Wie man sich denkt, so liebt man? Drucken

 

Übrigens ist man ja immer in Gesellschaft. Zuerst hat man es mit der Mutter zu tun, später mit dem Rest der Welt. Aber in gewissem Sinne repräsentiert die Mutter immer schon die Welt, zu der sie ihr Kind bringt. Sie ist ihm die Gattung.

Herrschaft ist Macht als Zwang.

Sexualität wird meist verstanden als etwas, das man hat. In diesem Sinne spricht man von der „eigenen Sexualität“, von „sexueller Identität“ und „sexueller Orientierung“. All das hat man eben.

Das Wort „Orientierung“ kommt von lateinisch „orire“ (sich erheben; aufgehen, sichtbar werden, sich zeigen; entstehen, entspringen; abstammen, geboren werden; wachsen; anfangen, anheben). Damit verwandt ist „origo“ (Ursprung, Abstammung, Geburt, Stamm, Geschlecht, Stammvater, Mutterland). Dazu gehören im Deutschen die Wörter „original, originell, originär“. Gleichfalls verwandt ist „ordo“ (Reihe, Zug, Schicht, Abteilung, Stand, Klasse, Ordnung, Reihenfolge, Regel). Dazu gehören im Deutschen die Wörter „ordinär, Ordinarius, Ordination“ und nicht zuletzt das Verb „ordnen“ mit dem daraus abgeleiteten Substantiv „Ordnung“.

Ich habe immer schon angefangen. Meine Anfänge sind mir unzugänglich, weil sie mir vorausgehen, weil es mich nahezu nicht ab, bevor es sie gab. Insofern bin ich mir selbst gegenüber immer ein wenig nachträglich.

Ich ist Ich. Man soll gefälligst mit sich selbst identisch sein, was doch wohl heißt, so zu sein wie alle anderen, die ja auch mit sich selbst identisch sind. Ich ist Ich.

Denken ist Abenteuer im Körper. Weg von den Hirn-, Schädel- und Kopfmetaphern! Hin zu einem Ganzkörperdenken!

Beinarbeit, Beinarbeit!

Identität ist langweilig, besonders die sexuelle. Was immer und immer dasselbe ist, macht stumpfsinnig. Identität als Festhalten am Gleichen und das Begehren als Wunsch nach Veränderung widersprechen einander.

Alle Welt scheint zu wissen, was das ist: Sexualität: Fortpflanzung, Lüste, sexuelle Differenz. Aber es gibt Lüste ohne Fortpflanzung und Fortpflanzung ohne Lust. Es gibt Zweigeschlechtlichkeit ohne Fortpflanzung und Fortpflanzung ohne Zweigeschlechtlichkeit. Es gibt — ach, und so weiter. Wie also? Sexualität ist Sexualität ist Sexualität.

Ich bin hier und will womöglich anderswo hin. Um die richtige Richtung wähle zu können, orientiere ich mich an etwas. Aber — wohlgemerkt — das, woran ich mich orientiere, ist nicht das, worauf ich hinauswill.

Irgendwo ist man ja immer. So soll es sein. Wie aber wäre es, wenn man nirgendwo wäre, an keinem Ort, genauer gesagt: an einem Nichtort? Die Geschichten von solchen Orten werden Utopien genannt.

Mehrfach in ihren Texten schreibt Gertrude Stein den Satz: „Ich bin ich weil mein kleiner Hund mich kennt.“

Im Wunsch nach Veränderung bleibt das Begehrende nicht bei sich selbst, sondern wendet sich dem Begehrten zu. Dann vertauschen das Andere und das Eigene nicht einfach ihre Plätze, das eine wird nicht zum anderen. Vielmehr fragt das Begehren nach dem Weg. So richtet sich das Begehrende am Begehrten aus.

Man kann sich über etwas orientieren. Man kann sich in etwas orientieren. Man kann sich an etwas orientieren. Aber kann man sich auch auf etwas orientieren?

Das Wort „Moral“ leitet sich über das französische „morale“ vom lateinischen „mos“ ab, das mit „Wille, Gewohnheit, Sitte, Brauch; Gesetz, Vorschrift“ übersetzt werden kann. Der Plural „mores“ heißt so viel wie: „Sitten, Charakter, Lebenswandel, Betragen, Verhalten; Gesittung“.

Der gemeinste Zwang ist der Zwang gegen sich selbst. Die Selbstbeherrschung scheint am wenigsten eine Form von Form von Herrschaft zu sein und ist darum so schwer zu bekämpfen. Aber an ihr wird vielleicht deutlich, dass Herrschaft um so unangreifbarer ist, je mehr sie versagt.

Ich mag Zwänge nicht. Ich möchte niemanden zu irgendetwas zwingen, nicht einmal mich selbst.

Nicht zwangsläufig reizt ungewöhnliches Denken zum Mitdenken an. Oft ermüdet es weit eher die, die ihm folgen wollten. Sei’s drum. Denken ist Abenteuer im Körper.

Unter dem Gesichtspunkt der Fortpflanzungsfunktion hat Sexualität es zu tun mit der Kontinuität der Gattung, die (bei aller anpassenden Veränderung) stets dieselbe bleibt. Sie muss dieselbe bleiben, weil sie sich nur als solche fortpflanzen kann. Sie muss sich fortpflanzen, um immer dieselbe zu bleiben. Die Gattung ist es, die sich fortpflanzt, nicht die Individuen.

