgemeinern, klammert man sich hartnäckig daran, in erster Linie Künstler oder Künstlerin zu sein und dann irgendwie noch irgendwas als Kunst zu machen.
Warum aber überhaupt irgendetwas „Kunst“ nennen? Warum nicht Tischtennis oder Hühnerbein oder Fitzliputzli oder Znarx? Wer etwas Kunst nennt, stellt das Genannte und sich als Nennenden in Deutungszusammenhänge, die theoretisch beliebig, praktisch aber sehr wohl wirkungsvoll festgelegt sind. Niemand kann die Bedeutungen, die er einem Wort geben möchte, vollständig steuern. Wer „Kunst“ sagt, sagt immer mehr und weniger und anders, als er sagen will. Eine gewünschte Bedeutung zu vermitteln, kann man bloß versuchen — wenn man’s denn kann.
Nun darf aber Kunst bekanntlich nicht vom Können kommen, denn dann wäre sie Handwerk und also pfui. Kunst darf auch nicht vom Wollen oder Müssen kommen, denn dann wäre sie psychologisch erklärbar, und man will ja geheimnisvoll bleiben. Und Kunst darf auch nicht vom Sollen kommen, denn dann wäre sie Ideologie und als solche kritisierbar. Letztlich bleibt also wohl nur übrig, dass Kunst vom Sein kommt — und zwar vom Künstlersein.
„Kunst ist, was Künstler machen“, diese Parole unbestimmter Herkunft, die manchmal von Augustinus hergeleitet wird und sich, leicht variiert, bei Werner Haftmann ebenso findet wie bei Harald Szeemann, kann verstanden werden als die theoretische Bankrotterklärung einer zynischen Praxis. Nicht mehr definiert die Tätigkeit den, der sie tut, sondern was der Täter tut, definiert dieser durch das, was er ist. Der Künstler ist nach dem überschrittenen Höhepunkt der Moderne mehr noch als ein Beruf, er ist ein Seinsweise. Und zwar eine nicht weiter zu begründende. Wenn weder das, was man gelernt hat, noch das, was man kann, und auch nicht das, was man tut, einem zum Künstler macht, dann ist man eben Künstler oder man ist es nicht. Als Kriterium des Künstlerseins bleibt somit nichts übrig, als der auf dieses erhobene Anspruch. Künstler sein und Künstler sein wollen ist damit nahezu dasselbe. Die Aura des Kunstwerkes mag also in unseren Tagen verschwunden sein oder nicht, die des Künstlers ist leider nachweislich erhalten geblieben.


6. Zwischenstopp eines Hasen

Die exklusive Konzentration des künstlerischen Talents in Einzelnen und seine damit zusammenhängende Unterdrückung in der großen Masse ist Folge der Teilung der Arbeit. (…) Bei einer kommunistischen Organisation der Gesellschaft fällt jedenfalls fort die Subsumtion des Künstlers unter die lokale und nationale Borniertheit, die rein aus der Teilung der Arbeit hervorgeht, und die Subsumtion des Individuums unter diese bestimmte Kunst, so daß es ausschließlich Maler, Bildhauer usw. ist und schon der Name die Borniertheit seiner geschäftlichen Entwicklung und seine Abhängigkeit von der Teilung der Arbeit hinlänglich ausdrückt. In einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter Anderm auch malen. (Karl Marx / Friedrich Engels)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Christian Demand schreibt in seinem Buch „Die Beschämung der Philister. Wie die Kunst sich der Kritik entledigte“ diese weisen Sätze: „Die Kunst ist ein Igel. Wer es als Hase mit ihr aufnehmen will, wird den kürzeren ziehen. Immer ist der Künstler heute schon dort, wo der Philosoph erst morgen sein wird.“ (Demand, S. 41) Was für den flinken Philosophen gilt, gilt für den bedächtigen Journalisten vermutlich ebenfalls, und so möchte ich mich, mit Demands Warnung im Ohr, rasch vergewissern, wo ich bin, wohin mich meine Gedankengänge bisher geführt haben und wohin sie mich vielleicht noch führen werden, und schiebe daher an dieser Stelle eine kurze Zwischenbilanz des bisher Gesagten ein, bevor ich den Wettlauf wieder aufnehme.
