Für mich existiert Marx nicht |
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Der vor fünfzehn Jahren verstorbene französische Philosoph Michel Foucault wäre am 15. Oktober 73 Jahre alt geworden. — Sein Werk durchzieht, laut Pierre Bourdieu, ein „Dialog mit Marx”.
Von Stefan Broniowski
Als im Jahre 1975 der damals schon sehr bekannte französische Philosoph Michel Foucault auf dem Weg zu einer der ungezählten Protestaktionen und Demonstrationen, die in den 70er Jahren einen nicht unbedeutenden Teil seines politischen Engagements ausmachten, von einem jungen Mann darauf angesprochen wurde, ob er, Foucault, nicht vor seiner, des jungen Mannes, politischer Organisation über Marx sprechen wolle, explodierte Foucault: „Man höre mir doch nur ja mit Marx auf! Ich will nie mehr von diesem Herren reden hören. Wendet euch an die, deren Beruf das ist. Die dafür bezahlt werden. Die auf diesem Gebiet Funktionäre sind. Ich selbst bin mit Marx vollkommen fertig.” Dieser Ausbruch markiert wohl den Tiefpunkt von Foucaults Verhältnis zu Marx und dem Marxismus. Über das Anekdotische hinaus verweist er auf eine typisch Foucaultsche Schwierigkeit: Wie über „Marx” sprechen, ohne sich schon durch die bloße Teilnahme am einschlägigen Diskurs der Herrschaft der marxistischen Institutionen zu unterwerfen?
Eine vernünftige Lehre „Als ich in der Kommunistischen Partei war, schien der Marxismus mir eine vernünftige Lehre zu sein.” — Michel Foucault, der aus einer bürgerlich-katholischen Familie des Poitou stammte, trat im Alter von 24 Jahren der Kommunistischen Partei Frankreichs bei. Er war zu diesem Zeitpunkt Student der École Normale Superieur, einer der französischen Elite-Hochschulen, und sein Eintritt erfolgte sowohl unter dem Eindruck des politischen und intellektuellen Klimas dieser Zeit als auch unter dem Einfluß seiner Mitstudierenden und Lehrer. Auch wenn an den Universitäten damals vor allem Hegel und Phänomenologie gelehrt wurde und man in den Cafés und Zeitschriftenredaktionen vornehmlich den Existentialismus diskutierte, besaß die KPF unter den Intellktuellen eine beherrschende Stellung und dem meisten galt der Marxismus längst als der „unüberschreitbare Horizont unserer Zeit” (Jean-Paul Sartre). In einem Rückblick ein Vierteljahrhundert später meinte Foucault: „Für viel unter uns, die wir junge Intellektuelle waren, stellte das Interesse für Nietzsche oder Bataille keine Form der Distanzierung vom Marxismus oder Kommunismus dar. Es bedeutete im Gegenteil die einzige Möglichkeit der Kommunikation oder des Übergangs zu dem, was wir vom Kommunismus erwarten zu dürfen glaubten. Diese Forderung nach totaler Ablehnung der Welt, in der wir zu leben hatten, wurde natürlich nicht durch die Hegelsche Philosophie erfüllt. Andererseits waren wir auf der Suche nach anderen intellektuellen Wegen, um eben dort anzulangen, wo etwas völlig anderes Gestalt anzunehmen oder zu existieren schien: das heißt der Kommunismus. So kam es, daß ich mich, ohne Marx genau zu kennen, aber den Hegelianismus ablehnend und mich hinsichtlich der Begrenztheiten des Existentialismus unbehaglich fühlend, der Kommunistischen Partei beizutreten entschloß. Das war im Jahr 1950: damals ‘Nietzscheanischer Kommunist’ zu sein! Eine Sache, die wirklich nah an der Grenze des ‘Lebbaren’ und, wenn man will, auch etwas lächerlich war; das wußte ich selbst.”