Individualität ist das am wenigsten Individuelle, da sie doch jedem Individuum zukommt, also allen gemeinsam ist. Eine individuelle Identität ist ganz und gar nichts besonderes.

Natur wird gedacht. Mal ist sie die Große Mutter, aus der alles hervorgeht und in die alles zurückkehrt: mal ist sie die ewig junge Gefährtin der Kultur oder deren jungfräuliches Opfer. Sie ist Herrin und Dienerin zugleich, wie man sie braucht. Mal ist sie absolute Grenze des Denkens und Handelns, mal völlig verfügbares Material. Immer aber wird sie gedacht.

Ordnung ist das halbe Leben, dessen andere Hälfte die Sehnsucht nach Ordnung ist. Alles soll so sein. wie es sich gehört. Auch wenn man selber in seiner Lebensführung dem nicht entspricht und vielleicht gar nicht entsprechen will — irgendwo muss es doch etwas geben, das unzweideutig und unanfechtbar stimmt, eine bewusstseins-, empfindungs- und handlungsunabhängige Ordnung eben. Vielleicht ist sie ganz weit weg. Aber sie ist da. Ganz bestimmt.

Die Gesellschaft ist wie ein Labyrinth, in das man hineingeboren worden ist. Dass es aber wirklich ein Labyrinth ist, hat man erst verstanden, wenn man sich einen möglichen Ausgang denken kann.

Geht die Sonne im Osten auf? Oder ist dort Osten, wo die Sonne aufgeht? Wer weiß, wo Osten ist, weiß, wo die anderen Himmelsrichtungen sind. Man sagt, er oder sie sei orientiert. Innerhalb des so strukturierten Horizontes lässt sich alle und jedem ein benennbarer Ort zuweisen und jede Richtung bestimmen. Die Himmelskunde gibt den Rahmen der Vermessungskunst ab.

Mir ist es nicht um die logische Verknüpfung der Gedanken zu tun. Mir ist es zu tun um das verkehrende Spiel der Wörter. Mein Denken entsteht in den Körpern der anderen.

Irgendwo schreibt Paul Valéry: „Jede Sicht der Dinge, die nicht befremdet, ist falsch. Wird etwas Wirkliches vertraut, so kann es nur an Wirklichkeit verlieren. Philosophische Besinnung heißt vom Vertrauten auf das Befremdende zurückkommen, im Befremdenden sich dem Wirklichen stellen.“

Unter dem Gesichtspunkt des Lustgewinnes wird Sexualität besonders undeutlich. Wie soll man die einen Lüste von den anderen unterscheiden? Essen, Scheißen, Wichsen, Ficken — welche Lust ist da welche? Wie, wann und wo ist eine Berührung, eine Empfindung, eine Vorstellung, eine Erregung sexuell und wie, wann und wo ist sie es nicht? Dass es auf diese und ähnlich Fragen keine eindeutigen Antworten gibt bzw. dass alle eindeutigen Antworten darauf falsch sind, sollte ebenso bedenklich wie fröhlich stimmen.

Das Denken schreitet voran. Irgendwie. Es strömt. Und es stockt, weil es strömen kann. Die Gedanken gehen ineinander über. kein Gedachtes bleibt es selbst. Denken heißt oft: verändern, sich vom Vertrauten zum Fremden bewegen. Insofern gleicht das Denken dem Begehren: es hat eine Richtung auf etwas.

Beinarbeit, Beinarbeit!

Identität erscheint als Wiedererkennbarkeit. Man wird so lange von anderen wiedererkannt, bis man nicht mehr kann und sich als sich selbst wiedererkennt.

Das Begehren drängt danach, sich zu verlieren. Das Begehren ist die Lust auf etwas. Der Genuss ist die Lust an etwas. Und hört sich nicht auch der Verlust so an, als wäre er eine der Lüste?

Gewohnheiten schwächen den Willen und verderben den Charakter. Man sollte sie sich abgewöhnen, sonst lässt man sich leicht von den herrschenden Gewohnheiten beherrschen. Und dann gewöhnt man sich bald daran, beherrscht zu werden. Freiheit hingegen ist immer ungewöhnlich.

Natur wird gedacht. Sie wird immer als etwas anderes vorgestellt. Jede Wahrheit aber, die man aus ihr herausliest, muss man auch in sie hineinlesen. Natur ist Fiktion, ist gesellschaftliche Konvention. Man tut dabei so, als gäbe es für vergesellschaftete Wesen irgendetwas Nichtgesellschaftliches.

Ich denke vor und andere denken nach. Ich freue mich über jeden neuen Gedanken, der mir kommt, über jede schöne Formulierung, die ich mir mache. Ich weiß nicht, was mir kommt, bevor es mir kommt, ich weiß nicht, was ich mir mache, bevor es getan ist. Ich selbst bin mein Werk. Mein Text ist mein Körper. Ich lese vor und andere sitze es ab.

Wer sich orientiert, setzt das Eine und das Andere in Beziehung, findet erst eine Richtung, dann mehrere, kann nach und nach Wege vom Einen zum Anderen vorhersehen. Orientierung ist eine Form des Wissens.

Moralisch zu handeln heißt: so wie gedachte oder wirkliche andere zu handeln, so wie diese gehandelt haben oder handeln würden. Moral ist Gewohnheitssache. Sie besteht nicht so sehr aus Werten, Normen, Regeln – sondern aus dem erlernten Gefühl für das Zulässige.