Sie erinnern sich: Ich habe Sie zunächst dazu aufgefordert, den von mir bei Ihnen vorausgesetzten Glauben an die Existenz der Kunst methodisch einzuklammern, um sich so von der langweiligen Frage „Was ist Kunst?“ lösen zu können und sich stattdessen frei zu machen für die spannendenden Fragen, wie es eigentlich dazu kommt, dass etwas als Kunst bezeichnet und anerkannt wird, welche Gründe und Absichten sich damit verbinden und zu welchen Folgen es führt.
In diesem Sinne habe ich mich auf die geschichtliche Herkunft der Begriffe der Kunst und des Künstlers bezogen und damit zu verdeutlichen versucht, dass schon an der Entstehung dieser Terminologie das Interesse an sozialer Distinktion entscheidend beteiligt war.
Des weiteren habe ich auf die wichtigen Veränderungen verwiesen, denen das Verständnis der Kunst im 20. Jahrhundert unterworfen war, und daran erinnert, dass seit Duchamp nichts mehr aus dem Kunstbegriff ausgeschlossen bleiben muss. Dass dennoch im Kunstbetrieb nicht die fröhlich Anarchie ausgebrochen ist, sondern weiterhin alles seinen durch effiziente Autoritäten geregelten Gang geht, habe ich durch den Verweis auf die Instanz des Museums zu belegen versucht, das mit seiner dreifachen Funktion der auswählenden Anerkennung, ordnenden Verwahrung und wertsteigernden Vermittlung von Kunst eng dem Markt der Sammler verbunden ist und die künstlerische Produktion ebenso reguliert wie die kunsttheoretischen Diskurse.
Ich habe sodann den Beuysschen Satz „Jeder ist Künstler“ herangezogen, um aufzuzeigen, dass die Begriffe des Künstlers und der Kunst aus Gründen, die der Kunstgeschichte selbst angehören, nicht mehr haltbar sind, dass vielmehr — akzeptiert man, dass man hinter das von Duchamp, Beuys, Warhol Erreichte nicht zurückgehen kann — jede affirmative Rede von Künstler und Kunst antiquiert und tendenziell reaktionär ist. Meine Kritik an theoretischen Positionen der Gruppe Wochenklausur war dazu eine Exemplifizierung.
Ich meine also im bisherigen Verlauf meines Vortrages einiges dazu beigetragen zu haben, meine These, dass „Kunst“ und „Künstler“ überholte Begriffe seien, zu stützen. Dass nach wie vor etwas als Kunst anerkannt wird und sich nach wie vor viele als Künstlerinnen und Künstler bezeichnen, ist dagegen kein Einwand. Die Annahme, diese Begriffe hätten Inhalte, ist nicht nötig, um zu begreifen, was passiert, wenn etwas als Kunst bezeichnet oder jemand als Künstler anerkannt wird. Dafür genügt es, das Funktionieren des Kunstbetriebes zu beschreiben, in dem sich zumindest implizit alles um die mögliche Verwertung dreht. Ich zitiere nochmals Stefan Heidenreich: „Museen, Akademien und der Markt stecken als gefestigte historische Institutionen das Feld der Kunst ab. Die beteiligten Personen nehmen innerhalb des Feldes bestimmte Stellen ein, sind Sammler, Galeristen, Betrachter, Kritiker, Kunsttheoretiker oder Künstler. Jede dieser Stellen fordert von der Person, die sie besetzt, bestimmte Handlungen und Aussagen, die über Erfolg oder Mißerfolg entscheiden. Je weniger Einfluß eine Stelle innerhalb des institutionellen Gefüges erhält, desto unerheblicher und damit auch ungebundener werden die Entscheidungen. So gesehen nimmt der Künstler in seiner Freiheit eine Position ein, die für den Bestand des Systems verhältnismäßig unwichtig ist. Aber selbst die vermeintliche Freiheit der Kunst stellt nichts anderes dar als das Endprodukt einer Verkettung institutioneller Regeln.“ (Heidenreich, S. 145 f.)
