Schwarz, weiß und grau PDF Drucken E-Mail

Im Jahre 1948 erschien in den Vereinigten Staaten von Amerika ein Buch mit dem Titel „Sexual Behavior in the Human Male”, wörtlich übersetzt: „Sexuelles Verhalten beim menschlichen Männchen”. Auf deutsch kam diese Studie 1963 unter dem Titel „Das sexuelle Verhalten des Mannes” heraus und wurde bekannt als „Der Kinsey-Report”. 1953 erschien dann „Sexual Behavior in the Human Female”, also „Der Kinsey-Report zum sexuellen Verhalten der Frau” (1964).
Als Autor beider Werke, an deren mehrjährigen Vorarbeiten viele Männer und Frauen beteiligt gewesen waren, firmierte Alfred C. Kinsey, ein Zoologieprofessor der Indiana University in Bloomington. Bevor er sich dem Thema der menschlichen Sexualität zugewandt hatte, war Kinsey auf das Studium der Gallwespe spezialisiert, „eines kleinen Insekts, von dem er auf ausgedehnten Reisen in den USA, Mexiko und Guatemala Hunderttausende von Exemplaren sammelte. In seinem Labor untersuchte er sie dann unter dem Mikroskop auf 28 verschiedene Merkmale, um ihre Entwicklungsgeschichte aufzuzeichnen. Diese jahrelange Arbeit machte ihn schließlich zur ersten Autorität auf seinem engen Gebiet. Er war aber auch ein geschätzter Dozent und publizierte ein erfolgreiches allgemeines Lehrbuch der Biologie.” (Haeberle, S. 230)
Privat war Kinsey stets eher still und unauffällig. 1894 in Hoboken, New Jersey geboren, hatte er 1920 an der renommierten Harvard University promoviert, ein Jahr später heiratete er und übernahm 1929 die Professur in Bloomington. Bei seinen Kollegen und anderen Bekannten recht beliebt waren Kinseys kleine Barbecue-Partys, bei denen der honorige Gelehrte es sich nicht nehmen ließ, selbst für die musikalische Unterhaltung zu sorgen, indem er mittels Plattenspielers ein sorgfältig ausgewähltes Musikprogramm hören ließ.
Als die Leitung der Indiana University Alfred Kinsey im Jahre 1938 darum bat, einen Kurs über „Ehe und Familie” (vgl. „Partnerschaft und Beziehungskrisen”) zu übernehmen, machte er sich so gewissenhaft, wie er nun einmal war, an die Arbeit. Die vorhandene Literatur zum Thema erschien Kinsey völlig unzureichend. Als Wissenschaftler wollte er sich nicht mit Meinungen und Vorurteilen begnügen, sondern bestand auf empirisch überprüften Tatsachenangaben. Er verwarf alle bisherigen einschlägigen Untersuchungen, weil sie auf viel zu kleinen und nicht-repräsentativen Stichproben beruhten, und machte sich selbst ans Werk.


Kinsey erarbeitete einen umfangreichen Fragenkatalog, den er in erst „Dutzenden, dann Hunderten und endlich Tausenden von persönlichen Interviews” (ebd.) einsetzte, um das tatsächliche Sexualverhalten von schließlich nicht weniger als 12.000 Männern und Frauen zu ermitteln. Männern und Frauen, die — wenn auch bei weitem nicht gleichmäßig verteilt — aus allen Alters- und Berufsgruppen, allen sogenannten ethnischen Gruppen und aus alles Gebieten der USA stammten. (Übermäßig vertreten waren übrigens weiße Männer der Ostküstenregion.)
Es soll hier nicht weiter auf die Verfahren eingegangen werden, mit denen Kinsey und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Ergebnisse wissenschaftlich absicherten. Und auch die Ergebnisse selbst werden im folgenden nur zum allerkleinsten Teil interessieren. Erwähnt werden aber muß, daß der Kinsey-Report einen Skandal auslöste. Denn die in der Geschichte der Menschheit erste umfangreiche Befragung zum tatsächlichen sexuellen Verhalten bewies, daß all diejenigen Sexualbetätigungen, die in verschiedensten Kulturen — besonders aber in denjenigen, die jüdisch-christlich geprägt sind — als unangemessen, ja verboten und strafwürdig gelten, weit häufiger verbreitet sind, als die Vertreter von Sitte und Anstand es je zu befürchten wagten. Selbstbefriedigung, vor- und außerehelicher Sex, Homosexualität und Sex mit Tieren, alles Dinge, über die man nicht nur im puritanischen Amerika der späten vierziger Jahre am besten gar nicht sprach, erwiesen sich als durchaus gängige Praktiken der Triebbefriedigung.
Heute, ein halbes Jahrhundert nach dem Kinsey-Report, dessen Einfluß auf die dazwischen liegend sogenannte Sexuelle Revolution nicht unterschätzt werden darf, sind die heißen Themen von einst sicherlich weit weniger skandalös. Nicht daß Sexualität aufgehört hätte, die Menschen zu interessieren; bei weitem nicht: Sex ist ja zum Beispiel der beliebteste Gesprächsstoffs in Talkshows, in denen es bekanntlich vorzugsweise darum geht, wer mit wem wie warum wo und wann gevögelt hat oder eben nicht.
Dennoch hat sich in den westlichen Industriezivilisationen einiges verändert. So sind, von bezeichnenden Ausnahmen abgesehen, Selbstbefriedigung und vorehelicher Sex als Normalität akzeptiert; außerehelicher Sex gilt mehr als Beziehungsproblem denn als Frage der Moral; Sex mit Tieren erscheint als wenig relevante und auch nicht weiter tragische Marotte; und selbst die Schwulen und Lesben haben sich in der Gesellschaft mehr oder minder etabliert.