Ein wilder Antikommunist Schon 1953 tritt Foucault, der niemals ein besonders aktives Parteimitglied gewesen war, aus der KPF wieder aus. Als Grund nennt er später sein Unbehagen wegen der Drehungen und Wendungen der Partei anläßlich der (stark antisemitisch getönten) angeblichen Ärzte-Verschwörung kurz vor Stalins Tod. Sein Lehrer und Freund, der Philosoph Louis Althusser — „In der Philosophie Kommunist sein heißt marxistisch-leninistischer Philosoph sein. Es ist nicht leicht, marxistisch-leninistischer Philosoph zu sein.” —, weiß jedoch noch von einem anderen Grund. Gefragt, warum Foucault die Partei verlassen habe, antwortet er: „Wegen seiner Homosexualität.” Angesichts des damaligen rigiden Moralismus der Partei der Arbeiterklasse ist das nicht unwahrscheinlich. Übrigens gerät Foucault fünf Jahre später, er ist gerade als französischer Kulturattaché in Warschau tätig, nochmals in Konflikt mit der proletarischen Moral bzw. realsozialistischen Staatssicherheitsbehörden. Einer seiner Liebhaber entpuppt sich als Polizeispitzel, Foucault muß Polen von einem Tag auf den anderen verlassen. Auf diese beiden Erfahrungen also spielt Foucaults Biograph, Didier Eribon an, wenn er sagt: „Seit er die Kommunistische Partei verlassen und seit er in Polen gelebt hat, hat Foucault einen wilden Haß auf alles entwickelt, was auch nur, von fern oder nah, an den Kommunismus erinnerte.” Aber daß Foucault ein „wilder Antikommunist” (Eribon) war, resultiert keineswegs aus persönlichem Ressentiment, sondern erstens aus seiner Abscheu vor den Verbrechen des Stalinismus und zweitens aus seiner Abneigung gegen jede Vereinnahmung des Denkens durch autoritäre Orthodoxien. „Was ich mir wünsche, (...) ist Marxens Befreiung von der Parteidogmatik.”
Das letzte Bollwerk der Bourgeoisie Als Michel Foucaults Texte begannen, in der Öffentlichkeit Furore zu machen, wurde gegen sie und ihren Autor nicht nur seitens der Medien der KPF ausgiebig polemisiert, sondern auch Jean-Paul Sartre, Meisterdenker des Existentialismus und „letzter Marxist” (Foucault), fühlte sich bemüßigt, die Dialektik, die Geschichte und das Proletariat gegen den um eine Generation jüngeren Konkurrenten zu verteidigen: „Gezielt wird auf den Marxismus. Es handelt sich um darum, eine neue Ideologie zu konstituieren, das letzte Bollwerk, das die Bourgeoisie noch gegen Marx errichten kann.” Foucaults lakonische Erwiderung: „Arme Bourgeoisie, wenn sie nur mich als Bollwerk hätte, hätte sie ihre Macht längst verloren.” Auch später hat es nicht an Versuchen gefehlt, Foucault ins rechte Eck zu stellen, man denke nur an Habermas Foucault-Ettikettierung als „Jungkonservativer" .Tatsächlich spricht nichts in Foucaults praktischen Engagement oder seiner Theoriebildung für solche Zuordnungen — außer eben, daß er sich „hagiographischen Verherrlichung” verweigert: „Ich zitiere häufig Begriffe, Sätze, Texte von Marx, ohne mich allerdings verpflichtet zu fühlen, das Zitat als solches auszuweisen, die Quelle in einer Fußnote anzugeben und dem Zitat eine anerkennende Reflexion hinzuzufügen. Nur wenn man dies tut, wird man als Marxkenner und Marxverehrer angesehen und von den sogenannten marxistischen Zeitschriften in Ehren gehalten. Ich aber zitiere Marx, ohne es zu sagen und ohne Anführungszeichen zu setzen. Da die Marxisten nun nicht im Stande sind, Marxtexte zu erkennen, gelte ich als einer, der Marx nicht zitiert. Verspürt denn ein Physiker das Bedürfnis, Newton oder Einstein ausdrücklich zu zitieren? Er verwendet sie einfach und braucht keine Anführungszeichen, keine Fußnoten und keine Lobrede, die seine Treue gegenüber dem Denken des Meisters unter Beweis stellt. und da die anderen Physiker wissen, was Einstein getan, was er erfunden, bewiesen hat, nehmen sie es ohne viel Aufhebens zur Kenntnis. Man kann heute nicht Historiker sein, ohne eine Reihe von Begriffen zu verwenden, die direkt oder indirekt mit dem Denken von Marx verknüpft sind, und ohne sich in einem Horizont zu bewegen, der von Marx beschrieben oder definiert worden ist.”