Indem sich die Kunst einst erst begrifflich, dann technisch vom Handwerk entkoppelte, setzte sie eine Entwicklung in Gang, die unverkennbar eine zunehmende Emanzipation des Künstlers und seiner Betätigung von der Lebenswirklichkeit anderer Menschen und von deren nicht zuletzt auch an alltagspraktische Vollzüge gebundenes Selbstverständnis bedeutete. Zwar üben bis zum heutigen Tag Kunstproduktion und Kunstrezeption insgeheim immer noch die Funktionen der Repräsentation, Illustration, Dekoration, Erbauung und Unterhaltung aus, aber offiziell will man damit nichts zu tun haben. Weder nützlich noch angenehm will man sein. Und auf keinen Fall reduzierbar auf die Ansprüche, die von außerhalb der Kunst auf die Kunst erhoben werden könnten.
Die Freiheit der Kunst erscheint damit nicht zuletzt als Freiheit von allgemein verbindlichen Kriterien. Woher sollten die auch kommen? Kein Kunstbegriff kann heute mehr ausschließliche Geltung beanspruchen. Und mit diesem Pluralismus leben wir alles ganz gut, denn als kritische Konsumentinnen und Konsumenten sind wir es gewohnt, in der Theorie Unvereinbares praktisch zu vereinbaren. Doch wo es es keine Kriterien gibt, gibt es auch nichts mehr zu kritisieren. So gesehen ist die von jeder Verbindlichkeit emanzipierte Kunst per definitionem vollkommen unkritisch.
Ein schwerer Schlag für die künstlerisches Subjektivität, die, wenn schon sonst nichts mehr, gerade das sein will: kritisch! Doch die strukturelle Unfähigkeit zur Selbstkritik ist, außer vielleicht der Verheißung materiellen und symbolischen Gewinns, das Einzige, was das Festhalten am Künstlerseinwollen noch bringt. Wer es schafft, auf seinem Künstlersein zu bestehen, hat sich erfolgreich gegen die Zumutung gewehrt, seinen Beruf durch kritischen Vergleich mit anderen Berufen selbst abzuschaffen. Dafür muss er freilich den Preis der Blindheit gegenüber der kapitalistischen Realität bezahlen.


7. Be creative!

Der gesellschaftskritische Anspruch einer Aufhebung der Fremdbestimmung und Instrumentalisierung des arbeitenden Menschen zugunsten einer humanen Selbstbestimmung und lustvollen Selbsterfahrung kann als potentieller Ausgangspunkt für eine Steigerung (Belebung) der Ware Arbeitskraft und eine Ausweitung produktiv zu erschließender Bereiche angesehen werden. (Johanna Riegler)

Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, man wird Boris Groys schwerlich widersprechen können, wenn er behauptet: „Die Kunst ist primär ein Wirtschaftszweig. Die Aufgabe der Kunst besteht primär in Produktion, Verbreitung und Verkauf von Kunstwerken. Das Kunstwerk ist eine Ware wie jede andere. Der Kunstmarkt ist ein Teil des Marktes als solchem und funktioniert nach den üblichen Gesetzen der Warenökonomie.“ (Groys, S. 9)
Die Feststellung, dass Kunst eine Ware ist und der Kunstbetrieb Teil der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, ist wohlfeil und gewönne nur dadurch den Charakter ernst zu nehmender Kritik, dass eben nicht nur der Teilbereich „Kunst“, sondern die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung insgesamt kritisiert würde — was dann sogar, wie ja gerade Boris Groys mehrfach gezeigt hat, sehr wohl auch ausgehend von besagtem Teilbereich geschehen kann.
