Muss man Hubert Fichte gelesen haben? PDF Drucken E-Mail

„Ich kann mir die Freiheit, wenn ich ehrlich bin, nur als eine gigantische, weltweite Verschwulung vorstellen.“ — Versuch einer Annäherung eines Lesers an das Werk des 1986 verstorbenen Schriftstellers Hubert Fichte, der am 21. März 2010 fünfundsiebzig Jahre alt geworden wäre. [Eine Version dieses Textes erschien unter dem Titel „Muß man? Hätte er?" in Gigi Nr. 66 (März/April 2010).]

Von Stefan Broniowski

Man könnte über Hubert Fichte schreiben, wie man eben über Schriftsteller schreibt. Man könnte die Einflüsse, die Wirkungen, den literarischen Rang benennen. Man könnte Titel und Inhaltsangaben aneinanderreihen. Man könnte Erfolge und Misserfolge schildern und beklagen, dass die Texte heutzutage viel zu wenig gelesen werden. Das könnte man. Ich will es hier aber ausnahmsweise persönlich angehen. Das erlaube ich mir jetzt mal. Damit es aber nicht zu persönlich zugeht, mische ich Zitate darunter — um ein Montageverfahren kommt man ja wohl bei an einer Annäherung an Hubert Fichte und sein Werk ohnedies nicht herum.*

„Das literarische Werk Hubert Fichtes fordert dazu auf, die globale Welt nicht nur von Europa aus zu denken. (…) Bald findet sich der Leser in einem Fischerdorf in Portugal, bald auf der Djemma el Fna in Marrakesch oder in einem psychiatrischen Krankenhaus in Dakar wieder, bald in einem Cadomblé- oder Vaudou- Tempel in Salvador der Bahia oder in Port-au-Prince oder in den schwarzen Vierteln von Miami und New York. Die Reisen an die fernen Orte — viele davon in einer Zeit, als der Massentourismus noch in den Kinderschuhen steckte und meist am Mittelmeer endete — wechseln mit Reisen in die fremden Regionen des eigenen Landes, in die Palette, eine Kellerkneipe der Beatniks in Hamburg, in das Palais d’Amour auf St. Pauli und damit in das Milieu der Prostituierten, Stricher und Bordellbesitzer oder in die im Sparatcus Guide verzeichneten Klappen, Kinos und Saunen — also in die Subkultur der Schwulen und all derer, die von der Norm der Heterosexualität abweichen.“ (Peter Braun)

Als ich mit Anfang zwanzig Hubert Fichtes Texte zu lesen begann, war ihr Autor schon tot und auch die Zeit, über die und aus der er geschrieben hatte, war nicht nur chronologisch vorüber. Fichtes öffentliches Leben beginnt ja noch vor der Entkriminalisierung der männlichen Homosexualität in der BRD und endet kurz nach dem ersten Höhepunkt der AIDS-Hysterie. Soll man sagen, er habe Glück gehabt, habe die seit der Antike wohl beste Zeit in der Geschichte mitbekommen, um auf Männer zu stehen, das nach Herzenslust auszuleben und auch noch darüber zu schreiben? Das Bedrohliche, aber auch Verführerische des Verbotes noch zu erlebt zu haben, an den wilden Aufbrüchen in alle Richtungen beteiligt gewesen zu sein und dabei die Kommerzialisierung und Verspießerung noch zu bemerken: Was könnte für einen Liebenden und Schreibenden, dessen Thema und Methode die „Verschwulung“ ist, wünschenswerter sein?
Derlei aber ist Geschichte. Kann man sich einen Hubert Fichte im heutigen Mief der LBGT community überhaupt vorstellen? Hätte er, heute denkbar als rüstiger Mittsiebziger, gegen die Entpolitisierung, den Konsumismus, die unerträgliche Selbstgerechtigkeit rebelliert? Und wie? Wäre er konsequent zur Pädophilie oder zum Sex mit Tieren übergegangen? Zur Nekrophilie? Zur Asexualität?
Das sind so Fragen die ich mir heute stelle, die aber mit den ersten Lektüreerfahrungen selbstverständlich nichts zu tun haben. Die übrigens, obwohl ich seit über zwei Jahrzehnten immer wieder Texte von und über Fichte lese, von heutigen Lektüreerlebnissen so verschieden nicht sind, die sich immer noch, trotz aller Veränderungen um Einzelnen, im Großen und Ganzen um dieselben beiden Begriffe gruppieren lassen: Faszination und Befremdlichkeit.