Obwohl die Forschungsergebnisse von damals heute gewiß veraltet sind, scheint mir, daß eine Beschäftigung mit Kinsey und seinen damaligen Erkenntnisse auch heute noch erhellend sein kann. Als Schwuler und, wenn man so will, Homosexualitätsforscher, bin ich insbesondere an dem von Kinsey erbrachte empirischen Nachweis interessiert, daß homosexuelle Betätigung keineswegs die Sache einer kleinen Minderheit ist, sondern etwas, was — weit über die sogenannten „Homosexuellen” hinaus — die Gesellschaft als ganze betrifft. Meiner Meinung nach sind die sich daraus ergebenden Konsequenzen auch heute noch nicht ausreichend bedacht.
Bevor ich aber auf diese Konsequenzen zu sprechen komme, habe ich noch einiges mit Ihnen vor. Zunächst möchte ich Sie mit der von Kinsey entworfenen heterosexuell-homosexuellen Zuordnungsskala vertraut machen; sodann möchte ich Ihnen ausgewählte Ergebnisse Kinseys präsentieren und wesentliche Schlußfolgerungen und Reaktionen erörtern; dies wird mich in der Folge zum Begriff der Bisexualität führen; und erst zu guter Letzt werde ich Sie mit meinen eigenen Überlegungen zum Thema Heterosexualität, Homosexualität, Bisexualität behelligen.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle bitte noch eine Anmerkung, die vielleicht helfen kann, Mißverständnisse zu vermeiden. Als Mann lehne ich es ab, über Frauen in einer Weise zu sprechen, die diese zum selbstverständlichen Objekt meiner Theoriebildung macht. Auch wenn ich mich hier also als Vortragender selbstredend auch an die Frauen im Publikum wende, bitte ich Sie alle, folgendes zu beachten: Ich beziehe mich, was Kinsey betrifft, auf den Report zum männlichen Sexualverhalten, insbesondere auf die Ergebnisse zur männlichen Hetero- und Homosexualität; und ich spreche, wenn ich eigene Gedanken vortrage, überall dort nur von Personen meines eigenen Geschlechts, wo ich Frauen nicht ausdrücklich erwähne. Inwiefern nun aber das, was ich über Männer sage, auch auf Frauen zutrifft — die Entscheidung darüber überlasse ich diesen selbst.

Kinseys Zuordnungsskala
Um das Material, das er und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über die homosexuelle Triebbefriedigung ermittelt hatte, zu ordnen und anschaulich darzustellen, entwarf Alfred Kinsey die von ihm so benannte heterosexuell-homosexuelle Zuordnungsskala. Jeder der von Kinsey und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern befragten Männer kann einer der sieben Stufen dieser Skala zugeordnet werden. Kinsey beschreibt (S. 596) sein Klassifikationsmodell wie folgt:
„0. Personen werden als 0 klassifiziert, wenn sie keinerlei physische Kontakte haben, die zu erotischer Erregung und Orgasmus führen, und wenn sie keine psychische Reaktion Individuen ihres eigenen Geschlechts gegenüber aufweisen, Ihre zwischenmenschlich-sexuellen Kontakte und Reaktionen beziehen sich ausschließlich auf Individuen des anderen Geschlechts.”
„1. Personen werden als 1 bewertet, wenn sie zufällige homosexuelle Kontakte hatten, die physische oder psychische Reaktionen mit sich brachten oder vereinzelte psychische Reaktionen ohne physischen Kontakt. Das große Übergewicht ihrer zwischenmenschlich-sexuellen Erfahrungen und Reaktionen richtet sich auf Personen des anderen Geschlechts.” Kinsey fügt hinzu: „Derartige homosexuelle Erlebnisse können sich auf ein- und zweimal beschränken, sind jedoch immer selten im Vergleich zu ihrer heterosexuellen Erfahrung. Ihre homosexuellen Erlebnisse führen nie zu den gleichen spezifisch psychischen Reaktionen, wie dies durch heterosexuelle Stimuli geschieht. Manchmal sind die homosexuellen Betätigungen, auf die sie sich einlassen, auf Neugier zurückzuführen, können ihnen jedoch auch mehr oder minder von anderen Personen, vielleicht während des Schlafes oder im Zustand der Trunkenheit oder anderen besonderen Umständen aufgezwungen werden.”
„2. Personen werden unter 2 eingestuft, wenn ihre homosexuellen Erlebnisse nicht nur vereinzelt, sondern häufiger vorkommen, und (oder) wenn sie auf homosexuelle Stimuli ziemlich definitiv reagieren. Ihre heterosexuellen Erlebnisse und (oder) Reaktionen überwiegen noch ihre homosexuellen Erfahrungen und (oder) Reaktionen.” Kinsey führt aus: „Diese Personen können sowohl geringe als auch beträchtliche homosexuelle Erlebnisse aufweisen. Doch überwiegt in jedem Fall die heterosexuelle Erfahrung, die sie in der gleichen Zeitspanne haben. Gewöhnlich werden sie sich ihrer ganz spezifischen Erregung durch homosexuelle Stimuli bewußt, ihre Reaktionen gegenüber dem anderen Geschlecht sind jedoch noch immer stärker. Einige dieser Personen können sogar ihre sämtlichen tatsächlichen Erlebnisse auf homosexuellem Gebiet haben, doch zeigen ihre psychischen Reaktionen auf Personen des anderen Geschlechts, daß sie überwiegend heterosexuell sind.”
„3. Personen, die unter 3 eingeordnet werden, stehen auf der heterosexuell-homosexuellen Skala in der Mitte. Sie sind in ihrer tatsächlichen Erfahrung und (oder) ihren psychischen Reaktionen in ungefähr gleichem Ausmaß homosexuell wie auch heterosexuell. Im allgemeinen akzeptieren und genießen sie beide Arten von Kontakt im gleichen Maß und haben keine ausgesprochene Präferenz weder für die einen noch für die anderen.”