Plötzlich … — ! Könnte man sich doch offenhalten, dort wo man sich aufhält, für das Unerwartete.

Unter dem Gesichtspunkt der sexuellen Differenz erscheint Sexualität so wunderbar eindeutig. Es gibt eben Männer und es gibt eben Frauen. Aber was heißt das schon? Wie männlich ist die Männlichkeit, wie weiblich ist die Weiblichkeit? Ist das überhaupt schon alles? Wie viele Geschlechter gibt es wirklich? Ach, alles könnte so hübsch einfach bleiben: Identität: Y ist X und Y ist Y. Differenz: X ist nicht Y und Y ist nicht X. Orientierung: X zu X, Y zu Y, X zu Y und Y zu X. Aber so wird das nix.

Das Denken nutzt die Risse im Gefüge dessen, was sich denken lässt, um das Undenkbare voranzutreiben, es hineinzutreiben wie einen Keil in die Spalten und Ritzen der bestehenden Denk-Verhältnisse, bis es sie sprengt.

Von Rimbaud stammt der berühmte Satz: „ICH ist ein anderer.“

Utopien sind Geschichten von Reisen an Orte, an denen niemand je war. Sie schildern Verhältnisse, die den hiesigen deshalb nicht gleichen, weil sie sie kritisieren.

Zu sein, wer man ist, also ein Identität zu haben, ist das wenigste. Kein anderer oder keine andere zu sein, ist sterbenslangweilig und vor allem ungerecht. Veränderung, Andersheit, Abweichung erst bringt Farbe ins Leben und Bewegung in die gesellschaftlichen Verhältnisse.

Herrschaft schafft Bewusstsein, Herrschaft bewirkt Sprache. Man unterwirft sich und andere. Im Begriff des Subjekts kommen Untertan und Souverän überein. Das lateinische „subiectum“ ist wörtlich das Unterworfene und nennt doch auch das Ich.

Ich bin wie ich bin; aber das heißt noch gar nichts. Nur weil ich anders sein könnte, als ich bin, und weil ich mich immer schon verändere, macht es Sinn zu sagen, dass ich bin, wie ich bin. Irgendwie bin ich also immer schon ein wenig anders, als ich gerade bin.

Jemanden über etwas orientieren heißt so viel wie ihn oder sie in Kenntnis setzen. Wer in Kenntnis gesetzt ist befindet sich — wissensmäßig — anderswo als vorher, als sie oder noch in Unkenntnis war. Ist Orientierung also Bewegung, Veränderung?

Die Gesellschaft, verstanden als die Gesamtheit der Beziehungen zwischen den Menschen, kann sich nur als ganze bewegen und nur als ganze bewegt werden. Jede Veränderung einer einzelnen Beziehung ist eine (und sei es unvorstellbar geringe) Veränderung jeder anderen Beziehung.

Beinarbeit, Beinarbeit!

Das Begehren als der Wunsch nach Veränderung hat es nie nur mit dem Subjekt und nur bedingt mit einem oder mehreren Objekten zu tun. Das Begehren ist eher eine Weise des Sich-auf-etwas-beziehens. Es ist immer unterwegs; und um Wege zu finden, orientiert es sich.

Von einer metaphysischen Konstruktion sexueller Orientierung kann insofern gesprochen werden, als sexuelle Orientierung herkömmlicherweise als Ausrichtung eines Subjekts auf ein Objekt bzw. einen Typus von Objekten konzipiert wird, wobei diese Ausrichtung meist als dauerhaft gilt und als in der Natur des Subjekts begründet gedacht wird. Ein solches Konzept setzt allerdings diskrete Identitäten der Subjekte und Objekte ebenso voraus wie bestimmte Arten möglicher Beziehungen zwischen ihnen. Problematisch ist ferner die Annahme einer inneren, kontinuierlichen „Natur“, mit der die Reflexion auf gesellschaftliche Strukturen ebenso ausgeblendet wird wie die individuellen Geschichten, die innerhalb eines kategorialen Rasters der Entwicklung, Reifung, Normalität und Gesundheit auf austauschbare Vergleichsdaten reduziert werden. Auffällig ist die eigentümliche Verwendung des Ausdrucks „Orientierung“, der nicht im Sinne eines Sicht-zurecht-findens und Ausrichtens-an -etwas gebraucht wird, sonder als Ausrichten-auf-etwas in die Nähe von unwillkürlichem Festgelegtsein rückt.

Je mehr man weiß, desto weniger muss man denken. Umgekehrt gilt das nicht. Das Denken kann geschult werden, aber nicht gedrillt. Dressur hebt Mündigkeit auf. Man vergleiche einmal das, was man wie im Schlaf kann, mit dem, wovon man träumt.

Liegt die Fortpflanzungsfunktion in der Natur der natürlichsten Sache der Welt, als die die Sexualität so gerne behauptet wird, so erscheint der Lustgewinn in der dienenden Position, als nachträgliche Zutat und schmückendes Beiwerk. Die aufwendige Inszenierung sexueller Differenz leitet sich dann strikt von den natürlichen anatomisch-physiologischen Gegebenheiten ab.

In seinem Buch „Wider die Natur?“ schreibt Volker Sommer: „Die Natur ist so etwas wie die Hure der Moral — ein Begriff der beliebig brauchbar und missbrauchbar ist.“

Natur wird gedacht. Es kommt darauf an, was man will, dass Natur sei. Man redet über sie, also muss es sie geben. Ihr Begriff ist ungeheuer gewichtig, aber leicht zu verbiegen. Das Natürliche geht als Norm ebenso durch wie als etwas, über das man hinaus muss. Natur wird gedacht.