Allerdings ist es dabei nur eine Seite der Medaille, dass der Kunstbetrieb unverkennbar Züge der Marktwirtschaft trägt, denn es gilt umgekehrt ja längst auch, dass die Wirtschaft Merkmale des Kunstbetriebes angenommen hat. Gudrun Rothauer schreibt dazu in ihrem instruktiven Buch „Kreativität & Kapital“: „Mit Kreativität als Inbegriff des künstlerischen Schaffens verbinden wir Originalität, Genuinität, Flexibilität, Erfindungsreichtum, Gestaltungsfreiheit, Autonomie und eine Reihe weiterer ideeller Werte. Einige davon hat nun die Wirtschaft für sich neu entdeckt. War Kreativität lange Zeit mit innovativen Marketingstrategien verbunden und im Wesentlichen mit der Werbebranche assoziiert, ist sie nun zum Schlüsselfaktor im Globalisierungswettbewerb avanciert. Nicht nur Individuen, sondern Unternehmen und Nationen sind heute kreativ — und müssen es sein, wenn sie international bestehen wollen.“ (Rothauer, S. 8)
Das klingt ja noch harmlos und wird in seinen monströsen Aspekten erst kenntlich, wenn Rothauer pointiert: „Der Ruf nach Kreativität bezeichnet unter postindustriellen Bedingungen nicht mehr eine emanzipative Utopie, sondern eine gesellschaftliche Verpflichtung.“ (Rothauer, S. 8)
Rothauer führt dann aus: „Kreativität gehört im wirtschaftswissenschaftlichen Fachjargon ebenso wie Wissen zu den mentalen Ressourcen und zum intellektuellen Unternehmenskapital. Dass nicht alle Menschen ihre kreativen Fähigkeiten gleich einsetzten können, liegt an gesellschaftlich bedingten Hemmfaktoren wie Selbstverständlichkeit, Gewohnheit, Routine, Erziehung. Der gegenwärtig florierende Trainermarkt lebt davon, Kreativitätstechniken zu vermitteln, die helfen sollen, die diversen Hindernisse zur kreativen Entfaltung abzubauen. Und dies nicht nur im Berufsleben, auch im Alltag. (…) So ist Kreativität unter dem Einfluss unseres gegenwärtigen gesellschaftlichen Wertesystems zu einem Lifestyle geworden.“ (Rothauer, S. 46)
Dieser Lifstyle ist nun keineswegs eine frei wählbare Lebensweise unter anderen, sondern vielmehr ein für alle gesellschaftlichen Akteure verbindliches Modell, das eng an die von neoliberalen Vorlieben diktierten Zwangsvorstellungen vom sich selbst als sein eigenes Unternehmen begreifenden Arbeitnehmer oder „neuen“ Selbständigen gekoppelt ist. Rothauer schreibt: „Es ist genau das neue Leitbild des unternehmerischen Selbst, das Kreativität als Lifestyle suggeriert, ein Lifstyle, der den globalen Wirtschaftsmarkt beherrscht. Die abnehmende Bedeutung der Produktion geht einher mit der zunehmenden Konzentration auf die Vermarktung von Produkten und Ideen. Unser Informations- und Medienzeitalter ist geprägt von visuellen Botschaften und Bildwelten, die im Sinne dieser Vermarktung um unsere Aufmerksamkeit werben. Kreativität als Lifestyle operiert damit, dass Geschmack und Trends ebenso wie Werthaltungen zu waren geworden sind. Bildende und angewandte Kunst liefern dazu — gewollt oder ungewollt — Input.“ (Rothauer, S. 47)
Anders gesagt, bildende und angewandte Kunst sind nicht Vorreiterinnen der allgemeinen „Verkünstlerung“ und schon gar nicht deren Nutznießerinnen, sie sind bloße Zuliefererinnen. Sie geben kein Modell vor, sondern Kompetenzen ab. Die Kunstproduktion im engeren Sinne mag als eigenständiger Geschäftszweig weiterbestehen, solange sie noch Gewinne abwirft. Was sie einst an emanzipatorischem Gehalt zu besitzen versprach, ist längst durch überzogene Kredite entwertet oder wurde von den ebenso geschickten wie raffgierigen Händen des Kapitals in ein immaterielles Produktionsmittel umgebogen. Schöpferische Gestaltungskraft ist längst eine Gabe mehr, sondern eine Bringschuld. Und die wird täglich neu eingefordert. Rothauer schreibt: „Es ist der kreative Imperativ, durch den nicht nur sozialer Druck, sondern auch soziale Spaltung entsteht. Wer die Selbstoptimierung nicht schafft, sein kreatives Potenzial nicht umsetzen kann, wird gesellschaftlich ebenso benachteiligt wie jene, die nicht über das in der Wissensgesellschaft notwendige Wissen verfügen. Das trifft Individuen gleich wie Unternehmen, Institutionen, Systeme.“ (Rothauer, S. 48)
Somit ist „Du sollst kreativ sein“ ein neues oberstes Gebot und die Devise „Jeder ist Künstler“ tritt ebenbürtig neben die visionären Slogans bei Orwell und Huxley. So hat es Beuys natürlich nicht gemeint, aber das ist dabei herausgekommen.
