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„Ja das ist meine Melodie“. Über Bruno Balz PDF Drucken E-Mail

Am 6. Oktober 1902 wurde Bruno Balz geboren. Denn kennen Sie nicht? Aber Sie kennen garantiert seine unverwüstlichen Schlagertexte.

Wer kennt sie nicht, die von Zarah Leander, Heinz Rühmann, Ilse Werner, Hans Albers, Evelyn Künneke u.v.a.m. gesungenen Schlager: „Kann den Liebe Sünde sein“, „Er heißt Waldemar“, „Der Wind hat mir ein Lied erzählt“, „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn“, „Davon geht die Welt nicht unter“, „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“, „Ich brech die Herzen der stolzesten Fraun“, „Berlin, die ewig Junge Stadt“, „Das gibt es nur in Texas“, „Sing, Nachtigall, sing“, „Es liegt was in der Luft“, „Wir wollen niemals auseinander gehn“ …
Weniger bekannt ist der Mann, der die Texte dieser Schlager (und vieler anderer mehr) verfasste. Er hieß Bruno Balz und wurde vor einhundert Jahren, am 6. Oktober 1902 in Berlin geboren. Über seine frühen Jahre ist wenig bekannt. Eine kaufmännische Lehre brach er ab und widmet sich der Schriftstellerei. Seine ersten Texte erschienen in den „Lustigen Blättern“ und dem „Acht-Uhr-Blatt“. Bis 1932 arbeitete Balz dann im Verlag Friedrich Radszuweit, der unter anderem „Das Freundschaftsblatt“, die „Blätter für Menschenrechte“ und „Die Insel. Magazin der Einsamen“ herausgab — Homosexuellen-Zeitschriften, für die Balz zahlreiche Beiträge schrieb. Zusammen mit Hermann Dressler verfasste Balz damals übrigens auch die erste schwule Detektiv-Geschichte: „Till Mark“.
Bruno Balz war überhaupt, soweit das unter den Bedingungen einer massiven gesellschaftlichen Diskriminierung möglich war, ein selbstbewusster Schwuler. Schon als 18-Jähriger hatte er Magnus Hirschfeld kennengelernt, den Sexualwissenschaftler und Vorkämpfer für die Reform des Sexualstrafrechts. Später war Balz auch mit Adolf Brandt gut bekannt, dem Publizisten und Photographen, der in der Nachfolge Stirners und Nietzsches Anarchismus und Männlichkeitskult verband. Bruno Balz war in der hauptstädtischen Schwulenszene der Weimarer Republik kein Unbekannter.

„Mir ist so komisch zumute, ich ahne und vermute: Es liegt was in der Luft.“
Aber schwules Selbstbewusstsein hin oder her: Es galt der § 175, also das Totalverbot der männlichen Homosexualität, und Bruno Balz musste jederzeit damit rechnen, angezeigt, angeklagt und verurteilt zu werden. Die Bedrohung nahm selbstverständlich nach der „Machtergreifung“ der Nazis 1933 bedeutend zu. Und tatsächlich wurde Balz in den 30er Jahren von einem Hitler-Jungen denunziert, dem er sich unsittlich genähert haben sollte.
Balz wurde festgenommen. Dass er nicht in einem Gestapo-Folterkeller oder einem KZ zu Tode geschunden wurde, verdankte er einer Freundin, dem Ufa-Star Zarah Leander, und einem Freund, dem Filmkomponisten Michael Jary. Die beiden hatten sich bei Goebbels für Balz verwandt und seine Freilassung erwirkt. Jary half damit einem Freund, der ihm zuvor selbst geholfen hatte.
Die Karriere des katholischen Oberschlesiers Max Jarczyk als ernsthafter Komponist war nämlich im Februar 1933 plötzlich zu Ende gewesen, als der NS-Kamfbund für deutsche Kultur seine Musik als „kulturbolschewistisches Musikgestammel eines polnischen Juden“ diffamiert hatte … Jarczyk musste sich fortan unter falschen Namen als Varietékünstler, Arrangeutr und Chansonschreiber verdingen, bis ihm von Bruno Balz eine Stelle als Filmmusiker verschafft wurde. Vom Assistenten brachte es Michael Jary, wie er sich nun nannte, zum selbständigen Komponisten, er schrieb zunächst symphonische Hintergrundmusik und Schlager. Mit „Roter Mohn“ gelang ihm schließlich auch der Durchbruch. Den Text dazu hatte selbstverständlich Bruno Balz geschrieben …
Und nun, als Balz selbst in höchster Not war, setzte Jary aus Dankbarkeit alles auf eine Karte. Er erklärte Goebbels rundheraus, ohne den Textdichter Balz nicht schaffen zu können, was der Propagandaminister verlangte: „Durchhaltelieder“. Dass die deutschen Unterhaltungskomponisten optimistische Schlager schreiben mögen, um so „deutschen Menschen … in forschem und fröhlichen Takt zuzurufen: Kopf hoch, Volksgenossen!“, war immerhin eine Goebbelsche Weisung, die ausdrücklich auf den „persönlichen Wunsch des Führers” zurückging. Jarys gewagte Rechnung ging auf, Balz kam frei.

„Wir lassen uns das Leben nicht verbittern, keine Angst, keine Angst, Rosmarie!“
Aus der Haft entlassen, an deren Folgen er noch lange litt, machte sich Bruno Balz gemeinsam mit Michael Jary an die Arbeit. Tatsächlich gelang ihnen mit dem nicht nur in der Wehrmacht ungeheuer beliebte Lied „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“ ein erster großer Erfolg. Noch erfolgreicher freilich war einige Jahre später der Schlager „Davon geht die Welt nicht unter“.
Bei der obligatorischen Vorführung von Text und Melodie dieses Liedes schien Goebbels nicht richtig hingehört zu haben, jedenfalls gab er es zur Veröffentlichung frei und ordnete sogar an, es nachträglich in den bereits abgedrehten Propaganda-Film „Die große Liebe“ einzufügen. Gesungen wurde es dort von Zarah Leander. Erst später, als der Film bereits in allen Kinos lief und ganz „Großdeutschland“ den Walzer von Jary und Balz sang, dürfte Goebbels dann doch geahnt haben, das da etwas nicht ganz richtig war, aber ohne sich völlig zu blamieren konnte er Film und Lied nicht mehr verbieten lassen.
„Davon geht die Welt nicht unter“ ist nämlich zwar einerseits durchaus der gewünschte fröhlich-forsche Durchhalteschlager, aber andererseits gerade wegen seines an Galgenhumor grenzenden Optimismus auch wieder ganz anders zu verstehen, nämlich als heiter-zynische Absage an den Ewigkeitsanspruch des Dritten Reiches, dessen katastrophales Ende sich an allen Fronten und in den zerbombten Städten abzeichnete. Sich nicht unterkriegen zu lassen, auch wenn der Größenwahn der Machthaber alles in den eigenen Untergang mit hineinziehen will — das ist auch eine Botschaft dieses Liedes.
Bruno Balz jedenfalls war gerettet. Er blieb als wichtiger Mitarbeiter der staatlich gelenkten Unterhaltungsindustrie vor weiteren Nachstellungen verschont. Um sich noch weiter abzusichern, ging er eine Scheinehe ein. Am Ende behielt er dann Recht: Das Dritte Reich, aber nicht die Welt war untergegangen, und er hatte überlebt. Kann man ihm das vorwerfen?
An Bruno Balz wie an alle anderen, die im NS-Kulturapparat tätig waren, kann nämlich selbstverständlich die Frage gerichtet werden, ob sie nicht dazu beitrugen, ein verbrecherisches Regime an der Macht zu halten. Im Fall Balz ergibt sich die Antwort aus den Gegenfragen: Hätte Balz sich lieber umbringen lasssen sollen, statt für die Nazis zu arbeiten? Kann man ernstlich annehmen, dass all die Durchhaltefilme und ihre Durchhalteschlager den Krieg auch nur um einen Tag verlängert haben?