Benutzen, verzerren, mißhandeln Wie also? Einerseits muß man laut Foucault als Historiker geradezu Marxist sein, andererseits sagt er: „Für mich existiert Marx nicht. Ich meine diese Art von Entität, die man um einen Eigennamen herum konstruiert hat, der sich mal auf ein Individuum, mal auf die Gesamtheit dessen, was er geschrieben hat, und mal auf den gewaltigen historischen Prozeß, der sich von ihm herleitet, bezieht (...)” Foucaults Weigerung, einen Autor zu zitieren, dessen Werk er schlicht voraussetzt, hat etwas mit dem Kult und dem Mißbrauch zu tun, der von anderen getrieben wird, geht also nicht auf Ambivalenz oder gar Ablehnung zurück, sondern ist eine theoriepolitische Strategie: „Ich könnte viele Passagen heraussuchen — was völlig uninteressant ist —, viele Passagen, die ich mit Bezug auf Marx geschrieben habe, und wenn Marx nicht der Autor gewesen wäre, der eine derartige Rolle gespielt und ein derartiges Übergewicht gehabt hat, hätte ich ihn in den Fußnoten zitiert.” Wahrscheinlich gilt für Foucaults Umgang mit Marx also dasselbe wie für seinen Umgang mit Nietzsche: „Was mich betrifft, ich benutze die Leute, die ich mag. Die einzige Anerkennung, die man einem Denken wie dem Nietzsches bezeugen kann, besteht darin, daß man es benutzt, verzerrt, mißhandelt und zum Schreien bringt. Ob einem die Kommentatoren Treue bestätigen oder nicht, ist völlig uninteressant.”
Dialog mit Marx Pierre Bourdieu kann also durchaus recht haben, wenn er meint, Michel Foucaults Werk werde sehr wohl von einem „Dialog mit Marx” durchzogen. In einem seiner zahlreichen Interviews erwähnte Foucault ausdrücklich „einen Satz von Marx: Der Mensch erzeugt den Menschen. Wie ist das zu verstehen? Meiner Ansicht nach ist das, was erzeugt werden soll, nicht der Mensch, so wie ihn die Natur vorgezeichnet hat oder wie sein Wesen es vorschreibt; wir haben etwas zu schaffen, das noch nicht existiert und von dem wir nicht wissen können, was es sein wird.” Wie man sieht, kann sich Foucault sogar für seine These vom „Tod des Menschen” auf Marx berufen. Eine Denkfigur, die im Verlauf der Geschichte entstanden ist, kann auch wieder verschwinden. Anders als Hegelianismus, Phänomenologie, Existentialismus und gewisse „humanistische” Marxismen, die um die Kategorie der Entfremdung kreisen, weist Foucault die Annahme zurück, es sei das Subjekt, das Welt und Sinn erst hervorbringe. „Die Frage lautet: Kann man sagen, daß das Subjekt die einzige mögliche Existenzform ist? Kann es nicht auch Erfahrungen geben, in deren Verlauf das Subjekt nicht mehr gegeben wäre in seinen konstitutiven (Welt und Sinn stiftenden, Anm.) Funktionen, in dem was es an Identischem-mit-sich hat? Gäbe es also nicht Erfahrungen, in denen das Subjekt sich auflösen, das Verhältnis zu sich zerbrechen, seine Identität verlieren könnte?” Solche Erfahrungen hat Foucault gesucht und gefunden — als Privatperson, aber auch als Autor. „Der Wert von Foucaults Werk liegt eher in dem, was verändert, als in dem, was er hervorbringt.” (Jeremy R. Carrette) „Anders Denken” und „Anders-Leben” gehörten für Foucault zusammen. In diesem Sinne dürfte er Marxens elfte Feuerbach-These durchaus beherzigt haben.