Wir alle sehen uns mit Nachdruck aufgefordert, bei der Arbeit und in der Freizeit, in unserem Konsumverhalten und bei der Wahl unserer Überzeugungen, in unserem Verhältnis zu uns selbst und in unseren sozialen Beziehungen uns unbedingt wie Künstlerinnen und Künstler zu verstehen und uns beständig neu den wechselnden Bedingungen der Warenwelt anzupassen. Kunst ist bekanntlich eine Ware, jede Ware ist auch Kunst, und wir sind nicht nur das Unternehmen, das uns betreibt, und der Arbeitnehmer, den wir beschäftigen, wir sind auch unsere eigene Ware, die wir entwickeln, herstellen, verpacken, bewerben, vertreiben und verkaufen müssen. Alles kann Kunst sein — unsere Existenz ist es längst; jeder ist Künstler, daran arbeiten wir schon. Wie könnte es uns da noch beeindrucken, dass es immer noch Leute gibt, die glauben, die Begriffe „Kunst“ und „Künstler“ für sich gepachtet zu haben?


8. Schluss damit

Was mich erstaunt, ist die Tatsache, dass in unserer Gesellschaft die Kunst zu etwas geworden ist, das nur mit den Objekten und nicht mit den Individuen oder mit dem Leben in Beziehung steht, und auch, dass Kunst ein spezialisierter Bereich ist, betrieben von Experten, nämlich den Künstlern. Aber könnte nicht das Leben eines jeden Individuums ein Kunstwerk sein? Warum sind eine Lampe oder ein Haus Kunstobjekte und nicht unser Leben? (Michel Foucault)

Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Im Zuge unseres Mailwechsels, mit dem wir diesen heutigen Vortrag im vorigen November vereinbarten, bemerkte Michaela Pöschl mir gegenüber einmal, dass man sich in der Kritik anderer gut sonnen könne, was mit positiven Worten nicht so leicht zu sein scheine, und dass sie sich schon oft die Frage gestellt habe, warum Theoretiker und Theoretikerinnen so oft über Dinge schrieben oder redeten, die sie nicht gut fänden. Meine Antwort, die ich Frau Pöschl damals ungefragt gab, möchte ich auch Ihnen nicht vorenthalten. Ich mailte ihr: „Tja, warum schreibt man eigentlich über Hunger, Krieg, Unterdrückung oder ‘Kunst’? Vielleicht, weil man verärgert, traurig oder angewidert ist und sich wünscht, dass solche Dinge aufhören?“
Nein, ich möchte nichts dramatisieren. Kunst und Künstler sind nicht so wichtig, wie sie sich gerne nehmen. Es geht dabei ganz bestimmt um Nebensachen und um nichts, was man besonders ernst nehmen müsste. Aber gerade unbedeutende Kleinigkeiten sind ja oft störender als alles andere, wenn sie recht wichtig und anspruchsvoll daherkommen und sich zu Phänomenen von menschheitsbewegender Bedeutung aufplustern.