„Ich werde nicht mehr klug aus mir, doch das ist mir egal!“
Balz war kein Täter, kein Mitläufer und er war, was sein gutes Recht war, bemüht, nicht zum Opfer zu werden. Außerdem sollte man, ohne es überzubewerten, auch das widerständige Moment würdigen, das oft in den Balzschen Texten versteckt ist. „Davon geht die Welt nicht unter“ wurde bereits erwähnt. Ein anderer Fall ist „Waldemar“: „Mein Ideal auf dieser Welt, das ist für mich der kühne Held, der große blonde Mann. Er kommt aus einem fernen Land und gibt mir seine starke Hand, die mich zerbrechen kann“, sang bekanntlich die Schwedin Zarah Leander. Und weiter: „So sieht der Mann meiner Träume aus, sein Name ist Ralf oder Per. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus, bitte hören Sie mal her: Er heißt Waldemar und hat schwarzes Haar, er ist weder stolz noch kühn, aber ich liebe ihn ...”
Mitten im Dritten Reich einen großstädtischen schwarzhaarigen Jungen mit womöglich slawischem Namen gegen edle skandinavische Recken auszuspielen, war eine geniale Pointe. Mag sein, dass die Machthaber, von denen ja auch keiner dem offiziellen germanischen Heldenideal ähnlich sah, solche Späße als Ventil zuließen, um die offen zu Tage liegende Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit erträglicher zu machen. Damit waren sie aber zugleich gezwungen, ihre eigene Unzulänglichkeit und die Beschränktheit ihrer Macht zumindest implizit einzugestehen.

„Der Wind hat mir ein Lied erzählt, von einem Glück, unsagbar schön.“
Das besondere Geschick, mit dem Bruno Balz Liedzeilen dichtete, die mehrdeutig lesbar waren, hat sicherlich auch mit seinen Erfahrungen als Schwuler zu tun. Bemerkenswerterweise hat Balz gerade für Zarah Leander, die Sängerin, mit der dunklen, tiefen, männlich konnotierten Stimme, Liebeslieder geschrieben, die nicht nur voller Sehnsucht, Entsagung, stiller Kraft und bitterer Heiterkeit sind, sondern die auch völlig geschlechtsunspezifisch formuliert waren: Ob da eine Frau einen Mann oder ein Mann einen Mann ansingt, ist oft vom bloßen Text her nicht zu entscheiden … Das mag übrigens, neben ihrer starken persönlichen Ausstrahlung, dazu beigetragen haben, dass Zarah Leander zu einer „Schwulen-Ikone“ wurde. „Wenn ich ohne Hoffnung leben müsste, wenn ich glauben müsste, dass mich niemand liebt, dass es nie für mich ein Glück mehr gibt — ach, das wär schwer! … Doch ich weiß mehr: Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen, und dann werden tausend Märchen war. Ich weiß, so schnell kann keine Liebe vergehen, die so groß ist und so wunderbar.“
Für seine Freundin Zarah verfasste Balz auch jenes Lied, das neben dem eben zitierten „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“ geradezu ihr Markenzeichen wurde: „Kann den Liebe Sünde sein?“ Diese Absage an jede religiös-moralische Bevormundung enthält bekanntlich die rebellischen Zeilen: „Niemals werde ich bereuen, was ich tat, und was aus Liebe geschah … Liebe kann nicht Sünde sein. Auch wenn sie es wäre, so wär es mir egal, lieber will ich sündigen mal, als ohne Liebe sein!“ Man wird nicht fehlgehen, wenn man hier ein deutliches Echo von Balz schwulenpolitisch-emanzipatorischem Engagement vor 1933 zu hören vermeint.

„Ich kann nun mal nicht anders, ich muss nun mal so sein!“
Bruno Balz war auch nach 1945 noch ein gefragter Autor. Bis in die 60er Jahre hinein schrieb er eingängige Schlagertexte, die u.a. von Heidi Brühl, Bully Buhlan, Vico Torriani und Heintje interpretiert wurden. Aber auch die Schlager aus den 40ern blieben sehr populär und mancher Interpret von damals kam gern wieder auf Balz zurück.
Evelyn Künneke z.B., die 1941 mit dem swingenden Filmsong „Sing, Nachtigall, sing“ zum Star geworden war, einem Lied, das bei den Soldatensendern nur von „Lili Marleen“ an Beliebtheit übertroffen wurde, machte den Balzschen Text mit der Jaryschen Melodie zu ihrem lebenslangen Markenzeichen.
Und Heinz Rühmann sang 1955 in dem Film „Wenn der Vater mit dem Sohne“ zusammen mit dem kleinen Oliver Grimme das rührende „La-Le-Lu, nur der Mann im Mond schaut zu“, das Ende der 90er Jahre in einer leicht modernisierten Version eine erstaunliche Wiederkehr erlebte und seither aus den deutschen und österreichischen Kinderzimmern als Einschlaflied kaum noch wegzudenken ist.
Bis heute also sind die Bruno Balz getexteten Lieder sehr populär. Ihre Zahl ist Legion, es ist unmöglich, sie hier vollständig aufzuzählen. Gewiss verdanken sie ihre Beliebtheit auch dem Können der beteiligten Komponisten, aber ihre Unverwüstlichkeit hat nicht zuletzt mit der ausdrucksstarken und witzigen Raffinesse der Texte zu tun. So kann man denn abschließend sagen, dass Bruno Balz, den Bedrohungen durch Strafrecht und NS-Willkür zum Trotz, dann doch noch ein langes, erfülltes und erfolgreiches Leben hatte. Er starb am 14. März 1988 in seiner Villa in Bad Wiessee.

Unter dem Titel „Ja, das ist meine Melodie“ erschien dieser Text in Volksstimme 40 / 3. Oktober 2002, S. 10.

 
Hiermit trete ich aus der Homosexualität aus PDF Drucken E-Mail

Zum Problem der schwulen Differenzierung der Heterosexuellen Differenz

Wer Geschlechtliches zu denken versucht, läuft oft Gefahr, sich von den Kategorien Identität und Differenz gefangennehmen zu lassen. Einem Gefängnis aber entkommt man nicht schon, indem man dort die Wände bunt anstreicht. Lieber mal in der Häftlingsbücherei vorbeischauen und die Geschichte vom Hasen und vom Igel nachlesen. Dieses Grimmsche Märchen kann, wenn man nur will, als Allegorie des Verhältnisses von Homosexualität und Heterosexualität verstanden werden. Der schwule Hase läuft sich aus Leibeskräften zu Tode, weil der heterosexuelle Igel (samt Frau) ihn betrügt. Zu welchem Ende der Ackerfurche Meister Lampe auch kommt, immer trifft er dort auf eine Hälfte des Igelpaares, die vorgibt, früher dort gewesen zu sein. Gegen solche Konkurrenz hat der blindwütige Läufer eindeutig keine Chance. Was also, lieber Leser, liebe Leserin, kann dem armen Hasen geraten werden? Der lange Marsch durch die Geschlechterverhältnisse?