Wenn jemand, um zu wissen, wo er oder sie ist. oder um einen Weg zu finden, sich zum Beispiel an den Sternen orientiert, so hält er oder sie nicht auf die Sterne zu. Das, woran man sich orientiert, ist kein Ziel, sondern nur eine Art tertium comparationis zwischen einem oder einer selbst und dem, wo man hin will.

Ich bin, wo ich bin. Selbst wenn ich anderswo hinginge, wäre ich wieder dort, wo ich bin. Wie kann ich dem entkommen? Wie kann ich mir entgehen?

Moral hat es mit dem Üblichen zu tun, nicht mit dem Richtigen. Die Große Lüge der Moral ist die Annahme, richtig zu handeln heiße: zu handeln wie andere auch. Und doch muss ich mich an anderen und ihrem Tun und Lassen orientieren, wenn ich wissen will, was ich mache und was ich machen soll.

Ordnung braucht Normen. Normen sind Richtschnüre, von denen man gern in Kauf nimmt, dass sie Gängelbänder sind, wenn man an ihnen nur sichere Weges geführt wird. Überdies sind es so viele, dass man oft einer Norm im Namen einer andere entschlüpfen kann. Normalität ist ein Netz, das wie alle Netze seine Flexibilität durch die Zwischenräume gewinnt, aber nichts desto trotz wegen der Knoten zusammenhält. Löcher machen beweglich, Knoten aber machen erst Sinn. Und schließlich verfängt man sich doch in der Normalität.

Herrschaft muss Lücken lassen, muss vielfältig und beweglich sein. Wer sich nicht anpasst, geht zugrunde. So lautet das Grundgesetz von Herrschaft. Anpassung sichert das Überleben, die Bestangepassten kommen durch. Und die Frage des Überlebens, die Frage also nach Leben und Tod, ist der Punkt, auf den letztlich alle Herrschaft gerichtet ist.

Identität schließt immer etwas aus, nämlich das, was man nicht ist. Aber gerade von diesem Ausgeschlossene her, in das das Identische geradezu eingeschlossen ist, wird Identität bestimmbar. Zu sein, was man ist, ist abhängig davon, nicht zu ein, was man nicht ist. Genauer gesagt: was man nicht sei soll.

Die logischen Hierarchien der Gedanken sind wirkliche Hierarchien. Das Denken ist nicht weniger ein politischer Ort als das Besitzen, das Herstellen oder das Verteilen. Auch im Denken stellt sich das Problem des Verhältnisses von Ordnung und Freiheit.

Beinarbeit, Beinarbeit!

Der Genuss löscht das Begehren nicht aus und der Verlust setzt den Genuss auf andere Weise fort. Die Lüste gehen nahezu ununterscheidbar ineinander über. Immer sind sie auf etwas bezogen, auf etwas gerichtet, an etwas orientiert, ohne dass solches „Etwas“ zu einem klar definierte Objekt stilisiert werden müsste.

In einem Interview mit französischen Journalisten, das unter dem Titel „Von der Freundschaft als Lebensweise“ erschienen ist, sagte Michel Foucault: „Offenbar müssen wir nicht so sehr daran arbeiten, unser Begehren zu befreien, als daran, selbst unendlich genussfähiger zu werden. Man muss von den stereotypen Klischees der rein sexuellen Begegnung einerseits, der Identitätsverschmelzung in der Liebe andererseits wegkommen.“

Der Orientierungssinn als kultivierbare Fähigkeit ist abhängig von anderen, [deren] Fähigkeit, sich zu orientieren, der eigenen vorangehen muss.

Was aber, wenn die Elemente, aus denen Sexualität zusammengesetzt zu sein scheint (Fortpflanzung, Lüste, sexuelle Differenz, Intimität) zwar zwangsläufig, aber nicht notwendig miteinander verknüpft wären? Wenn es stattdessen notwendig wäre, den Knoten zu lösen, alle Stränge zu unterscheiden und den Sinn und Zweck ihrer Verbindung nicht in einer ominösen Natur, sondern in den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen zu suchen, in denen bestimmte Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Wissensformen produziert werden sollen?

Die Gesellschaft geht dem Individuum voraus, sie bringt es hervor. Die erste soziale Bindung eines Kindes ist die zwischen Mutter und Vater. Die zweite ist die zur Mutter, die für das Kind restlose Abhängigkeit bedeutet. Das ändert sich nicht mit der Geburt. Noch die Erziehung zur Selbständigkeit ist etwas, was von anderen an einer oder einem vollzogen wird.

Ich bin, weil andere vor mir waren, ich bin Fleisch von ihrem Fleisch, Bein von ihrem Bein. Mein Fühlen und Denken ist nach ihrem Fühlen und Denken geformt. Ich spreche die Sprache der anderen. Kaum ein neues Wort, wenig neue Sätze – und doch ein völlig neuer Text.

Von der Liebe war bisher nicht die Rede und das wird auch so bleiben.

Utopien sind Texte, sind „Hirngespinste“, gesponnen aus nackter Realität. Sie sind Werke, gemacht um etwas zu bewirken, um mögliche Veränderungen des Wirklichen Lesbar zu machen.

Plötzlich … —! Bliebe das Unerwartete den Selbstgefälligen doch im Halse stecken oder stopfte ihnen wenigstens das Maul.