Volksstimme 41, 14. Oktober 1999 |
Grundsätzliches zur „Homo-Ehe“ |
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Es beginnt für gewöhnlich mit einer Unwahrheit. Homosexuelle, so heißt es, seien Heterosexuellen gegenüber benachteiligt, weil sie nicht heiraten dürften. Tatsächlich aber gibt es, jedenfalls vor der Einführung der „Homo-Ehe“ in keiner je bekannt gewordenen Rechtsordnung irgendwelche Bestimmungen, die die Möglichkeit, die Erlaubnis oder das Verbot einer Eheschließung ausdrücklich an eine bestimmte sexuelle Orientierung der Heiratswilligen knüpfen. Anders gesagt, kein Paragraph hat je gefordert, man müsse heterosexuell sein, um heiraten zu dürfen. Entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil besteht also im Hinblick auf das Recht zu heiraten keine Benachteiligung von Homosexuellen gegenüber Heterosexuellen. Heterosexuellen war es stets genau so wenig möglich, eine Person gleichen Geschlechts zu heiraten, wie Homosexuellen. Insofern nämlich die Ehe nie anders verstanden wurde denn als rechtliche Verbindung von Mann und Frau, war nicht die sexuelle Orientierung, sondern das Geschlecht, genauer: die Verschiedengeschlechtlichkeit der Eheleute das Kriterium. Erst der Wunsch mancher Homosexueller, eine Ehe mit einem (oder einer) anderen Homosexuellen einzugehen, trägt die sexuelle Orientierung in den Ehebegriff ein. Tatsächlich gibt es unzählige Beispiele von Menschen, die, nach wessen Begriffen auch immer, heute für gewöhnlich als homosexuell gelten und die sehr wohl verheiratet waren (oder sind). Wenn man Beispiele braucht: Aus dem Bereich der Literatur fallen mir sofort Oscar Wilde, W.H. Auden und Yukio Mishima ein. (Ob die Gründe der Eheschließungen gut oder schlecht waren und ob es sich um gute oder schlechte Ehen handelte — wer hätte, genauso wie bei nichthomosexuellen Verheirateten, darüber zu richten außer den Beteiligten selbst?) Nicht Homosexuelle also werden vom herkömmlichen Eherecht benachteiligt, sondern allenfalls Paare aus zwei Männern (oder zwei Frauen) gegenüber Paaren aus Mann und Frau. Das aber verschiebt die Thematik. Denn üblicherweise gelten Paare nicht als Träger von Rechten. Es ist also etwas ganz anderes, wenn mit „Homosexuelle dürfen nicht heiraten“, was streng genommen falsch ist, eigentlich „Paare von Homosexuellen dürfen nicht heiraten“ gemeint ist, was freilich für gleichgeschlechtliche Paare von Heterosexuellen genauso gilt. Während es, um es nochmals zu sagen, falsch ist, zu behaupten, das Homosexuelle nach herkömmlichem Recht nicht heiraten dürfen, ist es richtig, dass Lebensgemeinschaften von zwei Männern (oder zwei Frauen) herkömmlicherweise nicht denselben Rechtsstatus erlangen können wie Lebensgemeinschaften von einem Mann und einer Frau (oder, in bestimmten Rechtsordnungen, eines Mannes und mehr als einer Frau oder einer Frau und mehr als einem Mann). Allerdings gibt es viele Formen der Lebensgemeinschaft, die nicht verrechtlicht und rechtlich nicht anerkannt sind. Menschen leben keineswegs nur paarweise miteinander und nicht alle Paare, die eine Lebensgemeinschaft haben, sind durch Liebe oder Sex verbunden. Das Besondere an der Paarbeziehung zweier homosexueller Männer (oder zweier homosexueller Frauen) ist in diesem Zusammenhang jedoch, das sie