I. „Von der Hölle ...”
Im Prinzip ist alles schon entschieden. Die Heterosexualität ist das Ganze, alles ist heterosexuell. Was beispielsweise gemeinhin „sexuelle Differenz” genannt wird, muß genauer und richtig heterosexuelle Differenz heißen. Männliches und Weibliches sind ja nicht nur voneinander geschieden, sondern auch aneinander verwiesen. Als Mann gilt demnach, wer Frauen begehrt, Frau ist, wer von Männern begehrt wird. Zwar kann fast alles ihrem herrischen Differenzierungsgestus unterworfen werden: aktiv/passiv, stark/schwach, oben/unten usf.; die heterosexuelle Differenz selbst aber ist nicht weiter differenzierbar: Mann oder Frau, Mann und Frau, das wär’s.
Diese Logik bezieht ihre metaphysische Stringenz aus den willkürlich zur Natur erklärten Fortpflanzungsverhältnissen, in deren Dienst zudem die Lüste als bloße Nebeneffekte stehen sollen. Dergleichen wird gern als Sexualität ausgegeben, ist aber doch „nur” Heterosexualität. Die hier freilich nicht als beliebige individuelle Vorliebe zu verstehen ist, sondern als gesellschaftlich definiertes und kulturell omnipräsentiertes Wahrnehmungs-, Empfindungs-, Vorstellungs- und Handlungsraster. Gleichsam als transzendentale Matrix, die den konkreten erotischen Erfahrungen die Bedingungen ihrer Möglichkeit oder Unmöglichkeit diktiert.
Die dominante Heterosexualität impliziert jedoch immer schon Homosexualität. Womit wiederum kein besonderes Schicksal, sondern eine generelle Struktur gemeint ist. Männliche Homosexualität ist geradezu der Inbegriff des — selbstverständlich strikt „heterosexuellen” — Patriarchats. Männer wollen Männer, als Kameraden, Konkurrenten und Idole, bei Arbeit, Sport und Spiel. In bestimmter Hinsicht allerdings substituieren die gleichgeschlechtlichen Subjekte einander durch Objekte anderen Geschlechts. (Also Frauen, die so in ihre Ungleichheit ein- und aus der Gemeinschaft der Männer ausgeschlossen werden.) Die implizite Homosexualität hat im persönlichen Bereich nämlich als Heterosexualität realisiert zu werden, weshalb dann die explizite Homosexualität als privates (Miß-)Geschick erscheint. Wer die verbindliche Einbindung ins gegengeschlechtlich verfaßte Paar verpaßt, macht sich verdächtig. Mit so einem stimmt doch was nicht.
Der Homosexuelle als Figur und die Homosexuellen als Spezies sind mehr oder minder erwünschte Nebenwirkungen der kollektiven und individuellen Verdrängungen, die die heterosexuellen Identitäten sichern müssen. Das „Problem Homosexualität” ist primär denen ein Problem, die keinesfalls „so” sein wollen. Erst die terroristische gesellschaftliche Praxis der zwanghaft heterosexuellen Mehrheit schafft Probleme für die, die demzufolge eine „Minderheit” sind. Unweigerlich repräsentieren sie, was unmöglich präsent sein darf.
Daher sind Homo- und Heterosexualität, auch wenn das noch so gutwillig behauptet wird, keineswegs gleichberechtigte Lebensweisen. Nicht solange diese an der Macht ist und alles beherrscht, was von jener gewußt werden kann. Wie es ja auch die alten Bezeichnungen „conträres Sexual-Empfinden” und „Inversion” bezeugen, vermag Homosexualität nämlich nicht anders als [ergänze: als] eine irgendwie verkehrte Heterosexualität gedacht zu werden. Der Schwule ist, man weiß es, andersrum. Gerade weil er aber als Mann definiert wird, der Männer liebt (also keine Frauen), entkommt er der heterosexuellen Differenz nicht.
Selbst eine vorübergehende Entdramatisierung ephemeren homosexuellen Verhaltens — in der Jugend, in der Not, nur ab und zu — schreibt nochmals den marginalen und abgeleiteten Charakter von Homosexualität fest. In ein harmonisierendes Konzept universeller Bisexualität integriert, bleibt Homosexuelles erst recht auf Heterosexuelles als dessen Gegenstück fixiert. Gilt Bisexualität als „normal”, hat Heterosexualität bloß expandiert. Zudem ist Normalität stets repressiv und ihre Ausdehnung so wenig wünschenswert wie irgendein anderer Imperialismus. Mag die polymorph-heterosexuelle Angebotspalette auch um ein paar Häppchen Gleichgeschlechtliches erweitert worden sein, gerade hinter dem Vordergrund diversifizierter [redaktionelle Erläuterung:] (vielfältiger) Erotik muß ausschließliche Homosexualität nach wie vor als unvollständig erscheinen. Wenn auch vielleicht, da exotisch, als chic.

II. „… übers Paradies ...”
Homosexuelles ist in Mode gekommen. Hätte ihm Schlimmeres passieren können? Nun, gewiß ist öffentliche Vereinnahmung weitaus angenehmer als offene Verfolgung. Aber wo, wenn man fragen darf, ist jene Subverisivät geblieben, die man sich Anfang der 70er Jahre von freigesetzter Homosexualität versprechen zu können glaubte?
Der schwule Traum von einer Sache namens „gesellschaftliche Veränderung” ist längst im kalkulierten Konsumrausch aufgegangen. Der vormals wenigstens potentiell revolutionäre Schwule ist zum glücklichen Szenezombie mutiert. Und die aus utopischer Transfiguration öffentlicher Einrichtungen gewonnenen Orte unverblümt namenloser Begegnungen (Parks, Klappen u.ä.) haben ihre Funktion als Leitstellen schwuler Selbstverständigung an behördlich konzessionierte Lokalitäten (Szenecafé, Lederbar, schwuler Buchladen, gay mailbox u.ä.) abgetreten, deren meist problem-, aber selten kostenlose Benutzung den Erwerb gebrauchsfertiger Identitäten garantiert. Doch in „Freiräumen” ohne Widerstand dreht man leicht durch: Bewegung ist im Netzwerk zum umtriebigen Stillstand gekommen.
Freilich muß niemand der Unterdrückung auch nur eine Träne nachweinen. Denn wo Homosexualität normalisierungsfähig, talkshowkompatibel und boutiquenpflichtig geworden ist, kann sich der voreingenommene Betrachter ohnehin den guten alten Begriff der repressiven Entsublimierung nicht verkneifen. Ein Käfig voller Narren ist immer noch ein Käfig. Und Narrenfreiheit darf doch wohl nicht als Emanzipation durchgehen.
In der zeitgenössischen Dienstleistungsgesellschaft ist lediglich das veraltete Abnormitätskonzept durch neue Normen ersetzt worden. Erlaubt ist, was gefällig ist. „Da gibt es keine Fetten und keine Alten,” schreibt Elmar Kraushaar im schwulen Magazin „magnus” (September 1994), „keine Kranken und keine Schwachen, niemand ist unglücklich, und alle wollen nur das eine: ausgehen, feiern, gut drauf sein.” Sei, wie du willst, wenn du nur willst, wie du sollst. Im sch[w]ulen mainstream tanzt man zu Rhythmen, die einem Bekenntnispflicht, Vereinigungsfreiheit und Konsumzwang vorgeben.
Ohne coming out geht erstmal gar nichts! Ein Geständnis entlastet schließlich, wenn auch vielleicht am meisten die, denen man’s macht. Schon die alte Forderung „Mach dein Schwulsein öffentlich!” setzte die heterosexuelle Öffentlichkeit als unverändert akzeptierte Instanz ebenso voraus wie die Existenz einer inneren Wahrheit, die man bei Bedarf bloß aus sich herauszustülpen habe. Vom pragmatischen Essentialismus postindustrieller Identitätsfreudigkeit aber geht für die Geschlechterverhältnisse vollends keine Gefahr mehr aus.
Darum nur ruhig hinein in die gay community! Gleich und gleich gesellt sich gern. Früher mal galten Zweierkiste und Familie bei linken Spinnern als Horte bürgerlich-ödipaler Reaktion und waren daher pfui. Heute sehnt sich jeder Schwule nach der Nestwärme eines individualistischen Kollektivs und plant auch den passenden Partner fürs Leben in die erotische Karriere mit ein. Das Betteln um die „Homo-Ehe” ist da nur folgerichtig und die angemessene Schwundstufe schwuler Politik.
Nur immer her mit dem life-style! Man ist, was man hat oder gehabt hat, und muß sich schon ein wenig anstrengen, wenn man seinem Ruf als fröhlichste Vorhut des pluralistischen Konsumismus gerecht werden will. Ein inhaltsarmes Leben ist doch gleich viel erfüllter, wenn man dazu das richtige outfit trägt. Wo bitte geht’s hier zum nächsten event? Ob dance floor, outdoor cruising oder „Kultur”: fun muß, drugs dürfen, sex kann sein.
Here we are. Die Schwulen haben sich erkennbar gemacht, und die Gesellschaft zeigt sich erkenntlich. Wer sich bis zur Bewußtlosigkeit integrieren läßt, erhält dafür das Gütesiegel ganz besonderer Normalität. Eine schier obszöne Wohlanständigkeit hat allenthalben um sich gegriffen. Da fliegt schon mal ein Pädophilenverband aus dem International Lesbian and Gay Association, damit nur ja nicht der Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen gefährdet wird (von deren 184 Mitgliedern übrigens mindesten 74 offen schwulenverfolgende Strafmaßnahmen [richtig: Strafbestimmungen] haben). Mit schmuddeligen Knabenschändern hat man und frau selbstverständlich nichts gemein. Ach, wissen Sie, das ist doch bloß eine Minderheit … Tja, abgesehen davon, daß man eindeutig den besseren Geschmack hat, ist man als Schwuler im Grunde auch nicht anders als andere auch.
„Wenn ein Schwuler sich die Haare blau färbt,” ließ Jean Genet einmal in einem Interview wissen, „kann er durch sie ein revolutionäres Programm verkünden; doch wenn er, nachdem er sich die Haare blau gefärbt hat, sich mit Hormonen Brüste wachsen läßt und mit einem Mann zusammenlebt, parodiert er bloß das System. Er wahrt den Schein und provoziert überhaupt nicht. Die Gesellschaft ist belustigt. Er wird so etwas wie ein Kuriosum, das vom System rasch verdaut wird.” Und alles, so könnte man hinzufügen, was von dem bißchen Exzeß und Perversion übrigbleibt, ist die alte Scheiße.