Ich werde mit Hubert Fichtes Texten nicht fertig. Sie ziehen mich an und stoßen mich ab. Die Sekundärliteraturen verschlimmern nur das Problem. Vieles ist erklärbar, aber nur die Lektüre selbst — und was ist Schreiben als eine andere Weise des Lesens? — kommt an das Unerklärliche heran.

„Ein derartig vielgestaltiges und dynamisches Werk, das zudem auf einer komplexen Ästhetik beruht, macht es für Leser schwierig, einen Einstieg zu finden. Die Barriere ist sehr hoch. Durch die hohe Dichte der Anspielungen und Bezügen und verweisen auf andere Texte bleiben Lesen nach ihrer ersten Lektüre oftmals ratlos zurück. Auch ist in vielen Fällen ein bestimmtes Hintergrundwissen notwendig, um die literarische Gestaltung Fichtes nachvollziehen zu können. Das Vergnügen, Fichte zu lesen, wächst in dem Maße, in dem man sich als Leser in dieses Netz aus Bezügen verstricken lässt.“ (Peter Braun)

Befremdlich ist und bleibt für mich Fichtes Stil. Das Lakonische, Schmucklose, kunstvoll Ungekünstelte. Oft bietet er nur kurze, einfache Sätze, häufig nur eine Aneinanderreihung von Wörtern, manchmal bloß von Namen. Und dann das: Für eine Satz einen ganzen Absatz, manchmal sogar nur für ein einziges Wort. Was für eine Papierverschwendung!, dachte ich als  junger Leser. Anders gesetzt wäre viele Bücher Fichtes viel dünner. Und was spricht denn eigentlich so sehr gegen Adjektive und Nebensätze?
Erst kürzlich habe ich, Youtube sei Dank, zum ersten Mal Hubert Fichtes Stimme gehört, nämlich einen winzigen Ausschnitt aus dem legendären Auftritt im Hamburger „Starclub“, bei dem Fichte aus dem damals noch unveröffentlichten Roman „Die Palette“ las — ein, wie es immer heißt, geschickter Reklame-Einfall seines damaligen Lektors bei Rowohlt Fritz J. Raddatz., mit dem nicht wenig zur medialen Aufmerksamkeit und zum späteren Verkaufserfolg des Werkes beigetragen worden sei.
Fichtes Stimme also. Was hatte ich erwartet, was mir vorgestellt? Nichts eigentlich, und doch hat mich die zuweilen so unüberhörbare hamburgische Einfärbung überrascht. Hamburg war ja zeitlebens sozusagen Fichtes Heimathafen, der Ort, von dem er aufbrach und an den er von all seinen Reisen zurückkehrte.
Erklärt das also vielleicht die Lakonie? Aber einen maulfaulen Fischkopp kann man Fichte doch nun wirklich nicht nennen. Ich weiß das, ich habe einige Jahre lang (davon neun, ohne es zu ahnen, gar nicht so weit von Fichte entfernt) unter wortkargen Norddeutschen gelebt. Und auch wenn mir, dem Südosteuropäer, die heitere Eloquenz und das barocke Übermaß leiblich näher liegt, so höre ich aus Fichtes Sprechweise eben doch noch etwas anderes heraus, etwas das mir Germanisten auf dem Papier längst vorexerziert hatten, das ich aber dann doch endlich einmal hören musste, um es zu verstehen: Fichtes Texte sind Evokationen, magische Beschwörungen, Nennungen von Namen, um die Dinge und Personen anzurufen und sie so, wenn nicht dem Körper, so doch dessen Äquivalent, dem Text, einzuverleiben.