Das Denken ist dann eine Last, wenn man es sich leicht machen will mit der Zustimmung zur Welt. Das Denken ist oft auch eine Belästigung, wenn es plötzlich auftaucht, wenn es nicht verschwindet, wo es doch dabei stört, einfach weiterzuleben und weiterzumachen und mitzumachen und glücklich zu sein.

Warum sollte Freiheit ursprünglicher sein als Herrschaft? Im Lateinischen bedeutet „principium“ (so wie im Griechischen „arché“) ebensowohl Anfang wie auch Herrschaft. Der Mensch wird unfrei geboren, in Unfreiheit hineingeboren. Nachträglich erst, wenn überhaupt könnte er sich befreien.

Moral braucht Geschichte, weil sie sich auf Gewohnheiten gründet. Moral ist Interpretationssache. Sie ist eine Art Kommentar zu den herrschenden Verhältnissen und zu den Handlungen unter gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen. Da Verhältnisse und Bedingungen sich verändern müssen, um fortzubestehen, kommt Moral immer zu spät und immer zu früh. Vom Individuum fordert sie vorauseilenden Gehorsam und der Gesellschaft dient sie ihre längst anachronistischen Kritiken als Rechtfertigung an.

Die große Schwäche des Begriffs „Orientierung“ ist vielleicht sein Bezug aufs Sichtbare. Zwar kann man sich im übertragenen Sinne auch mit den anderen Sinne[n], ja sogar bloß in Gedanken orientieren, aber zunächst gehören zu Orientierung die Augen. Einen Sonnenaufgang kann man eben, wenn überhaupt, nur sehen, nicht hören, schmecken, riechen und schon gar nicht befühlen.

Nicht fehlen darf auch Wittgensteins berühmter Schlusssatz aus dem „Tractatus logico-philosophicus“: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“

Das Begehren ist das Schreiben eines Textes, das Lesen ist der Genuss (oder eben auch der Abscheu oder die Langeweile). Das Begehren treibt den Text voran, verändert ihn fortwährend, schreibt ihn immer wieder um. Das einmal Geschriebene ist verloren.

Beinarbeit, Beinarbeit!

Woher und wozu die Sehnsucht nach Identität? Jemand sein und als jemand gelten wollen, einssein und mit sich selbst übereinstimmen wollen — warum eigentlich? Identität hat eine narkotisierende Wirkung, sie beruhigt die Leidenschaften und gibt das schöne Gefühl der Sicherheit. Was eins ist, ist ganz [,] und was ganz ist, ist heil.

Unter dem Gesichtspunkt der Scham zeigt Sexualität endlich ihr unwahres Gesicht. Warum so viel Angst, Ekel, Verzweiflung, wenn es doch angeblich bloß um den hehren Zweck der Gattungsbewahrung geht? Warum so viel Gier und Verletzlichkeit, wenn das Schlimmste, was passieren kann, das Erscheinen oder Ausbleiben der Lust ist? Warum so große Anstrengungen, wenn Zuordnung und Sinn des Mannseins und Frauseins ohnehin vorab geregelt sind? Wozu das Versteckspiel, wenn doch alles Natur ist, zwar vielleicht innerste, aber doch allen gemeinsam?

Wovon ich nicht sprechen darf, darüber muss ich schweigen. Aber das, worüber nicht geredet werden darf, regt mich zum Nachdenken an. Wörter und Sätze und Lücken dazwischen und ich dazwischen und ich frage mich: Was steckt dahinter? Am besten, das weiß man ja, versteckt man etwas dort, wo alle Welt es sehen kann.

Der gesellschaftliche Zusammenhalt gründet auf dem, was verschwiegen wird, wovon man nicht sprechen können darf. Das Ausgeschlossene ist das Unmögliche, aber Wirkliche. Jenseits der Mauern, die die Kommunikationsgemeinschaft umschließen, muss es etwas geben, was es nicht geben darf.

Dieser Vortrag ist denen gewidmet, die denken wollen.

Natur wird gedacht. Sie ist eine ausgezeichnete Ausrede. Die normsetzende Kraft, die von der Idee der Natürlichkeit ausgeht, ermöglicht es, sowohl die anderen zu kritisieren, wie auch sich selbst zu rechtfertigen. Natur gilt als die zweifellos Unschuldige. Wem da keine Zweifel kommen, [der] ist selber schuld.

Dass man etwas wahrnimmt, heißt noch lange nicht, dass man sich daran orientiert. Orientierung ignoriert, um zu erkennen. Orientieren heißt interpretieren. Erst sucht man, dann findet man. Aber muss man, um suchen zu können, nicht schon irgendetwas haben, zumindest eine Spur?

Die Unordnung erscheint als das Material der Ordnung. Diese gestaltet die Gestaltlosigkeit jener. Insofern setzt Ordnung Unordnung voraus. Aber setzt der Begriff der Unordnung nicht seinerseits den Begriff der Ordnung voraus, der an ihm verneint wird? Ordnung und Unordnung sind siamesische Zwillinge, basta.

Die herrschenden Verhältnisse, es sei nochmals gesagt, müssen sich ändern, um fortzubestehen. Anpassung ist die Regel, die Grundregel. Daher gibt es auch keine Sicherheit vor der Herrschaft, nur in ihr. Gewissheit gibt es nur dort, wo etwas ausgeschlossen worden ist.