„4. Personen werden unter 4 klassifiziert, wenn ihre tatsächlichen Betätigung und (oder) psychische Reaktion auf homosexuellem Gebiet überwiegt, während sie jedoch noch immer ein kleineres Ausmaß heterosexueller Betätigung und (oder) definitiver Reaktion auf heterosexuelle Stimuli aufweisen.”
„5. Personen werden unter 5 aufgeführt, wenn sie in ihren offenen Betätigungen und (oder) Reaktionen fast ausschließlich homosexuell sind. Sie können gelegentlich Erlebnisse mit dem anderen Geschlecht haben und reagieren zuweilen psychisch auf Individuen des anderen Geschlechts.”
„6. Individuen werden als 6 gewertet, wenn sie ausschließlich homosexuell sind, sowohl in bezug auf ihre physischen Erlebnisse wie auch im Hinblick auf ihre psychischen Reaktionen.”
Soweit Kinseys Erläuterung der Klassifikation. Es dürfte deutlich geworden sein, daß eine gewisse Schwierigkeit der siebenstufigen Skala darin besteht, daß in ihr sowohl die tatsächliche Triebbefriedigung, sozusagen der wirklich gehabte Sex, als auch bloße Vorstellungen, Wünsche und so weiter erfaßt werden. Kinsey selbst erwähnt (S. 597) männliche Jugendliche, die „den tatsächlichen Geschlechtsverkehr mit Mädchen noch nicht gewagt haben, obwohl sie in ihrer Orientierung definitiv heterosexuell sind”. Man kann sich weitere Beispiele ausdenken, bei denen die Häufigkeit einer bestimmten Praxis mit der psychischen Orientierung sehr weit auseinander tritt. Es gibt männliche Prostituierte, die lange Zeit ausschließlich Sex mit Männern haben, obwohl sie, wie man so sagt „eigentlich auf Frauen stehen”. Und es gibt schwule Männer, die — beispielsweise weil sie aus Gründen der Tarnung oder des Selbstbetrugs geheiratet haben — nur Heterosexualität praktizieren, obwohl, wenn sie täten, wie sie wollten, lieber Sex mit Männern hätten.
Kinsey hebt übrigens ausdrücklich hervor (S. 601), „daß die Wirklichkeit eine Kontinuität ist, in der der Mensch nicht nur diese sieben hier genannten Kategorien einnehmen kann, sondern auch in jede mögliche Gravierung dieser Kategorien eingefügt werden kann.”
Darüber hinaus betont Kinsey, daß die Stufen der heterosexuell-homosexuelle Zuordnungsskala nur etwas über das Verhältnis der heterosexuellen oder homosexuellen Betätigung und (oder) Reaktionen beim jeweils klassifizierten Individuum aussagen, nichts jedoch über die absolute Häufigkeit von Betätigungen und (oder) Reaktionen. So könnte zum Beispiel auch der Ehemann, der dreimal die Woche mit seiner Frau verkehrt, hingegen nie in seinem Leben Sex mit einem Mann hatte, aber immer und immer wieder davon phantasiert, dieser Ehemann also könnte mit einem Wert weit über 0 klassifiziert werden. Kinsey selbst sagt dazu (S. 598), daß „die Einstufung einer Person auf einer Bewertung der relativen Wichtigkeit des Physischen und Psychischen in seiner Vergangenheit” erfolgen müsse.
Man sieht also, daß die Zuordnungsskala, trotz des Versuches, sie so objektiv wie möglich zu gestalten, immer noch ein Moment des Subjektiven innewohnt. Ehrlich gesagt, finde ich persönlich das recht sympathisch, weil es dem an naturwissenschaftlichen Methoden geschulten Blick des Biologen etwas von der in den Sozial- und Kulturwissenschaften aus Erkenntnisgründen notwendigen Trübung verleiht.

Kinseys Ergebnisse
Ich möchte Ihnen nun einige der Zahlen vorlesen geben, die Alfred Kinsey 1948 über die Verbreitung der Homosexualität publizierte (S. 602 f.).
„37 Prozent der gesamten männlichen Bevölkerung haben zumindest einige physische homosexuelle Erlebnisse bis zum Orgasmus zwischen Pubertät und Greisenalter. Dies bedeutet nahezu zwei von fünf Männern.”
„50 Prozent der Männer, die bis zum Alter von 35 ledig bleiben, haben vom Beginn der Pubertät an physisch homosexuelle Erlebnisse bis zum Orgasmus.”
„13 Prozent der Männer reagieren erotisch auf andere Männer ohne tatsächliche homosexuelle Kontakte nach Beginn der Pubertät zu haben.”
„30 Prozent aller Männer haben zumindest einzelne homosexuelle Erlebnisse oder Reaktionen (Werte 1-6) über eine Periode von mindestens drei Jahren zwischen dem Alter von 16 und 55 Jahren. Es handelt sich also um einen von drei Männern, die die frühen Jahre der Pubertät überschritten haben.”
„25 Prozent der männlichen Bevölkerung haben mehr als einzelne Erlebnisse oder Reaktionen (Werte 2-6) über mindestens drei Jahre zwischen dem Alter von 16 bis 55 Jahren. In Durchschnittszahlen heißt das, daß etwa einer von vier Männern derart deutliche und fortgesetzte homosexuelle Erlebnisse entweder gehabt hat oder haben wird.”
„18 Prozent der Männer haben mindestens genau so viele homosexuelle wie auch heterosexuelle Erlebnisse in ihrer Geschichte (Werte 3-6) über mindestens drei Jahre im Alter von 16 bis 55 Jahren. Dies ist mehr als einer von sechs in der weißen männlichen Bevölkerung.”
„13 Prozent der Bevölkerung weisen stärkere Homosexualität als Heterosexualität auf (Werte 4-6) über mindestens drei Jahre im Alter von 16 bis 55 Jahren. Das bedeutet einer von acht aus der weißen männlichen Bevölkerung.”