Gegen die sowohl lächerliche wie ärgerliche Überschätzung des Künstlerischen wendet sich auch der Philosoph Rudolf Burger, wenn er schreibt: „Daß Künstler mehr als andere Menschen fähig seien, ‘existentielle’ Probleme zu erfassen, das Herz der Dinge zu erkennen und die Zukunft heraufzuführen, ist ein ständiger Topos der heutigen Kunstbegleitrhetorik, ihre aussagenlogische Schnittmenge sozusagen (und eine gebräuchliche Legitimationsformel der Kulturpolitik). Zugleich weiß natürlich jeder, daß dies nur ein animistischer Mythos ist, nicht rationaler als die Regentänze der Navajo-Indianer, und nach diesem Wissen handelt er auch, selbst wenn er vorgibt, den Mythos zu glauben und ihn vielleicht selber fortspinnt. Ein Blick auf das Alltagsleben genügt, um zu sehen, daß ihn in Wirklichkeit kein Mensch ernst nimmt. Hat nämlich jemand tatsächlich sogenannte ‘existentielle’ Probleme (d.h. wenn es ihm irgendwie schlecht geht), so geht er zum Arzt, zum Psychologen, auf die Bank um einen Kredit, zum Scheidungsanwalt, vielleicht auch noch zum Herrn Pfarrer. Er geht bestimmt nicht auf eine Vernissage, und wenn, dann allenfalls, um sich abzulenken, zu plaudern und etwas zu trinken. Und niemand käme im ernst auf die Idee, Probleme der Ökonomie, der Außen-, Sicherheits- oder Sozialpolitik, der Ökologie oder der Menschenrechte oder auch nur Fragen der Geschichte und deren ‘Aufarbeitung’ Künstlern anzuvertrauen. Dafür gibt es Ökonomen, Politologen, Juristen und Historiker. Die sind oft genug mit ihren Problemen überfordert, aber ihr Urteil ist in einer arbeitsteiligen, hochspezialisierten Gesellschaft immer noch das Beste, was zu kriegen ist. Auch ist die Wissenschaft schon durch ihre Anlage dazu angehalten, ihre Aussagen zu revozieren, wenn Irrtümer offenkundig werden oder neue Gesichtspunkte auftauchen. Sie haut ihre immer nur vorläufigen Lösungen nicht gleich in Stein und gießt sie nicht in Beton.“ (Burger, S. 30 f.)
Abgesehen von den meiner Meinung nach rassistischen Implikationen seines Rationalitätsbegriffes gebe ich Burger Recht. Niemand, nicht einmal die Künstlerinnen und Künstler, nimmt die Kunst ernst. Niemand erwartet von ihr irgendeine qualifizierbare Leistung. Der einzige Wert, den sie unbestritten hat, sind die Preise, die man mit ihr erzielen kann. Hinzu kommt allenfalls noch ein bisschen Lustgewinn: nämlich der der Konsumenten, wenn sie amüsiert, schockiert oder moralisch gebauchpinselt werden; und der Lustgewinn der Kunstproduzierenden, deren Selbstwertgefühl offensichtlich an die Vorstellung gekoppelt ist, sie seien als Künstlerinnen oder Künstler etwas Besonderes.
Das sei allen gegönnt. Mir genügt es nicht. Mich verstimmt, dass die Überheblichkeit der einen die Unterwerfung der anderen ausblendet. Wer nämlich dafür bewundert und bezahlt werden will, dass er als Künstler Suppendosen oder Waschmittelkartons aufgestapelt hat, wertet damit implizit die Angestellte des Supermarktes ab, die dafür, dass sie jeden Tag Suppendosen und Waschmittelkartons aufstapelt, wohl kaum bewundert und nur schlecht bezahlt wird.
Und mich verstimmt auch, dass die Unterwerfungsbereitschaft der Einzelnen die Grausamkeit des Systems verschleiert. Wer sich nämlich seine Lohn-, Freizeit-, Beziehungs-, Überzeugungs- und Selbststilisierungsarbeit dadurch schön redet, dass er seine Existenz zu einer in Wahrheit künstlerischen erklärt, verkennt, dass das, was er für Zuckerbrot hält, nur die mit Zuckerersatzstoffen veredelte Peitsche ist, an der man ihm großzügigerweise zu lecken erlaubt.