III. „ … ins Fegefeuer!”
„Hiermit trete ich aus der Kunst aus”, verkündete eins Joseph Beuys. Und schuf damit erst recht wieder Kunst. Wenn man sich für ein politisch wachen Menschen hält, der den Traum von Widerstand und Befreiung noch nicht ausgeträumt hat, können einem die schrille Biederkeit der warmen Mitbrüder einerseits und die heuchlerische Umarmung durch den Hetero-Zeitgeist andererseits das eigene Schwulsein ganz schön vermiesen. Was tun, fragt der Hase, dem man die Geschlechter erklärt hat. Aus der Homosexualität austreten, um erst recht wieder „ganz verteufelt homosexuell” zu sein? Die Inversion noch etwas weitertreiben, ohne sich dabei im Kreis zu drehen? Außer Konkurrenz dem Feld davonlaufen, indem man einfach mittendrin mal die Richtung wechselt? Wenn es doch nur gelänge, das Spiel der heterosexuellen Differenz nicht zu spielen!
Im Französischen konnte der Schwule zuzeiten l’indifférent genannten, wohl weil er auf die Reize des anderen Geschlechts nicht anspricht. Läßt vielleicht Indifferenz eine Chance, Differenz zu verwinden? Im Sinne aktiver Teilnahmslosigkeit möglicherweise, als Versuch, beim regulären Verkehr der Geschlechter nicht mitzumachen.
Das Modethema gender-crossing bietet konzeptionell lediglich Vertauschungen innerhalb des vertrauten kategorialen Rahmens, nicht dessen Abschaffung, sodaß nach ein wenig Hin und Her bald alles wieder an seinem Platz sein dürfte. Schwule In-Differenzierung aber hätte die heterosexuelle Differenz nicht nur zu kreuzen und zu queren, sondern auch durchzustreichen und zu verlassen.
Die Heterosexualität schuf sich eine Homosexualität nach ihrem Bilde. Doch das kann nicht alles gewesen sein. Unter anderen existieren die Fetten, Alten, Kranken, Schwachen und Unglücklichen sehr wohl und sind nicht weniger schwul als die angepaßten Neonormalen. Sie sind eher die Wirklichkeit als die Schwulendarsteller, von deren Abweichung sie abweichen. Das bringt mich womöglich auf eine Spur:
Es gibt noch Differenzen diesseits und jenseits des Kleinen Unterschieds und seiner identitätsstiftenden Folgen zu durchleben, die ungemein vielfältiger und reichhaltiger sind als die schlichte Polarität der Geschlechter. Ein Körper beispielsweise ist nicht nur männlich und/oder weiblich. Er ist vielmehr auch etwas zu groß, angenehm warm, schön anzuschauen, ganz nah, eher kühl, erstaunlich beweglich oder merkwürdig fremd …
Wer mich als Mann identifiziert, hat selber schuld. Nicht weil ich keiner wäre, aber darum geht’s doch gar nicht, wenigstens nicht allein. Auch nicht bloß um eine Schwäche fürs starke Geschlecht. Vielmehr wünsche ich mir, In-Version wäre nicht einfach eine Version von „Sexualität”, die in sein kann oder out, sondern die leidenschaftliche Verneinung gängiger Fassungen, das große Ja zu erotischer Anarchie, der durchdachte Sprung aus der Furche. „Ick bün all hier”, ruft irgendeiner der Igel dem Hasen noch zu, aber der ist längst weitergelaufen und inzwischen ganz woanders. „Tschüs!”

Eine Fassung des Textes erschien in Volksstimme 44 (3. November 1994, S. 20 f.). Auf Unterschiede zu meinem Manuskript wird in eckigen Klammern verwiesen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
Mit einer Blume im Arsch PDF Drucken E-Mail

Über Jorge Semprúns „Der Tote mit meinem Namen“ (Frankfurt a. M. 2002)