„10 Prozent der Männer sind mehr oder weniger ausschließlich homosexuell (Werte 5 oder 6) durch mindestens drei Jahre im Alter von 16 bis 55 Jahren. Das ist einer von zehn der weißen Bevölkerung.”
„8 Prozent der Männer sind ausschließlich homosexuell (Wert 6) durch mindestens drei Jahre im Alter von 16 bis 55 Jahren, das heißt einer von dreizehn Männern.”
„4 Prozent der weißen Männer sind ihr ganzes Leben hindurch ausschließlich homosexuell (nach Beginn der Pubertät).”
Angesichts dieser für manche Moralapostel alle Gewißheiten erschütternden Zahlen fühlte sich Kinsey wohl verpflichtet, auch eine für in diesem Sinne erfreuliche Nachricht als gesicherte Erkenntnis vorzustellen (S. 584): „Es steht außer Zweifel, daß es Männer gibt, die nie irgendwelche Kontakte mit einem anderen Mann gehabt haben und sich auch niemals einer erotischen Erregung durch andere Männer bewußt geworden sind.” Damit wies Kinsey ausdrücklich die Behauptungen mancher seiner Auskunftspersonen zurück, die aus eigener Erfahrung sagen zu können meinten, die Verbreitung der männlichen Homosexualität betrage 100 Prozent.

Konsequenzen und Reaktionen
Man kann sich vorstellen, welche Entrüstung die von Alfred Kinsey präsentierten Zahlen vor fünfzig Jahren hervorriefen. Wahrscheinlich findet es heute in den westlichen Industriegesellschaften kaum noch jemand besonders unglaubwürdig, daß vier Prozent der Männer ausschließlich schwul sind und daß mehr als ein Drittel aller Männer homosexuelle Erfahrungen hat. Im Gegenteil, auch ohne neue empirische Untersuchungen wird man zugestehen, daß die Zahlen heutzutage angesichts gewisser Wandlungen der Sexualmoral sogar noch höher liegen könnten.
1948 freilich waren Kinseys Forschungsergebnisse wirklich skandalös. Schon das eine Promill an Homosexuellen, das die Musterungsbehörden der US-Streitkräfte damals ermittelt zu haben glaubten, galt vielen als Übertreibung oder moralisches Desaster. Nun aber sogar 4 Prozent ausschließlich homosexuelle Männer und nur 50 Prozent, die in ihrem Leben keinerlei physische und (oder) psychische Erlebnisse mit dem eigenen Geschlecht hatten! Unvorstellbar!
War man hingegen bereit, die Daten des Kinsey-Reports zu akzeptieren, war also Homosexualität sehr viel verbreiteter, als man angenommen hatte, so brachte das ungeheuerliche Konsequenzen mit sich. Schließlich hatten Moraltheologen, Ethiker, Kriminologen, Soziologen, Ärzte, Psychologen, Psychiater und Psychoanalytiker hoch und heilig versichert, homosexuelle Betätigung sei sündhaft, lasterhaft, unreif, verbrecherisch, volksschädigend, ungesund und krank. Wenn aber die Homosexualität tatsächlich irgendwo zwischen Unmoral und Krankheit angesiedelt war, dann war mindestens jeder dritte erwachsene Mann unmoralisch oder krank, war die US-amerikanische Gesellschaft, zumindest was ihren männlichen und damit den dominanten Teil betraf, moralisch verkommen oder psychisch und (oder) physisch schwer angeschlagen, gleichsam mit Homosexualität verseucht.
Kinsey selbst sah die Schlußfolgerungen, zu denen Forschungsergebnisse führen mußten, sehr wohl, wenn er sie auch sehr zurückhalten formuliert (S. 610): „In Anbetracht der jetzt vorliegenden Daten über Verbreitung und Häufigkeit der Homosexualität und insbesondere über ihre Koexistenz neben der Heterosexualität im Leben eines großen Teiles der männlichen Bevölkerung ist es schwierig, die Ansicht aufrecht zu erhalten, daß psychosexuelle Reaktionen zwischen Individuen des gleichen Geschlechts selten und deshalb anormal oder unnatürlich sind oder daß sie in sich selbst einen Beweis für Neurosen oder Psychosen darstellen.” Kinsey geht sogar so weit, hinzuzufügen. „Wenn die homosexuelle Betätigung in einem derart großen Ausmaß anhält, wie das gegenwärtig der Fall ist, trotz der starken öffentlichen Einstellung gegen sie und trotz der schweren Strafen, die unsere anglo-amerikanische Kultur ihr durch die Jahrhunderte hindurch auferlegte, scheint einiger Grund für die Annahme zu bestehen, daß eine derartige Betätigung in den Geschichten eines viel größeren Teils der Bevölkerung auftreten würde, wenn es keine gesellschaftlichen Beschränkungen gäbe.” Kinsey bekennt sich darüber hinaus zu der Annahme, „daß die Veranlagung eines Individuums, erotisch auf irgendwelche Stimuli zu reagieren, ob sie nun von Personen des gleichen oder des anderen Geschlechts ausgehen, grundsätzlich in den Arten verankert ist”. Kinsey gibt die Möglichkeit zu bedenken, daß heterosexuelle und homosexuelle Verhaltensweisen erlernt und damit kulturell geprägt sein könnten, und er fordert, diese Möglichkeit unbedingt einzubeziehen, „bevor die Auffassung akzeptiert werden kann, daß die Homosexualität erblich ist und daß die Verhaltensweisen jedes Menschen als angeboren so festgelegt sind, daß keinerlei Modifizierungen während seines Lebens zu erwarten sind”.
Kinseys Worte waren damals, 1948, ebenso spektakulär wie couragiert. Selbstverständlich riefen sie Widerstand hervor. Es kann hier nur angedeutet werden, wie die Verteidiger der gesunden Tugendhaftigkeit auf die Herausforderung durch den Kinsey-Report reagierten.