In einem in Amerika gegebenen Interview antwortet Michel Foucault auf die Frage, wie man sicher sein könne, dass die (neu entwickelten) Lüste nicht als Mittel sozialer Kontrolle missbraucht würden: „Wir können niemals sicher sein. Tatsächlich können wir sicher sein, dass das passieren wird und dass alles, was geschaffen oder erreicht worden ist, alles gewonnene Gelände, in einem bestimmten Moment in solcher Weise benützt werden wird. So lebe wir, so mühen wir uns ab, so ist die menschliche Geschichte.“

Das Begehren hat keinen festen Ort, es ist immer unterwegs, es geht weiter. Und doch setzt es manchmal aus. Oder setzt sich fest. Oder wird umgeleitet. Oder wird aufgehalten. Das Begehren ist reine Möglichkeit und eine wirkliche Kraft und zu manchem zu gebrauchen.

Utopien sind Geschichten vom Fremden, erzählt, um das Bekannte besser zu verstehen. Utopien sind keine Bedienungsanleitungen. Die Veränderung der bestehenden Wirklichkeit soll nicht in Richtung aufm sondern orientiert an Utopien, also Nichtorten, denkbar werden.

Von einer metaphysischen Konstruktion sexueller Orientierung kann insofern gesprochen werden, als sexuelle Orientierung herkömmlicherweise als Ausrichtung eines Subjekts auf ein Objekt bzw. einen Typus von Objekten konzipiert wird, wobei diese Ausrichtung meist als dauerhaft gilt und als in der Natur des Subjekts begründet gedacht wird. Ein solches Konzept setzt allerdings diskrete Identitäten der Subjekte und Objekte ebenso voraus wie bestimmte Arten möglicher Beziehungen zwischen ihnen. Problematisch ist ferner die Annahme einer inneren, kontinuierlichen „Natur“, mit der die Reflexion auf gesellschaftliche Strukturen ebenso ausgeblendet wird wie die individuellen Geschichten, die innerhalb eines kategorialen Rasters der Entwicklung, Reifung, Normalität und Gesundheit auf austauschbare Vergleichsdaten reduziert werden. Auffällig ist die eigentümliche Verwendung des Ausdrucks „Orientierung“, der nicht im Sinne eines Sicht-zurecht-findens und Ausrichtens-an -etwas gebraucht wird, sonder als Ausrichten-auf-etwas in die Nähe von unwillkürlichem Festgelegtsein rückt.

Beinarbeit, Beinarbeit!

Es kommt darauf an, ob man etwas Neues hören will. Oder etwas anderes denken. Denken ist immer eine unsichere Sache, Da muss man oft was riskieren. Das Unerwartete und die enttäuschte Erwartung geben dem Denken die Kraft, sich selbst zu verschmerzen.

Nicht an allem, was man wahrnimmt, orientiert man sich. Aber das, was man gerne wahrnimmt, kann als Anhaltspunkt für das dienen, was man will. Jede Orientierung hat mindestens eine Gegenstand und einen Zweck. Oft kommen einander die Gegenstände und die Zwecke in die Quere. Man sieht oft nur, was man sehen soll. Manchmal bemerkt man mehr, als für eine oder eine gut ist.

Ich weiß selbst nicht, worauf ich mit mir hinaus will.

Die Gesellschaft verstellt dem Individuum die Welt, die sie ist. Sie ist ihm Mütter, Väter, Brüder, Schwestern, Tanten, Onkel, Neffen, Nichten, Kinder und Kindeskinder, Freunde und Freundinnen. Sie wärmt und lullt dabei ein. Sie nährt und vergiftet dabei. Sie unterhält und lenkt dabei ab. Sie lobt und verwirrt dabei. Sie ist zärtlich und macht dabei mürbe. Sie ist fürsorglich und hält so in Abhängigkeit. Wer rundherum glücklich ist, ist schon verraten und verkauft.

Moral beruht auf der Macht der Mehrheit. „Jemanden mores lehren“, ist ein Ausdruck für disziplinierende Gewalt. „Den Moralischen haben“ heißt so viel wie: niedergedrückt und voller Selbstvorwürfe sein. Ja, nanu, gehören denn Unmoral und Freiheit und Fröhlichkeit zusammen? Scheint fast so. Moral ist Gewohnheit. Gewohnheit macht brav. Bravsein ist stumpfsinnig. Stumpfsinn aber macht Freiheit sinnlos und Fröhlichkeit stumpf.

Sexualität kreist um ein Glücksversprechen, da sie nicht halten kann, wenn sie bestehen soll. Der Gegensatz der beiden Geschlechter bezieht Lustgewinn und Fortpflanzung unter dem Deckmantel der Intimität so aufeinander, dass die Lüste in den Dienst der Gattung treten. Damit fällt die Sexualität hinter das Individuum zurück, statt über es hinauszugehen ins Nirgendwo.

Plötzlich müsste das Unerwartete kommen, das nichts entschuldigt und nichts abschließt und alles, alles löst!

Das Begehren hat immer eine Geschichte, die es nicht kennt. Aber wer sagt, dass diese Geschichte seine Wahrheit ist? Die Wahrheit des Begehrens ist auch nicht das Ziel, zu dem es nie kommt. Die ganze Wahrheit des Begehrens ist dieses selbst, solange es währt.