„Ich würde nicht jedesmal mit dem Glück rechnen können, das mich zu verfolgen schien. Das im übrigen nicht aufgehört hat, mich zu verfolgen. In Spanien, zehn Jahre später, in der antifrankistischen Illegalität, lief mir das Glück immer hinterher. Auch in Spanien sagte man mir, daß ich Glück hätte, so wie Kaminsky an jenem fernen Sonntag in Buchenwald. Doch in meiner Muttersprache ist die Metapher dafür direkter, sinnlicher als im Französischen: Tu si que has nacido con una flor en el culo! rief man aus. Mit einem silbernen Löffel im Mund geboren sein, heißt es im Französischen; mit einer Blume im Arsch im Spanischen. Und doch ist es dasselbe.“
Jorge Semprún hat, wieder einmal, ein Buch über seine Zeit als Gefangener in Buchenwald geschrieben. „Der Tote mit meinem Namen“ — im Original „Le mort qu’il faut“, der passende Tote — erzählt unter anderem davon, wie Semprún wieder einmal Glück hatte: Die kommunistische Untergrundorganisation des Lagers hat einen „passenden Toten“ gefunden, einen jungen Mann, der demnächst an Entkräftung sterben wird und dessen äußere Kennzeichen immerhin soweit mit denen Semprúns übereinstimmen, dass man beider Identitäten vertauschen kann, falls, wie zu befürchten ist, die Anfrage aus Berlin bedeutet, dass der junge spanisch-französische Résistance-Kämpfer unmittelbar bedroht ist. Der Tote soll dann Semprúns Platz einnehmen und Semprún unter dem Namen des Toten weiterleben.
„Der Tote mit meinem Namen“ ist ein Buch über Sterben und Überleben, über Entmenschlichung und Widerstand, über Identität und Verlust, über Erinnern und Vergessen und nicht zuletzt ein Buch über Zeugenschaft und Erfindung. Semprúns Buch ist nämlich dokumentarisch, weil es Literatur ist. Denn bloß dort gewesen zu sein, erlebt und erlitten zu haben, genügte nicht für ein glaubwürdiges Zeugnis. Man muss das, war, auch erzählen können. Dazu muss man ihm eine Form geben, es in bestimmter Hinsicht erfinden und das „Historische“ und die „Fiktion“ so zur Deckung bringen, dass die Wahrheit erzählbar wird.
Darum auch ist Sprache — oder genauer: sind Sprachen — ein besonders wichtiges Thema dieses Buches. Semprúns Muttersprache ist Spanisch, er schreibt auf Französisch und spricht Deutsch. „Von der russischen Sprache verstehe ich fast nur die im übrigen höchst eintönigen Flüche. Denn es geht immer darum, eine Frau aus der Familie zu ficken, mit Vorliebe die Mutter desjenigen, den man beschimpft.“ Die Verschiedenheit und Vergleichbarkeit der Sprachen ist ein gutes Bild für die Arbeit der Mitteilung des im Gedächtnis bewahrten (und der Markierung des längst verloren Gegangenen). Das Zeugnis übersetzt das Gewesene in Gegenwart, und wie jede Übersetzung ist sie unvollkommen und enthält sowohl mehr als auch weniger als das „Original“.
Semprún erzählt vom Grauen, das Alltag ist. Gewiss, Buchenwald ist kein Vernichtungslager wie Auschwitz oder Treblinka, aber auch hier ist der Tod überall gegenwärtig und die Entwürdigung. Um zu überleben, braucht es Glück. Und Überlebenswillen. Dem Glück hilft nach Kräften die illegale kommunistische Organisation nach. (Freilich gibt es „Angelegenheiten unter Kommunisten, bei denen die Partei als Institution nur Scheiße bauen konnte“ und die man besser selbst in die Hand nimmt.) Der Überlebenswille hängt nicht zuletzt davon ab, was man im Lager an physischer Widerstandskraft bewahren kann und was man an mentaler Widerstandskraft aus der Welt draußen mitgebracht hat.
„Die unvermeidliche, ständige Enge war eine der verhängnisvollsten Geißeln des Alltags in Buchenwald.“ Sie bedeutet einen völligen Verlust an Intimität: Arbeiten, Schlafen, Essen, Scheißen — all das muss in Gegenwart der anderen geschehen. Auch der Sex. Der übrigens, ob es sich dabei um Gleichgeschlechtliches oder um Selbstbefriedigung handelt — das Lagerbordell steht nur reichsdeutschen Häftlingen offen … —, auch eine Form des Widerstands ist: eine Rückeroberung des Bei-sich-seins und der Verausgabung in der Lust; die paar Bemerkungen Semprúns über das Wichsen gehören übrigens zum Besten, was je über Sexualität im KZ geschrieben wurde.
Manchem freilich steht der Sinn auch nach weniger handfesten Genüssen. „Außer dem Spaziergang gab es nur noch ein anderes Mittel, die klebrige Angst vor der ständigen Enge zu überlisten: nämlich Gedichte zu rezitieren, mit leiser oder mit lauter Stimme.“ Dieses Mittel lässt sich auch unter völlig menschenunwürdigen Bedingungen anwenden, „unabhängig vom Wetter, vom Ort, von der Uhrzeit. Ein wenig Gedächtnis reicht aus (…) Auf dem, Scheißhaus, ungeachtet des Gestanks und der lärmenden Erleichterung der Gedärme ringsum, verbot einem nichts, die tröstende Melodie einiger Verse von Paul Valéry zu murmeln.“ Oder von Rimbaud oder Lorca.
Der Abtritt dient bezeichnenderweise auch als Treffpunkt der Intellektuellen. Der ehemalige Philosophie-Student Semprún, der übrigens in Buchenwald auch dem Sterben seines Lehrers Maurice Halbwachs zusehen muss, wird an diesem grotesk widerwärtigen Ort in Diskussionen über wortwörtlich Gott und die Welt verwickelt. Hier und an vielen anderen Stellen erweist sich „Der Tote mit meinem Namen“ auch als ein Buch über den Widerstand, den Bildung einigen ermöglicht. Das Erinnern, das Kennen, das Wiedererkennen, das Vergessen, das Wiederentdecken von Texten und ihren Bedeutungen, und damit, in erzählerischer Hinsicht, die freie Bewegung von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit, die Aneignung des Gewesenen durch die Erfahrung der Gegenwart.
So wird Semprún zum Beispiel erst fast ein halbes Jahrhundert nachdem der junge Mann, dessen Identität er annehmen soll, an seiner Seite gestorben war, erfahren, wie dessen letzte Worte eigentlich lauteten und was sie bedeuteten … Die Leser und Leserinnen werden hineingenommen in die Geschichte dieser Entdeckung, die Zeiten, Orte und Sprachen durchquert, und ihre Leseerfahrung wird zum Denkmal für Francois L., gesetzt von einem Kameraden, der diesen Tod, einen von Tausenden, Hunderttausenden, Millionen, nicht vergessen hat.
Angesichts der großen Bedeutung, die Sprachlichkeit und durch Sprachen vermittelter Bildung in diesem Buch besitzt, ist es umso trauriger, dass die Übersetzung so schlecht ist. Um zu bemerken, dass sie von Fehlern strotzt, muss man das Original nicht kennen: schlechtes Deutsch kann kein gutes Französisch gewesen sein. Wenn sie sich für Literatur nicht interessiert und Grammatik nicht beherrscht, hätte Frau Moldenhauer einen anderen Beruf ergreifen sollen. Sie hätte dem Publikum nicht den Text eines so wichtigen Autors wie Semprún verhunzen dürfen. Schande über den Suhrkamp-Verlag, der das zulässt.
Dennoch, ein Glück für die Leserinnen und Leser, das dieses Buch auch auf Deutsch erhältlich ist. Jorge Semprún hatte Glück. Er überlebte und er konnte davon erzählen. Aber auch wir Nachgeborenen haben Glück, denn an uns ist sein Zeugnis gerichtet.

Eine Fassung dieses Textes erschien am 6. Juni 2002 in der Tageszeitung „junge Welt“ (Berlin): www.jungewelt.de/2002/07-06/024.php

 
Nachruf auf Derrida PDF Drucken E-Mail

Jacques Derrida musste im Lauf der Jahre viele Nachrufe lesen oder selbst verfassen, denn er überlebte sie alle: Roland Barthes, Michel Foucault, Louis Althusser, Gilles Deleuze, Emmanuel Levinas, Jean-Francois Lyotard, Maurice Blanchot. Trotzig hatte er im Nachruf auf seinen deutschen Kollegen Hans-Georg Gadamer erklärt: „Ich glaube nicht an seinen Tod. Es gelingt mir nicht, daran zu glauben. Ich hatte mich schon an den Gedanken gewöhnt, dass er niemals stürbe. Dass er kein Mensch war, der sterben konnte. Irgend etwas in mir glaubt das noch immer.“ Jetzt jedoch werden auf den letzten großen französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts selbst Nachrufe verfasst: In der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober 2004 erlag Jacques Derrida im Alter von 74 Jahren einem Krebsleiden.
Geboren wurde Derrida am 15. Juli 1930 in El Biar, einem Vorort von Algier. Sein Geburtsland war seit langem geprägt von arabischer, berberischer, türkischer und französischer, von islamischer, jüdischer und christlicher Kultur. Als Kind und Jugendlicher erlebt er freilich auch den Kolonialismus ebenso am eigenen Leib wie den Antisemitismus.