Zunächst einmal wurde das von Kinsey und seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zusammengetragene Material neu interpretiert und die Verbreitungs- und Häufigkeitszahlen wurden immer wieder neu berechnet, wobei sie sich wunderbarerweise stets nach unten verschoben. Zum anderen begann man zu differenzieren. Im Grunde blieb nur die katholische Moraltheologie bei ihrer Auffassung, homosexuelle Betätigung sei homosexuelle Betätigung und damit sündhaft, basta. Mediziner und Psychologen hingegen führten verschiedene Formen von sozusagen „uneigentlicher” Homosexualität ein, beispielsweise die Homosexualität als Durchgangsstadium bei Jugendlichen oder als Notbehelf in Situationen, die heterosexuelle Triebbefriedigung erschweren. Übrig blieb somit lediglich ein harter Kern von ausschließlich Homosexuellen, gewissermaßen die „eigentlichen” Homosexuellen, bei denen sich dann nur noch die Frage stellte, ob man sie strafrechtlich und (oder) psychiatrisch verfolgen oder aber sie als Vertreter einer Spielart der menschlichen Sexualität einfach in Ruhe lassen sollte, solange sie niemanden belästigten oder gar verführten.
In jedem Fall zielten die Bemühungen vieler Expertinnen und Experten dahin, Kinseys bahnbrechende Entdeckung zu verwässern. Kinsey selbst hatte die hellsichtige Auffassung vertreten (S. 596): „Männer setzen sich nicht aus zwei bestimmten Gruppen zusammen, der heterosexuellen und der homosexuellen. Die Welt läßt sich nicht in schwarze und weiße Schafe aufteilen; denn nicht alle Dinge sind schwarz oder weiß. Es ist ein Grundsatz der Taxonomie [Klassifizierung von Lebewesen, Anm.], daß die Natur selten getrennte Kategorien aufweist. Nur der menschliche Geist führt Kategorien ein und versucht, die Tatsachen in bestimmte Fächer einzuordnen. Die lebende Welt ist allen ihren Aspekten eine Kontinuität. Je eher wir uns dieser Tatsache in bezug auf die menschliche Verhaltensweise bewußt sind, desto eher werden wir zu einem gesunden Verständnis der Realitäten gelangen.”

Zwischen schwarz und weiß
Alfred Kinseys eben zitierte philosophisch abgeklärte Sicht der Dinge hat ein bemerkenswertes Gegenstück in einer Fußnote, die Sigmund Freud derjenigen seiner — auf ihrem Gebiet ebenfalls bahnbrechenden und zu ihrer Zeit als unglaubwürdig zurückgewiesenen — „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” aus dem Jahre 1905 hinzufügte, die sich mit den sogenannten „Sexuellen Abirrungen” befaßt. 1915 ergänzte Freud den Text über die von ihm auch Inversion genannte Homosexualität mit unter anderem folgenden Sätzen (Freud, S. 48): „Die psychoanalytische Forschung widersetzt sich mit aller Entschiedenheit dem Versuche, die Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe von den anderen Menschen abzutrennen. Indem sie auch andere als die manifest kundgegebenen Sexualregungen studiert, erfährt sie, daß alle Menschen der gleichgeschlechtlichen Objektwahl fähig sind und dieselbe auch im Unbewußten vollzogen haben. Ja die Bindung libidinöser Gefühle an Personen des gleichen Geschlechts spielen als Faktoren im normalen Seelenleben keine geringere und als Motoren der Erkrankung eine größere Rolle als die, welche dem entgegengesetzten Geschlecht gelten. Der Psychoanalyse erscheint vielmehr die Unabhängigkeit der Objektwahl vom Geschlecht des Objekts, die gleich freie Verfügung über männliche und weibliche Objekte, wie sie im Kindesalter, in primitiven Zuständen und frühhistorischen Zeiten zu beobachten ist, als das Ursprüngliche, aus dem sich durch Einschränkung nach der einen oder anderen Seite der normale wie der Inversionstypus entwickeln. Im Sinne der Psychoanalyse ist also auch das ausschließliche sexuelle Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Selbstverständlichkeit, der eine im Grunde chemische Anziehung zu unterlegen ist.”
Auch wenn das Wort in diesem Zitat nicht vorkommt, so ist doch unverkennbar, worauf Freud mit der Wendung „gleich freie(n) Verfügung über männliche und weibliche Objekte” anspielt. Es geht um sein von seinem Kollegen und Freund Wilhelm Fliess übernommenes Konzept der „Bisexualität”.
Ohne dieses Konzept hier angemessen erörtern zu können, soll doch immerhin soviel gesagt werden, daß es dabei um die Annahme geht, nachdem „jedes menschliche Wesen angeborene, zugleich männliche und weibliche Anlagen (hat), die sich in den Konflikten des Subjekts, sein eigenes Geschlecht anzunehmen, wiederfinden” (Laplanche/Pontalis, S. 106). Die psychische Bisexualität hat, so war Freud überzeugt, ihre Grundlage in der biologischen Bisexualität: „(…) bei keinem normal gebildeten männlichen oder weiblichen Individuum werden Spuren vom Apparat des anderen Geschlechts vermißt” (Freud, zitiert nach Nagera, S. 100).
Reformuliert man nun auf eine stark vereinfachende Weise Sigmund Freuds Auffassung anhand von Alfred Kinseys heterosexuell-homosexuellen Zuordnungsskala, so könnte man sagen: Ursprünglich haben alle Menschen, zumindest was ihr Unbewußtes betrifft, den Wert 3 oder mehr und erst im Verlauf ihrer psychischen Entwicklung verteilen sich die Individuen auch auf alle anderen Klassen.