In einem der in einer österreichischen Tageszeitung veröffentlichen Calvin-und-Hobbes-Comic-Strips [von Bill Waterson] entspinnt sich folgender Dialog: „Calvin; Diese Malvorlage nach Punkten macht mich wütend! Sieg dir das an. Hobbes: Eine Ente. Calvin: Ich weiß! Wer will denn eine Ente malen?! Ich nicht! Sie haben mich dazu gezwungen!“ Und er fährt entschlossen fort: „Man hat mich manipuliert! Mein natürliches künstlerisches Talent ist missbraucht worden, die Vorstellung, die eine Firma von Geflügel hat, zu produzieren. Es ist empörend! Hobbes: Wieder ein Schlag gegen das kreative Selbst. Calvin: Ab jetzt verbinde ich die Punkte wie ich will.“

Herrschaft hat es zu tun mit Punkten, Linien und Flächen. Nämlich mit Punkten, Grenzen und Territorien.

Zugegebenermaßen ist es gefährlich, nicht zu wissen, wer man ist. Identitätsverlust kann pathologisch sein. Und Krankheiten sind zwar eine Art von Abwehr, allerdings eine unfreie. Aber ist es nicht gerade der Zwang zur Identität, der krank machen kann? Gesundheit als soziale Inszenierung lässt Krankheit aus dem Verbindlichen herausfallen und fängt sie sogleich wieder ein in eine Verbindlichkeit der medizinischen Kategorien und therapeutischen Institutionen.

Die Orientierung verlieren heißt so viel wie: die Richtung verlieren. Wer die Richtung verliert, ist selber verloren.

Das Denken ist, verglichen mit sonstigem Tun, ziemlich ohnmächtig. Auch gegen die eigenen Gefühle und Stimmungen kommt es kaum an. Sehr bedenklich.

Utopien sind Geschichten gegen die Geometrie. Gegen eine restlos definierte Welt, in der alle Territorien schon besetzt, verteilt und vermessen sind. Utopien nehmen niemandem Platz weg und eröffne doch neue Räume.

Man ist immer in Gesellschaft und die Gesellschaft ist immer eine Gesellschaft der Männer. Das Patriarchat funktioniert wie ein Netz, bei dem die Männer die Knoten und die Frauen die Lücken sind. Wenn einmal die Große Feministisch-Emanzipatorische Revolution kommt, dann wird ordentlich aufgeknüpft werden.

Unordnung nennt man das, was man nicht als Ordnung verstehen will. Da jede Ordnung eine Setzung ist, erscheint Unordnung als Unterlassung einer solchen. Was nicht heißt, dass man nichts tun müsste. um Unordnung zu bewirken. Der Widerspruch verweist auf die Lösung.

Das Begehren spricht unaufhörlich. Es flüstert, es murmelt, es schreit, es plaudert, es predigt, es sagt seinen Text auf: „Tu, was du willst; tu, was du willst; tu, was du willst.

Die sexuellen Kategorien sind für mich die Dreh- und Angelpunkte, von denen aus sich die begriffliche Welt, also die Welt als wirkliches Werk, aushebeln lässt. Sexualität scheint mir in diesem Sinne ein Abenteuer zu sein, ein nicht zuletzt intellektuelles Abenteuer. Darunter verstehe ich nichts, worin ich bestehen müsste oder wollte. Ich meine damit das leidenschaftliche Spiel um Macht gegen Herrschaft.

Beinarbeit, Beinarbeit!

Kant schreibt in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“

Natur wird gedacht. Natur ist dummes Geschwätz. Die Berufung auf Natur ist übelste Metaphysik, so übel, dass der Kultur schon ganz schlecht wird. Wer Natur als schlechthin Unverfügbares anhimmelt oder als Inbegriff des bloß Verwertbaren verachtet, hat sich der konkreten Analyse dessen schon entzogen, was unter den herrschenden Bedingungen je und je als Natur zu gelten hat und warum.

Orientierung ist das halbe Leben, dessen andere Hälfte die Sehnsucht nach Auswegen ist.

Herrschaft setzt „innen“ an. Sie muss in die Köpfe der Individuen, sie muss sich i ihren Schädeln verankern und in ihren Hirnen festsetzen. Und sie will gewollt werden. Die Subjekte müssen dran glauben.

Weg von den Kopf-, Schädel- und Hirnmetaphern! Hin zu einem Ganzkörperdenken! Durchaus auch mal mit der Klitoris, der linken Brustwarze oder wahlweise auch mit der rechten, mal mit Ohrläppchen denken oder dem Zwölffingerdarm und nicht zuletzt mit der Gallenblase.

Womit macht man Sex? Mit dem Körper? Mit Körperteilen? Mit Gummipuppen? Mit schlechtem Gewissen? Mit einander? Mit emanzipatorischen Grüßen? Mitunter auch schon mal stundenlang gar nicht? Wo macht man Sex? Im Körper? Im Geist? In der Welt? Im Bett? In der Regel zu zweit? Im Dunkeln? Inbrünstig? Mit wem macht man Sex? Mit sich selbst? Ja, geht‘s denn auch ohne sich selbst? Das wäre dann wohl der Sex der anderen.

Das Begehren orientiert sich an etwas, so viel ist inzwischen wohl klar. Es richtet sich also auf etwas. Aber richtet es sich auch an jemanden?

Die Gesellschaft ist die zivilisierte Form der Gattung. Die Gattung ist schlechterdings alles. Sie verschlingt alles, sie bringt alles hervor, sie will alles, sie weiß alles, sie darf alles. Die Gattung zielt nur auf sich selbst, alles andere ist ihr nur Mittel zum Zweck.