analog gedacht wird zur Paarbeziehung eines heterosexuellen Mannes und einer heterosexuellen Frau. Diese wird als das schlechthin gültige Modell von Paarbeziehung überhaupt gesetzt und mit hohem symbolischen Wert aufgeladen, wobei als Krönung der Verbundenheit und Verbindlichkeit die Eheschließung gilt. Absurderweise, muss man sagen, denn die zunehmende Verklärung der Ehe steht in krassem Widerspruch zu zunehmenden Scheidungsraten. Keineswegs ist die Ehe realistischerweise noch eine auf Lebenszeit eingegangene Verbindung. Man gibt sich viel mehr das Versprechen, zusammen zu bleiben und einander beizustehen, in dem Bewusstsein, sich bei Schwierigkeiten jederzeit trennen zu können. Seit unvordenklicher Zeit galten Ehen vor allem als Rechtsgeschäft — und zwar eher als solche zwischen zwei Familien denn bloß zwischen zwei Einzelpersonen, weshalb übrigens das Arrangieren von Ehen nichts mit Zwangsverheiratung zu tun hatte, sondern mit ökonomischer (oder politischer) Vernunft. Die Liebe der Eheleute zueinander bildete nicht die Voraussetzung, sondern ein wünschenswertes Ergebnis des Zusammenlebens. Die Ehe als Ausdruck romantischer Liebe hingegen ist, wie diese selbst, eine sehr junge Erfindung. Und heute absolut hegemonial geworden. Wobei bemerkenswerterweise weniger tatsächlich gelingendes Zusammenleben entscheidend für die Beliebtheit der Ehe zu sein scheint (da man sich im Fall des Scheiterns ja scheiden lassen kann), sondern der bloße Fakt der Eheschließung selbst. Der Hochzeitstag wird nach festen Regeln als „schönster Tag“ imaginiert; wobei man sich fragen darf, wie eine Ehe wohl aussieht, die ihren Höhepunkt schon am Anfang hatte … Selbstverständlich ist die Ehe aber nach wie vor auch Rechtsinstitut und mit bestimmten rechtlichen und wirtschaftlichen Privilegien verbunden. Und selbstverständlich geht es bei der Forderung, auch Homosexuelle (nämlich: homosexuelle Paare) müssten heiraten dürfen, auch um diese Privilegien, genauer: um die Ausweitung dieser Privilegien von Partnerschaften von Heterosexuellen auf Partnerschaften von Homosexuellen, betreffe dies nun das Erb-, Miet- oder Steuerrecht. Dass wirtschaftlichen Aspekte vor allem dort eine Rolle spielen, wo Einkommen hoch und Vermögen groß sind, sei nur am Rande vermerkt. Von erheblicher Bedeutung können freilich auch bestimmte Rechte im Krankheits- oder Todesfall sein — Auskunfts- und Besuchsrechte etwa oder die Entscheidung über lebensverlängernde Maßnahmen oder Organentnahmen. Die Verbindung von symbolischem Wert („unsere Partnerschaft ist genauso gut“) und juridisch-ökonomischer Funktion („unsere Partnerschaft soll sich genauso auszahlen“) kennzeichnet den Diskurs über die „Homo-Ehe“. Dabei sind zwei grundsätzlich verschiedene Politiken zu unterscheiden. Zum einen die Schaffung besonderer Rechtsinstitute, die der Ehe mal mehr, mal weniger entsprechen (zum Beispiel „registrierte Partnerschaft“ oder „Zivilpakt“). Oder die Schaffung der Möglichkeit für Paare aus zwei Männern oder zwei Frauen, eine vollgültige Ehe einzugehen. Letzteres als „Ehe-Öffnung“ zu bezeichnen, ist übrigens irreführend. Die Ehe wird hier nicht, wie der Ausdruck suggerieren soll, für Homosexuelle geöffnet, denen sie ja, wie oben dargelegt, gar nicht verschlossen war. Vielmehr wird