Nicht einmal ein halbes Jahrhundert trennt Freuds am Kopfende der Analyse-Couch gewonnene Einblicke von Kinseys umtriebiger Feldforschung. Beide trugen etwas dazu bei, das herkömmliche Verständnis der menschlichen Sexualität grundlegend zu verändern. In diesem Sinne könnte man die Bedeutung des Kinsey-Reports vor allem darin sehen, der Vorstellung, alle Menschen oder doch fast alle seien sozusagen von Natur aus heterosexuell und nur ganz, ganz wenige betätigten sich homosexuell, die empirische Grundlage entzogen zu haben. Anders gesagt: Nicht alles ist schwarz oder weiß, es gibt viele Grautöne; nicht alle Menschen sind ausschließlich „hetero” oder ausschließlich „homo”, sondern gar nicht so wenige sind auf die eine oder andere Weise „bi”.
Tatsächlich befaßt sich Alfred Kinsey ausdrücklich mit dem Begriff der Bisexualität. Er schreibt (S. 606): „Da nur 50 Prozent der Bevölkerung als Erwachsene ausschließlich heterosexuell sind und nur vier Prozent der Bevölkerung während ihres gesamten Lebens ausschließlich homosexuell sind, scheint es, daß sich fast die Hälfte der Bevölkerung als Erwachsene (46 Prozent) sowohl heterosexuell als auch homosexuell betätigt oder auf Personen beiderlei Geschlechts reagiert. Der Terminus bisexuell wurde zumindest auf Teile dieser Gruppe angewandt.” Und Kinsey, ein an exakte Definitionen gewöhnter Naturwissenschaftler, fügt hinzu: „Leider wurde der Terminus in der Art, in der er zur Anwendung gelangte, niemals strikt abgegrenzt und folglich weiß man nicht, ob er sich auf alle Personen der Klasse 1 bis 5 bezieht oder nur auf eine kleinere Anzahl von Kategorien beschränkt, etwa um die Klasse 3 herum.”
Kinseys Problem mit der engeren oder weiteren Definition von Bisexualität wird noch dadurch erheblich erschwert, daß nicht klar ist, ob damit bloß das Vorkommen von sowohl heterosexueller wie homosexueller Betätigung und (oder) Reaktion gemeint sein soll, oder ob es bisexuelle Menschen gibt — wie man ja auch davon spricht, jemand ein Heterosexueller oder Homosexueller.
Nun ist Kinsey grundsätzlich der Auffassung (S. 574): „Es würde dem klaren Denken (…) förderlich sein, wenn man Individuen nicht als heterosexuell oder homosexuell charakterisieren würde, sondern als Menschen, die ein gewisses Ausmaß an heterosexuellen Erfahrungen und ein gewissen Ausmaß an homosexuellen Erfahrungen aufweisen. Statt diese Termini als Substantive oder Adjektive zu benützen, die an die Stelle der Individuen treten, wäre es besser, sie zur Beschreibung der Art offenkundiger sexueller Beziehungen oder der Stimuli, auf die eine Person erotisch reagiert, anzuwenden.” Kinsey selbst, so muß man leider sagen, hält sich nicht immer an diesen vernünftigen Grundsatz und spricht sehr wohl davon, jemand sei hetero- bzw. homosexuell, statt bloß zu sagen, jemand betätige sich so und so oder werde von dem und dem stimuliert.
Folgt man hingegen Kinseys Grundsatz, nicht Individuen, sondern Beziehungen, Stimuli und Aktivitäten zu benennen, beschränkt man sich also auf das, was man konkret wahrnehmen oder erfragen kann und vermeidet überflüssige Rückschlüsse auf bestimmte psychische Konstitutionstypen, so macht der Ausdruck „bisexuell” tatsächlich wenig Sinn. Eine Handlung oder ein Stimulus kann als heterosexuell oder homosexuell bezeichnet werden, je nach dem Geschlecht der beteiligten Personen, sie kann aber schwerlich bisexuell, also sowohl hetero- wie auch homosexuell sein — es sei denn in Grenzfällen wie unübersichtlichen Gruppensexaktivitäten oder der Stimulation durch den Anblick eines gemischtgeschlechtlichen Paares und ähnlichem.
Kinsey hält aber von der Anwendung des Ausdrucks „bisexuell” auf Individuen, die sowohl heterosexuelle Betätigungen und (oder) Reaktionen als auch homosexuelle aufweisen, auch deshalb nicht viel, weil er darin einen Mißbrauch eines biologischen Begriffes sieht (s. 607): „(…) die ursprüngliche Bedeutung des Wortes und die Art, in der es gewöhnlich angewandt wird, sagt aus, daß diese Personen sowohl maskuline als auch feminine Eigenschaften in einem Körper aufweisen.” Kinsey möchte es nun dabei belassen, daß bisexuell weiterhin „zugleich männlich und weiblich” bedeutet, statt es auch „zugleich heterosexuell und homosexuell” bedeuten zu lassen. Als streng wissenschaftlich denkender Forscher lehnt Kinsey es ab, Verhalten und Konstitution umstandslos aufeinander zu beziehen, also beispielsweise die homosexuelle Betätigung eines Mannes mit dessen in keiner Weise nachgewiesenen anatomisch-physiologischen Weiblichkeit oder Teilweiblichkeit zu begründen.
Kinsey kann also auf den Begriff Bisexualität verzichten, weil ihm zur Beschreibung dessen, wofür er sich interessiert, nämlich überprüfbare Tatsachen, die Begriffe Heterosexualität und Homosexualität völlig ausreichen. Andererseits ist ihm schmerzlich bewußt, daß er mit seiner Forderung nach begrifflicher Präzision nicht reüssieren wird, denn er schreibt (S. 608): „Zweifellos wird der Terminus von den Forschern auf dem Gebiet der menschlichen Verhaltensweise und in der Öffentlichkeit im allgemeinen wegen seiner weiten Verbreitung weiterhin verwendet werden. Er sollte jedoch mit dem Wissen darum verwendet werden, daß er nach den Worten heterosexuell und homosexuell geprägt wurde, sich wie diese auf das Geschlecht des Partners bezieht und bezüglich der Konstitution der als bisexuell bezeichneten Person nichts aussagt.”