Doch Verstimmungen hin oder her, es wird mir mit diesen meinen Ausführungen nicht gelingen, die Begriffe Kunst und Künstler abzuschaffen. Und ich kann übrigens sehr gut damit leben, dass es weiterhin unter anderem eine Tanzkunst, Holzschnitzkunst, Baukunst, Dichtkunst, Fechtkunst, Porträtkunst, Reitkunst, Zimmermannskunst, Landschaftskunst, Lebenskunst, Staatskunst, Volkskunst, Uhrmacherkunst, Bildhauerkunst, Buchdruckerkunst, Töpferkunst, Tischlerkunst, Geigenbaukunst, Orgelbaukunst, Feldherrnkunst, Hebammenkunst, Romankunst, Kleinkunst, Rechenkunst, Tonkunst, Filmkunst, Reimkunst, Erzählkunst, Heilkunst, Malkunst, Schauspielkunst, Kochkunst, Goldschmiedekunst, Beutekunst, Handlesekunst, Redekunst und eine Bierbraukunst geben wird. Aber es bereitet mir eine terminologische Genugtuung, dass man jemanden, der beispielsweise die Uhrmacherkunst beherrscht, nicht Uhrmacherkünstler, sondern schlicht Uhrmacher nennt, und dass auch sonst für gewöhnlich nicht etwa von Malkünstlern, Schauspielkünstlern, Kochkünstlern, Tonkünstlern und Heilkünstlern die Rede ist, sondern selbstverständlich von Malern, Schauspielern, Köchen, Musikern und Ärzten. Neben all diesen inhaltsvollen Begriffen sieht die Nur-Kunst und sieht der Nur-Künstler erfreulicherweise recht mickrig aus.
Meine Damen und Herren, ich bin nun mit meiner Überredungskunst mehr oder minder am Ende. Sie werden mir hoffentlich zugestehen, dass ich hier und heute nicht an ihre Ressentiments und Vorurteile appelliert habe, sondern an ihren Intellekt. Ich habe mich nach Kräften bemüht, Ihnen die Begriffe „Kunst“ und „Künstler“ zu verleiden. Aber ich bin nicht so naiv, anzunehmen, ich könnte damit Erfolg gehabt haben. Zu tief sitzen ihre ganz anders gearteten Wünsche und Ängste, zu massiv sind ihre gegenläufigen Interessen. Zwar wäre viel gewonnen, wenn mir das gelungen wäre, was im Ausstellungskatalogdeutsch „Veränderung der Wahrnehmungsgewohnheiten“ heißt. Und noch lieber wäre es mir, ich hätte etwas zur Veränderung Ihrer Verhaltensweisen beitragen können, dergestalt, dass Sie, wenn Sie künftig den Satz „Das ist Kunst“ hören, mit „Na und?“ antworten und dass Sie, wenn Sie den Satz „Ich bin Künstler“ hören, mit einem Achselzucken reagieren. Realistisch gesehen aber bleibt mir am Ende wohl doch nur, mich für Ihre Aufmerksamkeit zu bedanken.

 


Vortrag, gehalten am 3. Mai 2006 in der Wiener Kunstschule (in der Veranstaltungsreihe „Berufsbild KünstlerIn“).

© Stefan Broniowski 2006

Zitierte Literatur:
Burger, Rudolf: „Die Heuchelei in der Kunst“, in: Liessmann, Konrad Paul (Hg.): Im Rausch der Sinne, Wien 1999, S. 15-36
David, Catherine: „Kunst und Arbeit im Informationszeitalter“, in: Carp, Stefanie (Hg.): Alles Kunst?, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 183-199
Demand, Christian: Die Beschämung der Philister. Wie die Kunst sich der Kritik entledigte, Springe 2003
Grasskamp, Walter: Die unästhetische Demokratie. Kunst in der Marktgesellschaft, München 1992
Grasskamp, Walter: Die unbewältigte Moderne. Kunst und Öffentlichkeit, München 1989
Groys, Boris: Topologie der Kunst, München 2003
Heidenreich, Stefan: Was verspricht die Kunst?, Berlin 1998
Pfütze, Hermann: Form, Ursprung und Gegenwart der Kunst, Frankfurt am Main 1999
Oman, Hiltrud: Joseph Beuys. Die Kunst auf dem Weg zum Leben, München 1998
Rothauer, Gudrun: Kreativität & Kapital, Wien 2005
Ruppert, Wolfgang: Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1998
Schmücker, Reinhold: Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München 1998