Faszinierend an Fichte finde ich, wovon er fasziniert ist: Männer, Außenseiter, Randständige, Überschreitungen, Rituale, Grenzerfahrungen, aufgeladene Orte, Fremdheit. Faszinierend ist, wie Fichte die Formen von Romanen, Reportagen, Essays, Glossen, Interviews aufgreift, neu erfindet, verwebt und ineinander übergehen lässt.

„(In den auf „Das Waisenhaus“ folgenden Romanen) wird nicht nur die offene, fragmentarische Form des Erzählens beibehalten, es finden sich auch immer häufiger reflexive Passagen, in denen Sprache und Erzählen ausdrücklich thematisiert werden. Darin verdichtet sich, dass Fichte die Sprache niemals nur als Mittel oder Instrument begreift, mit dem er eine Geschichte erzählen kann. Die Sprache ist für ihn vielmehr ein Material, mit dem er die erzählte Welt immer erst erschafft.“ (Peter Braun)

Befremdlich und unverständlich ist und bleibt für mich Fichtes Bisexualität. Kann ich mir nicht vorstellen. Bei niemandem. Sowas gibt es gar nicht. Man lebt schwul oder lässt es bleiben. Mit Frauen vögeln gilt nicht.

Faszinierend finde ich Fichtes Konzept der „Verschwulung“, das, wenn ich es recht verstanden habe, mehr oder minder mit dem der „Empfindlichkeit“ (Empfindsamkeit, Sensibilität) zusammenfällt, dem Versuch also, sich unter Einsatz der ganzen Existenz, also auch es Körpers, offen zu machen für Erfahrungen und diese auch schreibend zu verarbeiten. Fichte habe sich, so heißt es, gewünscht, mit allen Männern dieser Welt zu schlafen. Vielleicht würde ich wohl nicht gehen wollen. Aber den Anspruch fasziniert mich. Er stammt aus einer Zeit, als Schwulsein noch keine Identität unter anderen war, keine Stammeszugehörigkeit, keine Konsumvariante, kein tödlich langweiliger Konformismus.

Hubert Fichte lebte und schrieb in einer Zeit, in der man noch schwul und politisch sein konnte. Und das in Verbindung mit umfassender Bildung und radikaler Sensibilität.

Über eine Reise nach Ostberlin schreibt Fichte:
Mich haben die S-Bahn, der Übergang Friedrichstraße, der Alexanderplatz nicht beeindruckt, die Ölfelder, der Stacheldraht, die kleine Mauer.
Ich erwartete nicht anderes von der Staatsmacht.
Ich war kein politischer Mensch.
Ich hatte vom Staat nur Entrechtung erfahren.
Die Drohung mit dem KZ bis zum zehnten Lebensjahr, weil ich Halbjude war.
Die Drohung mit dem Zuchthaus, weil ich schwul war.
Staat, das konnten nur Mauern, Maschinengewehre, Stacheldraht sein.
Was mich beeindruckte in Ostberlin waren die Straßen ohne Verkehr.
Als sei ich aus dem Technischen Zeitalter Walter Höllerers mit der S-Bahn über eine Mauer in das siebzehnte Jahrhundert von Andreas Gryphius gefahren.


Hubert Fichte muss man nicht gelesen haben. Hubert Fichte muss man lesen. Den Unterschied nennt man Literatur.


* Wer sich für Hubert Fichtes durchaus bemerkenswerte Biographie interessiert, bekommt im Internet rasch unter www.hubertfichte.de und ww.prignitzlexikon.de einen ersten Eindruck. Eine der besten Einführungen in Leben und Werk ist meiner Meinung nach Peter Brauns „Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte“ (Frankfurt a.M. 2005); dort finden sich auch eine Werkliste und kommentierte Hinweise auf Sekundärliteratur.

 
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