der Begriff von Ehe, der in keiner Rechtsordnung je anders denn als Verbindung von Mann und Frau verstanden wurde, neu definiert. Statt von „Öffnung“ wäre also besser von „Neudefinierung“ der Ehe zu sprechen. Doch so oder so, ob nun „Homo-Ehe“ im engeren Sinne (eheähnliche Rechtsform) oder im weiteren (Ehe für Paare aus zwei Personen gleichen Geschlechts), entscheidend ist, ob diese rechtlichen Neuordnungen nur für Homosexuelle gelten oder auch für Heterosexuelle. Im ersten Fall wird Sonderrecht geschaffen — und also Ungleichheit gerade nicht beseitigt —, nur im zweiten Fall geht es tatsächlich um Rechtsgleichheit. Noch deutlicher gesagt: Dürfen zwei Männer (oder zwei Frauen) einander nicht heiraten (oder sich miteinander „verpartnern“), weil sie nicht homosexuell sind, schafft die angebliche „Gleichbehandlung“ von Homosexuellen in Wahrheit neue Ungleichheit. |
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Warum ich Nichtwähler bin |
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Allein schon, dass alle Welt will, dass man wählen gehe, ist doch wohl höchst verdächtig. Geh wählen, geh wählen, geh wählen, tönt es von überallher. Geh wählen, heißt es, egal was, Hauptsache, du wählst überhaupt. Wählen gehen sei wichtig, heißt es. Das glaube ich auch. Wählen gehen stärke die Demokratie, heißt es. Auch das glaube ich. Gerade deshalb bin ich ja dagegen. Als Nichtwähler macht man sich im real existierenden Demokratismus nicht beliebt. Nichtwähler werden als passive Ignoranten, als faule Verweigerer, als überzählige Mitbürger betrachtet, die den anständigen und fleißigen Wählern und Wählerinnen politisch auf der Tasche liegen und am Wahltag, der bekanntlich Zahltag ist, ihren notwendigen Beitrag nicht leisten. Pfui. Wer nicht wählt, der soll eigentlich gar nicht existieren. Dass man auch Nichtwähler sein kann, ohne politisch desinteressiert und inaktiv zu sein, darf nicht wahr sein. Wer nicht wählt, hat einen Defekt. Der kann vielleicht mit Verdrossenheit entschuldigt werden, bleibt aber ein Übel, das besser beseitigt würde. Nichtwählen aus Überzeugung aber, wo gibt’s denn so was! Wahlen gelten als Kernbestandteil der Demokratie, und die Demokratie ist die Heilige Kuh (um nicht zusagen: das Goldene Kalb) der kapitalistischen Gesellschaft. Wer Demokratie nicht toll findet und nicht als die einzig vernünftige und erstrebenswerte Regierungsform anhimmelt, ist mehr als verdächtig. Der ist draußen. Nur Nazis und Kommunisten und solches Gesocks sind keine Demokraten. (Wobei man verdrängt, dass Hitler von der „germanischsten Demokratie“ schwärmte und die Bolschewisten ihre Gewaltherrschaft als „demokratischen Zentralismus“ betitelten.) Undenkbar, dass man auch aus guten Gründen gegen Demokratie, so wie sie ist, etwas haben könnte. Also sage auch ich nicht etwa, ich sei Antidemokrat, sondern bezeichne mich als Demokratiekritiker. Das stimmt allerdings auch in der Sache, denn ich will nicht ja weniger als Demokratie, sondern mehr. Als Anarchist sähe ich gerne das an demokratischen Systemen, was an ihnen noch Herrschaft von Menschen über Menschen ist, überwunden. Wenn man also unter radikaler Demokratie verstehen kann, dass alles, was ihn betrifft, von jedem Mündigen mitbestimmt wird, dann bin ich radikaler Demokrat.