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Theologische Skizze II (Fastenzeit) PDF Drucken E-Mail

1. Die grundlegende Bedürftigkeit des Menschen ist nicht zu leugnen. Er muss haben, um sein zu können, und er muss bekommen und behalten, um am Leben zu bleiben. Auch darum sind Menschen aufeinander verwiesen. Doch dem gedeihlichen Zusammenwirken sind Grenzen gesetzt, denn statt dass alle für jeden einzelnen sorgen, kümmert sich fast jeder vor allem um das, was er für das Seine hält. Was du hast, habe ich nicht, denkt man, und was ich habe, hast du nicht. Deine Bedürfnisse sind also die Feinde meiner Bedürfnisse.
An den Grenzen gemeinsamer und wechselseitiger Versorgung ist allerdings nichts „natürlich“. So wenig wie meine Freiheit dort aufhört, wo deine beginnt — weil vielmehr die Freiheit des einen die Freiheit des anderen ermöglicht —, so wenig schränken dein Bedarf und deine Bedürfnisse meinen Bedarf und meine Bedürfnisse prinzipiell ein. Zusammenarbeit wäre hier allemal fruchtbringender als Ressourcen vernichtendes Gegeneinander.
Die modernen Herrschaftstechniken, ja vielleicht Herrschaftstechniken überhaupt, beruhen darauf, die Bedürftigkeit der einen gegen die der anderen auszuspielen. Die Gesellschaft wird als so strukturiert gedacht, dass die einen die anderen in ihrer Bedarfsdeckung und Bedürfnisbefriedigung bedrohen, woraufhin dann die Lösung allein in der Anerkennung einer übergeordneten Macht bestehen soll, die alle in Schach hält. Es geht uns gut, es könnte uns schlechter gehen, also soll alles bleiben, wie es ist. Das ist der Trick.
Man muss nun aber sehr vielen etwas vorenthalten, um ganz wenigen sehr viel zu verschaffen. Und um vielen etwas vorzuenthalten, muss man einige gut versorgen. Das gilt auch in globaler Dimension. Es darf freilich nicht so sein, dass die einen nichts und die anderen alles haben, zumindest nicht nebeneinander, denn zu große sichtbare Unterschiede drohen zu gewaltsamem Ausgleich zu führen. Also muss einerseits für ein kompliziertes Gegeneinander, andererseits für Ablenkung und Zerstreuung gesorgt werden. Abhängigkeit, Komplizenschaft, Amüsement und Verdblödung regieren die Welt.
Was dagegen zu tun wäre, ist offensichtlich: den Verblödungszusammenhang durchbrechen, den schalen Spaß verderben, die aktive und passive Konformität aufkündigen und sich von angeblichen Sachzwängen und vermeintlichen Notwendigkeiten emanzipieren. Kurzum: sich um das Wesentliche kümmern. Bloß wie? Wenn unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen materielle Unabhängigkeit nicht wirklich erreichbar scheint, so könnte doch immerhin mit geistiger Unabhängigkeit begonnen werden. Bedürftigkeit mag Voraussetzung sein, aber das macht sie nicht unreflektierbar. Bedürfniskritik wäre also ein guter Anfang. Was brauche ich wirklich? Was habe ich aus falschen Gründen? Warum will ich, was ich will? Wer will das?
Der Mensch ist kein Tier, er ist dem, was man für seine Instinkte halten möchte, nicht widerstandslos ausgeliefert. Er kann, aber er muss nicht. Seit Urzeiten ist darum der bewusste Verzicht gerade auf das, was unabdingbar scheint — Nahrung etwa —, den Menschen wesentlich, um sich dem Alltäglichen, Gewöhnlichen, Vorherrschenden zu entziehen und ihre Freiheit zurückzugewinnen. Der moderne Mensch scheint das vergessen zu haben. Die vorösterliche Fastenzeit wäre eine gute Gelegenheit, es ihm wieder in Erinnerung zu rufen.
(Auch die Ereignisse in Japan können gerade in dieser Hinsicht zu denken geben. Es ist ja der maßlose „Energiehunger“ des modernen Wirtschaftens, der in den Aberglauben der verlustlosen Beherrscharkeit der Nukleartechnologie hineingetrieben hat — falls diesen Glauben wirklich jemals jemand hatte und ihn nicht nur Interessierte anderen aufzuerlegen versuchen. Gewiss sind Erdbeben und Flutwellen unverfügbare äußere Einwirkungen, doch so, wie der Mensch lebt, so wird er auch von den Naturgewalten erreicht. Schlagartig kann alles wegbrechen, woran man eben noch sein Herz gehängt hatte, und so erschreckend viele sind jetzt schon froh, wenn sie halbwegs davon gekommen sind und ein Dach über dem Kopf, ausreichend Nahrung, trockene Kleidung und dringend benötigte Medikamente haben. Wenn es Situationen gibt, in denen der kostbarste Besitz schon eine Decke ist, warum glaubt der Mensch dann eigentlich sonst sehr oft, so vieler irdische Güter zu bedürfen?)
2. Nein, selbstverständlich bedarf es nicht des Fastens, auch nicht des rituellen, und nicht der Fastenzeit, um sich der eigenen Bedürftigkeit bewusst zu werden und die eigenen Bedürfnisse im Hinblick auf ihre Manipuliertheit zu kritisieren. Aber die Fastenzeit steht so schön quer zum Strom der Zeit, dass es eine Schande wäre, nicht ihre Partei zu ergreifen und ihre Fahne gegen die konsumistische Gleichgültigkeit hochzuhalten.
Was hat der Mensch und was davon braucht er wirklich? Was fehlt ihm? Die Welt besteht nicht nur aus Elend, sondern auch aus Not. Was aber ist wirklich nötig und wofür?
Gesetzt, man entbehrte nichts von dem, was die Welt zu geben hat, es fehlte nicht an Hab und Gut, nicht an Freude und Freundschaft, nicht an Kurzweil und Bildung, nicht an Leidenschaft und Muße, nicht an Ruhm und Macht. Wäre das alles?
Das letzte Hemd hat keine Taschen. Wenn einer auch alles gehabt und alles genossen hätte, er nähme nichts mit über den Tod hinaus. Der Weise mag sich damit beruhigen, dass er nicht tot ist, solange er lebt, und wenn er tot ist und nicht mehr lebt, es ihn auch nicht mehr sorgen muss, dass ihm nichts bleibt. Hinterbliebene sollte das nicht trösten können. Der Andere ist tot und ich lebe. Sein Verlust ist mein Verlust. Schal wirkt der Versuch, sich mit dem Gerede vom Weiterleben in der Erinnerung darüber hinwegzuschwindeln, dass der andere tot ist und ich das weiß.
Erbarmungsloserweise endet das Leben mit dem Tod. Der Tod ist das Kriterium des Lebens. Die einen sagen, es komme darauf an, was man im Leben gehabt habe. Die anderen sagen, es komme darauf an, was man im Tod verliere. Ich glaube, es kommt auf das an, was man nie besitzen und nie verlieren kann.
Das Leben ist das Kriterium des Todes. Das Leben muss weitergehen. Aber nicht im Sinne der Vertröster, der Beschwichtiger, der Abwiegler. Sie zerreden den Tod, als ob sie nicht richtig zugehört hätten. Das Leben muss weitergehen, weil der Tod des Anderen nicht hinnehmbar ist. Besonders dann nicht, wen er immer noch geliebt wird.
Das Leben muss weitergehen. Hienieden kann es das nicht oder nur bis zum nächsten Sterben. Es muss weitergehen, wenn es je Sinn gehabt haben soll. Daran hängt alles, aber nichts, was man hat und woran man hängt, kann das ermöglichen. Der Tod, nämlich der Tod des anderen, der totale Weltverlust, den ich erleide, weil er ihm widerfahren ist, ist die unstillbare Not, aus der sich die Notwendigkeit einer Lösung ergibt.
Die Fastenzeit arbeitet auf den Tod hin. Einer wird sterben, darum geht es. Er ist schon gestorben — und auferstanden. Das ist der Mythos der Christen. Man mag an ihn glauben oder nicht, am Ende ist man, ob man’s schon weiß oder nicht, vor die Wahl gestellt, sich der äußersten Not zu stellen. Gott ist tot. Wer lebt?