Bisexualität heute
Alfred Kinseys Voraussage ist eingetroffen: Die Bezeichnung „bisexuell” für Personen, die sowohl heterosexuelle wie homosexuelle Betätigungen und (oder) Reaktionen aufweisen, hat sich durchgesetzt. Kinseys Warnung oder Bitte jedoch wurde nicht beachtet: Bisexualität bezieht sich — wie eben Heterosexualität oder Homosexualität auch — keineswegs bloß konkret feststellbare Handlungen oder Empfindungen, sondern sehr wohl auch auf die Konstitution des Subjekts, daß da handelt oder empfindet.
Ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen des ersten Kinsey-Reports ist die Situation in den westlichen Industriezivilisationen, also Gesellschaften wie der, die Kinsey untersucht hatte, paradox.
Einerseits ist im Gefolge der weiten Verbreitung von vulgärpsychologischen Konzepten auch der psychoanalytische Bisexualitätsbegriff zum Allgemeingut geworden; die Vorstellung, daß im Grunde jeder Mensch sowohl zu heterosexuellen wie homosexuellen Handlungen und Gefühlen im Stande ist, wird von vielen Menschen problemlos akzeptiert. Darüber hinaus darf auch ohne empirische Untersuchung angenommen werden, daß in einer Zeit, die zumindest in weiten Bereichen weit weniger rigiden Moralisierungen unterworfen ist als das Amerika Alfred Kinseys, daß also hier und heute ausschließliche Heterosexualität und ausschließliche Homosexualität jede auf ihre Weise minoritär sind und die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung sich auf die eine oder andere Weise bisexuell verhält. Andererseits kommt Bisexualität und kommen Bisexuelle in der Öffentlichkeit nicht vor; jedenfalls nicht häufiger und nicht anders als bestimmte andere Abweichungen von der heterosexuellen Normalität.
Orientiert man sich an dem, was Film und Fernsehen, Literatur und Musik so darstellen, so sind nahezu alle Menschen heterosexuell und nur ein paar wenige schwul oder lesbisch. Ausnahmen wie beispielsweise der eine oder andere mit Androgynität kokettierende Popstar bestätigen die Regel. Einen bisexuellen Lebensstil jedenfalls gibt es nicht.
Egal, ob man ein Buch in die Hand nimmt oder eine Videocassette einlegt, ob man die Zeitung aufschlägt oder Radio hört, ob man ins Kino geht oder vor dem Fernseher sitzt: überall und immer geht es fast ausschließlich um Heterosexualität. Nun verwundert es nicht gerade, daß die ausschließliche Homosexualität außerhalb ihrer Nischen weitgehend aus der kulturellen Repräsentation ausgeschlossen bleibt — das Ausschließliche wird eben ausgeschlossen. Daß hingegen das, was, wenn schon nicht alle, so doch sehr, sehr viele, praktizieren, also die Bisexualität, zu keinerlei eigenständigem öffentlichem Ausdruck gelangt, ist schon bemerkenswert.
Eine Erklärung dafür kann wohl in der Stabilität der Geschlechterdifferenz selbst gefunden werden. Wo zwei und nur zwei Geschlechter ungeachtet aller Wandlungen ihrer jeweiligen Interpretation einander gegenüberstehen, gibt es sozusagen auch nur drei mögliche Kombinationen vergeschlechtlichter Körper: Mann-Frau, Frau-Frau, Mann-Mann. Die Kombination mag von Situation zu Situation wechseln; der Bezugsrahmen aber, sozusagen das geschlechtliche Koordinatensystem, innerhalb dessen man sich in einer gegeben Situation orientieren muß, bleibt gleich: Mann oder Frau.
In diesem Sinne ist Bisexualität keine sexuelle Orientierung, sondern der Übergang von der einen sexuellen Orientierung zur anderen. Geradezu undenkbar ist es darum, daß sich männliche und (oder) weibliche Bisexuelle zu mehr oder minder kämpferischen Vereinigungen zusammenschließen, die das Ende einschlägiger Diskriminierung und die Gleichberechtigung mit den anderen Lebensweisen forderten. Genau das aber haben bekanntlich Schwule und Lesben mehr oder weniger erfolgreich getan; und weil die männlichen und weiblichen Homosexuellen bekanntermaßen freundliche Menschen sind, ist es in schwul-lesbischen Organisationen üblich geworden, nicht bloß von sich zu reden, sondern als benachteiligte Minderheit die „Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender” zu bezeichnen. Indem Homo-, Bi- und Transsexuelle eine imaginäre Gemeinschaft bilden, erweist sich ihre Gemeinsamkeit als Abgrenzung. Homosexuell, bisexuell, transsexuell — mit einem Wort: nicht oder nicht richtig heterosexuell.
Demzufolge wäre praktizierte Bisexualität kein Sowohl-als-auch, sondern ein Weder-noch. Für die immer noch benachteiligten Schwulen und Lesben sind bisexuelle Männer und Frauen keine vertrauenswürdigen Koalitionspartner, weil sie ebenso gut auch Agenten und Agentinnen der herrschenden Heterosexuellen sein könnten. Für diese aber sind Bisexuelle wiederum nicht akzeptabel, weil sie ja doch mehr oder minder denen zugehören, die der gesellschaftlichen Diskriminierung unterliegen. In dieser Situation ist das bisexuelle Subjekt, sofern es sich überhaupt je als solche begreifen wollte, unnachgiebig dazu aufgefordert, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Nicht unbedingt dazu, das eine zu tun und das andere zu lassen, sondern vor allem dazu, sich über alles Tun und Lassen hinweg möglichst eindeutig zu definieren und identifizieren zu lassen. Ich bin zwar dies, muß es dann heißen, aber hin und wieder habe ich Lust auf jenes; ich habe also eine mehr oder minder stabile sexuelle Identität, die mich, unabhängig von meinen kontingenten Handlungen, ausmacht.