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Viktor Pelewin: Tolstojs Albtraum |
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Ein phantastisches Buch! Wäre es Jahrzehnte früher erschienen und hätte ich es als Jugendlicher gelesen, hätte es mich wohl ähnlich beeinflusst, wie es „Königrufen“ von Peter Marginter oder „1984“ von George Orwell taten. (Und in meiner Kindheit all die Märchen und Sagen und unter anderem Jan Brzechwas „Akademie des Meister Klecks“. Oder, wesentlich später, „Naked Lunch“ und anderes von Burroughs.) Es hätte mich in meiner Neigung bestärkt, die Unwirklichkeit der Wirklichkeit und die Wirklichkeit des Traumhaften und Wunderbaren für entscheidender zu halten als all das, was alle Welt für wirklich und wichtig zu halten scheint. Anders gesagt, es hätte mich verwirrt zurückgelassen und mich womöglich Verwirrtheit (oder vielmehr: Unglauben an die Unverwirrtheit der anderen) als angemessenes Weltverhältnis begreifen gelehrt. Aber auch so ist es mir zu einem wundervolles Lektüreerlebnis geworden! Viktor Pelewin gelingt es in „Tostojs Albtraum“ — das Buch heißt im russischen Original schlicht „T“ —, Romanhandlung und philosophischen Diskurs, russische Geistesgeschichte und Momente von action und suspense (und erstaunlich wenig sex) zu verschränken, ja miteinander zu durchdringen. Es stehen so Szenen von verblüffender Komik neben Passagen mit unerwartetem Tiefsinn. Das ergibt eine ebenso unterhaltsame wie anregende Lektüre, jedenfalls für solche, die Sinn für derartige Herausforderungen haben. Übrigens können, auch wenn die deutsche Ausgabe mit hilfreichen Anmerkungen versehen ist, ein paar Kenntnisse in russischer Geschichte, Literatur, Politik und Religionsphilosophie nichts schaden, wenn man möglichst viele Anspielungen und Kontexte verstehen will, sie sind aber, vermute ich, keineswegs zwingend erforderlich, um an dem komplexen, aber nicht komplizierten Buch vielfältigen und nachhaltigen Gefallen zu finden Für jemanden wie mich jedenfalls, der eine gewisse Anhänglichkeit an das alte, das vorrevolutionäre Russland hat, ist schon das Ambiente des Romans ein Vergnügen. Dass dann auch noch wirklich und wahrhaftig Tolstoj, Dostojewski und Solowjow als handelnde und denkende Figuren auftreten, steigert den Genuss ins Aberwitzige. Zumal die Handlung herrlich belanglos und verschlungen ist — und hier darum auch nicht nacherzählt werden soll oder kann. „Tolstojs Albtraum“ ist, so viel sei immerhin warnend verraten, auch und vielleicht sogar vor allem ein Roman übers Schreiben von Romanen und, mehr noch, über das Lesen eben dieses Romanes, den man gerade liest. Manche mögen dafür das Etikett „postmodern“ benötigen. Ich würde eher sagen, es ist erzählende Literatur auf der Höhe ihrer Möglichkeiten, so, wie sie bei Cervantes und Sterne begann, zugegebenermaßen weniger dicht und schwer als bei Proust, Joyce, Mann, Musil e tutti quanti, aber angereichert um die Erfahrung von Groschenromanen, Comicheften, Kinofilmen und Fernsehserien. Hier ist, einmal mehr in der Literaturgeschichte, das bewundernswerte Kunststück gelungen, Parodie und Original ununterscheidbar werden zu lassen. Mit „Tolstojs Albtraum“ habe ich jetzt zum ersten Mal (und mit großem Genuss!) ein Buch des, wie ich höre, ungemein erfolgreichen Viktor Pelewin, gelesen. Ich vermute sehr, es wird nicht mein letztes bleiben.
Viktor Pelewin: Tolstojs Albtraum, München (Luchterhand Literaturverlag) 2013, übersetzt von Dorothea Trottenberg. [russ. 2009] |
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