3. Gott ist tot, heißt es, und wir haben ihn getötet. Aber nicht das ist die bemerkenswerte Botschaft, dass Gott tot ist — hierin irrte Nietzsche —, denn das Sterben eines Gottes ist von alters her fester Bestandteil der Lehren vieler Religionen. Vielmehr verdient das, was viele Religionen ebenfalls verkünden, die eigentliche Aufmerksamkeit: Er starb und stand von den Toten auf. Wenn das wahr ist, gibt es Hoffnung. Wenn nicht …
Mir selbst ist es, wenn ich dies persönliche Bekenntnis wagen darf, nicht verständlich, wie man leben kann ohne Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Ich meine damit nicht den egomanischen Wunsch nach einem eigenen Weiterexistieren. Ob es mich gibt oder nicht, ist mir nicht so wichtig. Ich klammere mich nicht an mein Dasein und fürchte mich nicht vor dem Tod. Ich habe das eigene Totsein nie erlebt und kann darum nicht sagen, ob ich dafür oder dagegen bin. Was ich aber erlebt habe, ist das Sterben und Totsein anderer. Und da nun tut sich für mich die Notwendigkeit der Hoffnung auf.
Ich kann nicht nachvollziehen, dass es Menschen gibt, die von einem anderen Menschen, den sie angeblich geliebt haben und der gestorben ist sagen können: Jetzt existiert er nicht mehr. Mir ist die Vorstellung, der geliebte Mensch sei ein Nichts, völlig unerträglich. Wie weiterleben, wenn er nicht mehr lebt?
Selbstverständlich kann man nun einwenden: Es geht dir nur um deine Gefühle, du willst die Realität nicht wahrhaben, kannst sie nicht ertragen und flüchtest dich darum in eine Illusion.
Dem kann ich nichts entgegensetzen als meine Wahrnehmung der Wirklichkeit: Ich kann nun einmal nicht anders, ich kann die Endgültigkeit des Todes nicht anerkennen. Und ich verstehe nicht, wie das irgendjemand können kann.
Wirklichkeit ist für mich das, was ich nicht beliebig so oder so verstehen kann, sondern unter den und den Bedingungen also so und so seiend hinnehmen muss. Ich mag es verändern können, aber zunächst einmal setzt es meinem Wunsch und Willen Widerstand entgegen. Real ist, was Grenzen zieht. Insofern ist mein Unvermögen, mit der Endgültigkeit des Todes des geliebten Anderen zu leben, Bedingung meiner Wirklichkeit.
Das begründet noch keine Religion. Aber es hält zumindest offen für Transzendenz. Dass das, was immanent erfahrbar ist, was erklärbar und gewiss scheint, nicht alles sein kann, ist selbst eine Erfahrung innerhalb der Immanenz. Man könnte sagen, Immanenz ist ohne Transzendenz nicht denkbar. Und schon gar nicht erträglich.
4. Wenn also der Tod — nicht so sehr der eigene, als vielmehr der des geliebten Anderen — alles zu entwerten, alles in einen Abgrund der Sinnlosigkeit zu reißen droht; und wenn andererseits gerade aus der existenziell erfahrenen Nichthinnehmbarkeit des endgültigen Nichts die Notwendigkeit eines den Tod überwindenden und Leben garantierenden Erbarmens folgt — das freilich nicht zwingend bewiesen, sondern nur gehofft und geglaubt werden kann: Was heißt das dann für die eigene Lebensführung?
Zum einen können die irdischen Freuden und Leiden nicht ganz ernst genommen werden. Nicht, dass nicht wirklich gelitten und genossen, erfreut und betrauert werden könnte, aber Trauer und Freude, Genuss und Leid haben nicht das letzte Wort. Glaube und Hoffnung gehen darüber hinaus und haben Wesentlicheres zu sagen.
Zum anderen können im Gegenteil Freud und Leid, Trauern und Genießen, gerade weil sie unter dem Vorbehalt ihrer Endlichkeit und Nichtendgültigkeit stehen, ganz und gar ernst genommen, ganz und gar angenommen, ganz und gar erlebt werden, denn wer glaubt und hofft, das mit dem Kontigenten nicht alles vorbei ist, kann Freude und Genuss als Vorfreude und Vorgenuss erfahren, auf das, was vielleicht noch kommt.
Und all das Leid, das eigene und das fremde? Mir hat da immer eine Notiz Franz Kafkas zu denken gegeben: „Nur hier ist Leiden Leiden. Nicht so, als ob die, welche hier leiden, anderswo wegen dieses Leidens erhöht werden sollen, sondern so, dass das, was in dieser Welt leiden heißt, in einer andern Welt, unverändert und nur befreit von seinem Gegensatz, Seligkeit ist.“
Ich verstehe das so: In dieser Welt besteht ein notwendiger Gegensatz zwischen dem, was sein soll, und dem, was nicht sein soll. Leiden ist Erfahren dieses Gegensatzes. Wie sollte man denn auch nicht unter Unrecht, unter Missgeschick, unter Mangel leiden? Niemand soll hungern oder krank sein, niemand soll bestohlen, betrogen und belogen werden, niemand soll entwürdigt, entrechtet, verfolgt, gequält, verletzt, getötet werden, niemand soll von Bildung und Unterhaltung ausgeschlossen werden — aber all das passiert und zwar, im Wesentlichen deshalb, weil Menschen es Menschen antun. Wie aber sollte man nicht darunter leiden, wenn es einem widerfährt? Widerfährt einem aber nicht das, was nicht sein soll, sondern das, was sein soll und wie es sein soll, dann ist das — vom „Gegensatz befreit“ — letztlich Seligkeit.
Streng genommen ist also nicht das Leiden das Üble, das nicht sein soll, sondern das, woran gelitten wird, soll nicht sein. Schlechtes soll nicht sein; was nicht sein soll, aber erfahren wird, ist schlecht. Leiden als Erfahrung dessen, was nicht sein soll, ist das Gegenstück zur Freude, die die Erfahrung dessen ist, was sein soll. Ja, für den, der an das Gute, Wahre und Schöne glaubt und seine Unvergänglichkeit erhofft, ist Leiden eigentlich Freude, nur eben noch nicht befreit vom Gegensatz, sondern in diesen eingespannt und ihm verfallen. Leiden ist Leiden am falschen Endlichen. Freude ist Freude am ins Unendliche reichenden Endlichen. Denn was je sein sollte, wird immer gewesen sein. Und was nie sein sollte, wird nie gewesen sein.
5. Dass man sich und alle anderen in letzte Instanz der Barmherizgkeit Gottes anheimstellen muss, ist keine Einladung zu ethischer Indifferenz oder selbstgenügsamem Quietismus. Man mag zurecht das Konzept von Lohn und Strafe als allzu geschäftsmäßig in Frage stellen und darauf verweisen, dass kein menschliches Verdienst die ewige Seligkeit gleichsam erkaufen kann. Gleichwohl ist der urprotestantische Aberglaube vom „Glauben allein“, der die verächtliche Verwerfung der Heilsnotwendigkeit guter Werke bedingt, eine völlige Pervertierung des Evangeliums. Denn worin besteht ein solches Geglaube, das ohne praktische Dimension auskommen zu können vermeint? Doch bloß in einem letztlich selbstgefälligen Fürwahrhalten. „Glaube“, der nur irgend ein Vermeinen ist und nicht Vollzug, im Zweifelsfall also Tat, ist kein ernstzunehmender Glaube.
Im Evangelium nach Matthäus wird das (25,31-46) deutlich gesagt (und weil’s so schön ist, sei es in voller Länge zitiert: Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken. Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen? Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben.
Von wegen also, der „Glaube allein“ genüge! Vom Glauben ist hier gar nicht die Rede, jedenfalls nicht vom theoretischen. Wer Gutes tut — und das meint: für andere da ist —, der glaubt, auch wenn er vielleicht nicht weiß, dass er glaubt: Sein Glaube ist Praxis.