Grau in Grau
Alfred Kinsey wollte das seiner Meinung viel zu undifferenzierte Dreier-Schema „Heterosexualität, Homosexualität, Bisexualität” durch seine das sexuelle Kontinuum repräsentierende siebenstufige Skala ersetzt wissen. Unter dem Druck der gesellschaftlich-kulturellen Verhältnisse jedoch erweist sich selbst das Dreier-Schema noch als zu komplex: Heterosexualität, Homosexualität, basta.
Diese Vereinheitlichung und Normierung der repräsentierbaren sexuellen Orientierungen hat eine bemerkenswerte Konsequenz. Angenommen, die Verbreitungs- und Häufigkeitszahlen homosexueller Triebbefriedigung, die Kinsey für die Vereinigten Staaten ermittelt hatte, besäßen heute, fünfzig Jahre später nur noch Erinnerungswert. Angenommen, noch weit mehr Männer und weit mehr Frauen als damals hätten in ihrem Leben homosexuelle Erlebnisse; und zwar Erlebnisse, die aufgrund der veränderten Sexualmoral und des gesteigerten Selbstbewußtseins weit häufiger als früher befriedigend, ja sogar beglückend wären. Angenommen also, das, was man so „Bisexualität” nennt, sei eine gesellschaftliche Massenpraxis, dann stellt sich die Frage, wieso das System der Zwangsheterosexualität noch immer weitgehend unangefochten ist. Ungeheuerlicherweise wären es dann gar nicht oder nicht nur die „eigentlichen” Heterosexuellen, die dieses System aufrecht erhielten, sondern vor allem die Teil- und Gelegenheitsheterosexuellen bzw. eben Teil- und Gelegenheitshomosexuellen.
Das macht sogar Sinn. Denn wer etwas an sich selbst verdrängen oder unterdrücken muß, ist gern bereits, dafür Sorge zu tragen, daß auch weiterhin allgemein verdrängt und unterdrückt wird. Und weil die Beinahe-Heterosexuellen außerdem am eigenen Leibe erfahren, daß Nicht-Heterosexuelles nicht nur verdrängt und unterdrückt wird, sondern tatsächlich auch praktiziert, kann selbst die Tatsache der Verdrängung und Unterdrückung noch einmal verdrängt und unterdrückt werden.
Einen Beleg für diese wohl nicht uninteressanten Thesen könnte man in dem Umstand erblicken, daß denjenigen, die sich selbst nicht als ausdrücklich schwul oder lesbisch betrachten, häufig nicht verstehen, worin das System der Zwangsheterosexualität, also das Verdrängen und Unterdrücken denn eigentlich bestehen soll. Es geht dabei nämlich nicht bloß um straf- und zivilrechtliche Benachteiligungen, obwohl auch diese lästig sind. Es geht auch nicht um Gewalt gegen Schwule und Lesben, um offene oder versteckte Diffamierungen, um den Mangel an selbstbestimmten Freiräumen und das Fehlen materieller Mitteln, diese Freiräume zu gestalten. All das und manch anderes ist gewiß Unrecht und muß benannt und bekämpft werden. Aber in gewisser Weise handelt es sich dabei eher um sekundäre Effekte.
Die Heterosexualität ist nicht deshalb die vorherrschende Lebensweise, weil sie mit Gewalt und Heimtücke erzwungen würde; die heterosexuelle Hegemonie wird viel mehr mit gleichsam zwanglosen Mitteln durchgesetzt, erhalten und reproduziert. Das Wesen der Zwangsheterosexualität besteht darin, die eigene selbstverständliche Ausschließlichkeit über jede konkrete Infragestellung durch widersprechende Praktiken hinweg als strukturierendes Prinzip zu behaupten. Das Andere kommt, wenn überhaupt, nur als Anderes des einen Einen vor. Homosexualität ist das Gegenstück der Heterosexualität, Bisexualität ihre nicht ganz vollständige Fassung und Transsexualität der Wechsel von einer Heterosexualität zur anderen.
Alfred Kinsey — der, wie manche zu wissen meinen, obwohl Ehemann und Vater, selbst homosexuell war — meinte, nicht alle Dinge seien schwarz oder weiß. Auch ich behaupte nicht, es gebe keine Grautöne. Ich sehe die Dinge nur so, daß das Schwarz, das als reines kaum sichtbar ist, sich alle Graustufen unterordnet und als Varianten seiner selbst ausgibt. Das Weiß ist dann nur dazu da, diese Abstufungen möglich zu machen. Schwarz ist so gesehen das Prinzip des grauen Kontinuums.

 

Dieser Vortrag wurden am 21. Oktober 1999 im Kurs „Partnerschaft und Beziehungkrisen” der Volkshochschule Favoriten gehalten.


ZITIERTE LITERATUR

Kinsey, Alfred C.: Das sexuelle Verhalten des Mannes, Frankfurt a. M. 1970 (Taschenbuchausgabe; urspr. 1963)
Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frankfurt a. M. 1991 (Taschenbuchausgabe; urspr. 1905/1915)
Haeberle, Erwin J.: Alfred C. Kinsey, in: Lautmann, Rüdiger (Hg.): Homosexualität, Frankfurt a. M. 1993, S. 230-238
Laplanche, J./ Pontalis, J-B.: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1973 (Taschenbuchausgabe; urspr. 1972; frz. 1967)
Nagera, Humberto (Hg.): Psychoanalytische Grundbegriffe, Frankfurt a. M. 1977 (engl. 1969)

 
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