An welchem Ort kann man der geometrische Vernunft entkommen? An welchem Ort wäre man frei? Von welchem Ort aus ließe sich die Welt verändern? Wohl nur von einem Nichtort aus. Und den, wie der Name schon sagt, gibt es nicht. Deshalb muss man von ihm erzählen.
Um ihn allen praktischen Bedürfnissen des Lebend und insbesondere auch den Erfordernissen der modernen Wissenschaft anzupassen, wird der kategorische Imperativ hiermit in die folgende Form gebracht: „Handle, wie du sollst.“

Die Verwechslung des utopischen Denkens mit der visionären Geometrie zielt auf die Verschleierung von Herrschaftsverhältnissen und die Verunmöglichung wirklicher Kritik. Vielleicht sollten die Utopien noch ein paar Schritte weitergehen und nicht mehr von Nichtorten erzählen, sondern radikal unterwegs sein.

Um sich zu orientieren, muss man sich bewegen.

Im Kunstforum der Bank Austria hängt derzeit ein Bild, um das die meisten Besucher und Besucherinnen mit ihren Blicken lieber einen Bogen machen. Gemalt hat es Francis Bacon. „Drei Studien für eine Kreuzigung (1962)“.

Solange das Begehren zirkuliert, also im Kreis läuft, bleibt es unfrei. Es muss ins Freie treten, aus seinen bisherigen Bahnen ausbrechen, aufhören zu spuren und endlich, endlich alles vollkotzen.

Wenn die Gattung meine Feindin ist, muss ich mir die Lust zur Verbündeten machen, muss ich die Geschlechter verwechseln und das längst Bekannte verraten. Ach, ich rede wirres Zeugs.

Man ist immer in Gesellschaft und die Gesellschaft ist immer auch eine Gesellschaft der Frauen. Diese funktionieren im patriarchalen System als Elemente einer Matrix, auf der erst das Männliche aufbaut. Mutterschaft braucht werde verklärt, noch verharmlost zu werden. Sie gibt das Modell ab für die dienende Weiblichkeit, die den Herrschenden Verhältnissen zuarbeitet und das Werkl am Laufen hält.

Das Denken ist, man unterschätze das nicht, ganz allein. Unter anderem heißt [zu] denken lernen, lernen, allein zu sein. Die Wahrheit, so könnte man fabulieren, ist oft der Preis der Einsamkeit.

Beinarbeit, Beinarbeit!

Identität ist die Zuflucht der Hilflosen; und wer wäre nicht des Schutzes und des Zuspruchs bedürftig?

Das Begehren weiß nie, ob es nicht mit sich allein ist.

Man ist lieber in Gesellschaft, als auf sich allein gestellt zu sein. Zum Alleinsein gehört aber mindestens eine zweite, nämlich abwesende Person. Ohne den Horizont der Gesellschaft gäbe es keinen stillen Winkel für die fröhliche Einsamkeit.

Wer weiß denn schon, was Orientierung ist? Und wer will es wissen?

Herrschaft ist Macht als Zwang. Zwanglose Macht ist die Phantasie möglicher Wirklichkeit. Die unmögliche Wirklichkeit ist der Ort der Befreiung, das utopische Werk der Subversion.

Man ist immer in Gesellschaft, aber selten in guter. Die beste Gesellschaft wäre die, deren Glieder Mittel und Wege fänden ins Freie. Wo dann die Gesellschaft blieb, ist glücklicherweise absolut irrelevant.

Dem Begehren bekommen Geständnisse schlecht. Etwas, zu dem man stehen muss, hat den Charakter einer Nationalhymne.

In einer Sammlung von Bertold-Brecht-Anekdoten findet sich als letzte auch folgende: „Freunde von Herrn B. rätselten über die alte Streitfrage: Was ist Kunst? Nach langer Debatte sagte einer ärgerlich: Alles Quatsch. Kunst ist, wenn man mitten in die Stube scheißt. Herr B. horchte auf und begann zu überlegen. Nein, sagte er, Kunst ist, wenn man unter Beifall mitten in die Stube scheißt.“

Sexualität ist zu wichtig, um sie den anderen zu überlassen. Die Frage ist nicht ob und wie und von wem Sexualität gelebt wird oder nicht. Die Frage ist, was das, was da gelebt werden soll, ist. Was es sein soll. Und wer das wie bestimmt. Und warum. Und warum nicht etwas anderes gilt bzw. etwas anderes nicht.

Das Begehren ist zu wichtig, um es sich selbst zu überlassen. Genauer gesagt: Zu wichtig, um es dem Selbst zu überlassen.

Das Denken ist zuletzt ein wirklicher Versuch und eine versuchsweise Macht.

Das Begehren schweigt, wenn es gestillt ist.

Sich zu orientieren verlangt mehr als bloß etwas zu sein oder zu haben. Zur Orientierung braucht es Phantasie und Leidenschaft und Feingefühl und eine zärtliche Art von Mut. Man kann sich orientieren, ohne jemand oder etwas sein zu müssen, ohne Rechenschaft geben zu müssen über Identitäten, Abgrenzung und Besitz. Man muss nirgends dazu gehören. Um sich orientieren zu können, muss man allerdings Differenzen akzeptieren. Dann gibt es, wo es einen Willen zum Anderen gibt, auch einen Weg.

Hier bin ich. Und jetzt ist Schluss.

 

Dieser Vortrag wurde am 23. März 1994 im Café Berg zu Wien gehalten.