Das Gegenstück zu Mt 25,31-46 findet sich in Mt 7, 21: Nicht jeder der zu mir sagt: Herr, Herr! wird eingehen in das Königreich des Himmels, sondern wer den Willen meines Vaters in den Himmeln tut. Dies geht zusammen mit Lk 13,25 wohl auf die sogenannte Logienquelle zurück, für die man rekonstruiert hat: Was nennt ihr mich: Herr, Herr!, und tut nicht was ich sage? (Q 6,46). Der frühchristliche 2. Clemensbrief bringt die Fassung: Nicht jeder, der zu mir „Herr, Herr“ sagt, wird gerettet werden, sondern wer das Gerechte tut.
Kurzum, das „Religiöse“ im Sinne dieser oder jener Folklore und dieses oder jenes Fürwahrhaltens ist völlig untergeordnet (mitunter sogar entgegengesetzt) dem Tun dessen, was Gott will. Und was das ist, was Gott will, darüber besteht kein Zweifel: Das Beste für jeden Einzelnen. Die detaillierten Kriterien dafür mögen in dieser oder jener Situation problematisch scheinen und werden diskutiert werden müssen. Im Prinzip aber ist alles einfach und klar: Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten. (Mt 7,12) Diese so genannte Goldene Regel setzt keinerlei religiöse Doktrin voraus. Im Unterschied zum deutschen Sprichwort „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“, ist sie positiv formuliert. Und im Unterschied zu Kants kategorischem Imperativ („Handle, wie du sollst“) ist sie unkompliziert, unprätentiös und unmittelbar einsichtig. Keine Ethik kann ihr widersprechen oder wesentlich über sie hinausgehen. Mit ihr kommt man durchs ganze Leben. Und, wenn das Evangelium wahr ist, noch weiter.
6. Wenn aber nun also, wie an den vorangegangen Sonntagen argumentiert wurde, zum einen die Goldene Regel eine ausreichende Grundlegung der Ethik darstellt und zum anderen nicht das Fürwahrhalten von Glaubenssätzen, sondern der Vollzug eines (zumindest impliziten und unter Umständen gar nicht bewussten) bejahenden Gottesverhältnisses in tätiger Nächstenliebe genügt, um der ewigen Seligkeit für würdig befunden zu werden — wozu dann noch die verschiedenen Christentümer?
Tatsächlich hat Jesus Christus, auf den die Christentümer sich berufen, selbst keine Konfession namens „Christentum“ begründet (und erst recht nicht, wie es modisches Vorurteil will, eine Art „Reformjudaismus“), sondern er hat das Evangelium vom kommenden Gottesreich verkündet, er hat Jünger zur Nachfolge aufgerufen und er ist, wie es heißt, gestorben und auferstanden. Und damit ist der entscheidende Punkt berührt, an dem Logos und Mythos einander kreuzen.
In der Liturgie gibt es die Frage nach dem mysterium fidei (dem Geheimnis des Glaubens), die so beantwortet wird: Mortem tuam annuntiamus, Domine, et tuam resurrectionem confitemur, donec venias. (In deutscher Fassung: Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.)
Hier sind wesentliche Glaubensaussagen verdichtet. Nach kirchlicher Lehre ist in Jesus Christus Gott erschienen, denn nur er, der ganz Gott und ganz Mensch ist, kann Gott und Mensch versöhnen, die durch die Sünde entzweit sind. Was aber wäre die schlimmste aller Sünden, das größte aller Verbrechen, wenn nicht der Mord an Gott selbst? Indem nun der Sohn Gottes sich von den Menschen hinrichten ließ, also den Tod, der ja nach christlicher Lehre nichts Natürliches, sondern Lohn der Sünde ist, auf sich nahm, so der zentrale christliche Mythos, kaufte er, der einzige Unschuldige, die wahren Schuldigen los („loskaufen“ ist bekanntlich die wörtliche Übersetzung von „erlösen“) und überwand den Tod, nicht nur für sich selbst, sondern ein für alle mal für alle. Darum wird von der Kirche die Taufe (also wörtlich das „Eintauchen“ im Sinne eines symbolischen Ertrinkenmachens) als Hinneinnahme in den Tod Christi und damit auch als Verheißung der Auferstehung vollzogen.
Überwindung des Todes bedeutet selbstverständlich nicht, dass niemand mehr stürbe, sondern dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Das letzte Wort überhaupt ist nach Überzeugung der Jünger Christi dasselbe wie das erste Wort, also das Wort Gottes — womit eben nicht irgendwelche von Menschen verfasste Schriftstücke gemeint sind, sondern der Sohn Gottes selbst, der auferstandene Menschensohn.
Dass dieser wiederkehren wird, ist unaufgebbarer Teil des christlichen Bekenntnisses. Die Welt ist nicht ewig, die Geschichte ist nicht endlos, sondern alles Endliche strebt seinem Abschluss und seiner Vollendung im Unendlichen zu. Es gibt ein Ende der Zeiten: Aus zeitlicher Sicht wird es erst kommen, sub specie aeternitatis aber ist es „immer schon gewesen“.
Diese Wiederkehr des Auferstandenen — um die Lebenden und die Toten zu richten, wie es in den Glaubensbekenntnissen heißt — beendet den historischen Prozess und ist sozusagen der letzte Akt der Erlösung, die mit der Menschwerdung begann, mit Tod und Auferstehung ihren Höhepunkt hatte und mit der Himmelfahrt Christi eine Art Verzögerung einleitete, die dann ihr ersehntes Ende haben wird. Das ist es, was am Palmsonntag als Tag der Erinnerung an den Einzug Jesu Christi in Jerusalem gefeiert wird: Die Hoffnung auf die Wiederkehr des Erlösers und den Abschluss der Erlösung.
Ich habe diese Geschichte als Mythos bezeichnet, keineswegs, um sie abzuwerten (zumal für mich ist das Mythische nicht minderwertig ist), sondern um anzudeuten, dass es eine Erzählung ist, die erst im Glauben zur Wahrheit wird. Die Goldene Regel und ihre Folge, das richtige Tun, kann als vernünftig behauptet und von jedem Gutwilligen eingesehen werden, unabhängig von religiöser und sonstiger Einstellung. Die Behauptung von Tod, Auferstehung und Wiederkehr aber ist eben ein mysterium fidei, das sich nur dem erschließt, der es annimmt.
Dazu hatten alle vor Christus Lebenden keine Chance und auch die nicht, die aus anderen Gründen nie etwas von ihm gehört haben oder nur Unzureichendes oder die ein Christentum vorgelebt bekommen, das sie abstoßen muss. Soll man nun annehmen, alle diese seien vom Heil ausgeschlossen? Manche Theologen haben das behauptet. Doch wie bereits [unter 5.] erwähnt wurde, lehrt Jesus etwas anderes. Nimmt man dieses Evangelium ernst, kommt es nicht darauf an, dass der zu Erlösende Christ ist (im Sinne einer Konfessionszugehörigkeit), sondern nur darauf, dass Christus der Erlöser ist. Die verwirklichende Annahme der Erlösung von Seiten des Einzelnen geschieht nicht als Erwerb einer Vereinsmitgliedschaft, sondern als Vollzug eines — wie gesagt möglicherweise unbewussten — Gottesverhältnisses, also des Bejahens des Guten. Wer demnach so lebt, dass er das tut, was er von anderen an Gutem erwartet, wer also unter anderem die Hungernden und Dürstenden, die Flüchtlinge und Obdachlosen, die Armen, Kranken und Gefangenen wie seine Brüder behandelt, der hat es richtig gemacht und muss kein Gericht fürchten, auch und gerade nicht das Jüngste. Und auch der, der weiß, dass er fehlbar ist und nicht immer alles richtig gemacht hat, muss sich nicht fürchten, sondern er kann sich vertrauensvoll der Barmherzigkeit des Ewigen überlassen. Na, dann kann der Richter und Erlöser ja kommen …

 

 
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